November 2019: Ein riesiger Stahlkoloss im Rohbau wird von Schleppern vom Dock in der Warnowmündung in Richtung der offenen Ostsee manövriert. Mit 57 Metern ist er kaum niedriger als Rostocks legendäres 19-etagiges Hotel „Neptun“. Hunderte Menschen stehen am Ufer und bestaunen das Schauspiel. Das Ziel des Mittschiffs ist die 80 Kilometer entfernte Werft in Wismar, dem sich der Kasko (schwimmfähiger Schiffsrumpf) mit 2,15 Knoten nähert. Dort findet die Endmontage des mit einer Passagierzahl von 10.000 größten Kreuzfahrtschiffes der Welt statt: der „Global Dream“. Für dieses Mammutprojekt wurde die Belegschaft der MV Werften in Stralsund, Rostock und Wismar mehr als verdoppelt.
Der ostdeutsche Schiffbau – eine Erfolgsgeschichte? Das ist auch 30 Jahre nach der „Wende“ eine Frage, an der sich die Geister scheiden. Auf der einen Seite stehen Arbeitslosigkeit, gebrochene Biografien, Deindustrialisierung einer ganzen Region. Auf der anderen Seite steht ein Industriezweig, den es nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien und nach dem eigentlichen Privatisierungsauftrag der Treuhandanstalt schon lange gar nicht mehr geben dürfte. Und dennoch: Zuletzt investierte ein großes chinesisch-malaysisches Unternehmen in drei der Werften an der Ostseeküste. Der Unternehmensverbund beschäftigt hier heute rund 3 000 Menschen. Insgesamt sind es in der maritimen Industrie in Mecklenburg-Vorpommern 11.500.
Seit dem Systemumbruch 1989/90 gab es für die ostdeutschen Werften und deren Zuliefererbetriebe so manche Höhen und Tiefen. Das Ende der DDR und damit das Ende der sozialistischen Planwirtschaft bildete eine Zäsur, welche die Werftindustrie im Nordosten Deutschlands von einem sicheren zu einem unsicheren Arbeitsplatz werden ließ. Insbesondere die erste Hälfte der 1990er Jahre, in der der Großteil der Betriebe aus den sogenannten volkseigenen, staatlichen Strukturen herausgelöst und durch die Treuhandanstalt (THA) privatisiert wurde, war geprägt von wirtschaftlichen Unwägbarkeiten, sozialen Unsicherheiten und politischen Debatten und Krisen.
Kombinat Schiffbau: Weltrang Eins für Fischereifahrzeuge
Die Geschichte eines bedeutsamen Schiffbaus an der Küste der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR begann nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Vorher gab es nur wenige Unternehmen, die, wie die 1850 in Rostock gegründete Neptun-Werft, zur Schiffbaubranche zählten. Nachdem die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) zunächst die Demontage aller (kriegsrelevanten) Industriebetriebe angeordnet hatte, wurden ab 1945 vereinzelt und ab 1948 gezielt Werften zum Zweck umfangreicher Reparationsleistungen aufgebaut.
Innerhalb des geschützten, sozialistischen Wirtschaftsraums (RGW) war die ostdeutsche Werftindustrie im Gegensatz zum freien Schiffbaumarkt vom „Werftensterben“, der Strukturkrise seit dem Ölpreisschock und dem Zerfall des internationalen Währungssystems von Bretton Woods, nicht betroffen. Hier sanken seit den 1970er Jahren die Beschäftigtenzahlen nicht, mehr noch, die Nachfrage nach Schiffen im RGW-Raum lag deutlich über den Produktionskapazitäten der DDR. Die führende Klassifikationsgesellschaft Lloyd’s Register of Shipping platzierte die DDR am Ende der 1980er Jahre auf dem siebten Platz als Schiffbaunation weltweit, auf dem dritten Platz als Produzent für Frachtschiffe und auf dem ersten Platz für Fischereifahrzeuge.
„Mit Volldampf in die Marktwirtschaft“?
Als im Herbst 1989 durch die Friedliche Revolution die Berliner Mauer fiel, war politisch, gesellschaftlich und nicht zuletzt wirtschaftlich ein Prozess ins Rollen geraten, der nicht mehr aufzuhalten war. Nachdem die DDR mit einem Beschluss über eine Wirtschafts- und Währungsunion mit der Bundesrepublik im Februar 1990, spätestens aber nach der ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 auf eine deutsche Vereinigung zusteuerte, war eine Umstrukturierung der DDR-Planwirtschaft unausweichlich geworden. Mit dem Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990 durch die neue Regierung von Lothar de Maizière (CDU) waren die Parameter für die bevorstehende ökonomische Transformation abgesteckt: Die Treuhandanstalt hatte von nun an die Aufgabe, die volkseigenen Betriebe (VEB) in marktwirtschaftliche Strukturen zu überführen.
Aus VEB wird GmbH
Zunächst wurde zum 1. Juni 1990 das Kombinat Schiffbau in eine Aktiengesellschaft überführt, die fortan unter dem Namen Deutsche Maschinen- und Schiffbau AG (DMS) firmierte. Das im Gründungsbericht festgehaltene Grundkapital in Höhe von 200.000.000 Mark der DDR hielt zu 100 Prozent die Treuhandanstalt.
So entstanden 24 juristisch selbstständige Kapitalgesellschaften, die von der DMS als Holding gehalten wurden: die Schiffswerft „Neptun“ GmbH sowie die Ingenieurzentrum Schiffbau GmbH, die Informationssystem und DV Consulting GmbH, die Schiffbauversuchsanstalt GmbH Potsdam und die Institut für Schiffbautechnik und Umweltschutz GmbH gingen jeweils aus dem Kombinat-Stammbetrieb VEB Schiffswerft „Neptun“ Rostock hervor. Die Elbewerft Boizenburg GmbH und die Roßlauer Schiffswerft GmbH, entstanden entsprechend ihrer zwei Standorte aus dem VEB Elbewerft. Die Volkswerft GmbH Stralsund, die Mathias-Thesen-Werft GmbH Wismar (ab 1992 MTW Schiffswerft GmbH), die Peenewerft Wolgast GmbH, die Warnowwerft GmbH Warnemünde, die Dieselmotorenwerk Rostock GmbH, die Yachtwerft GmbH Berlin, die Schiffswerft Oderberg GmbH, die Schiffswerft Rechlin GmbH, die KGW Schweriner Maschinenbau GmbH, die Schiffsanlagenbau Barth GmbH, die Ingenieurtechnik und Maschinenbau Rostock GmbH (IMG Rostock), die Isolier- und Klimatechnik GmbH Rostock (vormals VEB Industriekooperation), die Gießerei und Maschinenbau Torgelow GmbH, die Kühlautomat Berlin GmbH und die Schiffselektronik Rostock GmbH blieben eigenständige Betriebe, die die DMS unter ihrem Dach versammelte.
Nach der Währungsunion – kein Schiffbauvertrag kostendeckend
Trotz dieser ersten Schritte in Richtung Marktwirtschaft unter optimistischen Prognosen, traten im Sommer 1990 die wirtschaftlichen Probleme der Branche zutage. Als Zäsur kann die zum 1. Juli 1990 wirksam gewordene Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion gelten. Von einem auf den anderen Tag prallten die Welt des Sozialismus und die des Kapitalismus aufeinander. Die Auftragslage des DDR-Schiffbaus erwies sich unter den neuen Bedingungen als gravierendes Verlustgeschäft. Denn die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion bewirkte zum einen, dass die angestammten Auftraggeber östlich der Oder die Schiffe in der neuen, frei konvertierbaren Währung nicht mehr zahlen konnten. Die 81 erst kurz zuvor mit dem Hauptauftraggeber UdSSR abgeschlossenen Neubauverträge, die die ostdeutschen Auftragsbücher bis mindestens 1993 füllen sollten, lagen plötzlich brach.
Sanierung versus Privatisierung
Vor diesem Hintergrund erfolgte die Suche nach einem geeigneten Konzept für die Zukunft der Schiffbaubetriebe und ihrer Zulieferer. Zunehmend von schweren Protesten der Betroffenen begleitet, erhitzten sich darüber seit der zweiten Hälfte des Jahres 1990 die politischen, unternehmerischen und gewerkschaftlichen Gemüter.
Das Sanierungskonzept vom 22. Februar 1991 umfasste alle 24 Unternehmen des Mutterkonzerns, während das überarbeitete Feinkonzept vom 14. Juni 1991 von einer deutlich reduzierten Anzahl an Tochterunternehmen ausging. Demnach sah Krackows Konzept für sieben Werften und sieben Zulieferer strukturelle Konzentrationsmaßnahmen vor, die zwar sowohl die Kapazitäten als auch die Beschäftigtenzahlen betrafen, gleichzeitig aber am Schiffbauverbund als Ganzes festhielten. Die DMS sollte für die Dauer der Sanierung vom Staat getragen und erst danach an private Investoren übergeben werden. Zu den ersten umgesetzten Schritten des Konzepts gehörte die Fusion der Neptun- und der Warnowwerft und die Überleitung der Schiffscommerz in die Liquidation. Darüber hinaus wurden die Betriebe Schiffselektronik Rostock, Gießerei- und Maschinenbau Torgelow, Schiffswerft Oderberg, Dampfkesselbau Dresden-Übigau, Kühlautomat Berlin, Maschinenbau Halberstadt, Schiffbauversuchsanstalt Potsdam und Institut für Umwelttechnik und Umweltschutz wegen ihrer Ferne zur schiffbaulichen Produktion aus der DMS AG ausgegliedert und in den Treuhandbestand überführt.
Die Treuhandanstalt hatte dieses Umstrukturierungskonzept zunächst nicht grundsätzlich abgelehnt und auch der Leitungsausschuss stufte die DMS als sanierungswürdig ein.
„Riesiger politischer Wirbel“
Was die Privatisierungen erschwerte, war der geringe Bieterwettbewerb um die DMS-Betriebe. Als einer der wenigen ernsthaften Bewerber machte früh die Bremer Vulkan AG von sich reden, an dessen möglichem Engagement sich jedoch die Geister schieden. Während die Treuhandanstalt ab August 1991 Verkaufsverhandlungen mit dem Bremer Vulkan führte, stand sowohl der Vorstand der DMS als auch die IG Metall dessen Absichten überaus skeptisch gegenüber.
Durch die Initiative des Wirtschaftsministers der Schweriner Landesregierung, Conrad-Michael Lehment (FDP), trat schließlich der norwegische Konzern Kvaerner in Verkaufsverhandlungen mit der Treuhandanstalt ein.
Begleitet von weiteren Protesten der Schiffbaubeschäftigten, die nach dem Bangen der vergangenen Monate Gewissheit über ihre Zukunft forderten, traten im Frühjahr 1992 die Widersprüchlichkeiten des Privatisierungsprozesses zutage: „Die Auseinandersetzung um die ostdeutschen Werften zeigt, daß eine für alle befriedigende Lösung kaum zu finden ist, wenn allzu viele Interessen gegeneinander arbeiten. Versucht wurde Unmögliches: Betriebe sollten gut verkauft, Standorte erhalten werden; der Staat sollte sich möglichst heraushalten, gleichzeitig aber mit Subventionen helfen. Und die Beschäftigten wollten ihre Jobs behalten – was bleibt ihnen sonst an der Küste?“,
Privatisierungsentscheidungen über Jahre
Am 17. März 1992 verkündete die Treuhand ihre Entscheidung über die Privatisierung der sogenannten DMS-Kernbetriebe. Die MTW in Wismar und das Dieselmotorenwerk Rostock als wichtigster Zulieferer gingen an die Bremer Vulkan AG, die Kvaerner-Gruppe bekam den Zuschlag für die Warnow-Werft in Warnemünde. Erst später konnte über die weiteren Privatisierungen entschieden werden: Die Peenewerft in Wolgast wurde Mitte 1992 an die Bremer Hegemann-Gruppe verkauft. Die Neptun-Werft, die seit 1991 den Schiffneubau hatte einstellen müssen, wurde im Herbst 1993 zu 80 Prozent an den Bremer Vulkan und zu 20 Prozent an ein Management-buy-out (MBO) veräußert und in die Neptun Industrie Rostock (NIR) umfirmiert. Für die Volkswerft Stralsund war im selben Jahr eine Privatisierungslösung gefunden worden, die sich aus einem Bieterkonsortium zusammensetzte. Die Anteile hielten die Hanse Schiffs- und Maschinenbau GmbH, eine Tochter des Bremer Vulkan, zu 49 Prozent, Hegemann zu 30 Prozent, die Werft Lürssen zu 10 Prozent und die Hansestadt Stralsund zu 11 Prozent.
Die Privatisierungen der Binnenwerften und der Zuliefererbetriebe waren im Gegensatz zu jenen der Seeschiffswerften nicht von den Schiffbaubeihilfe-Regelungen der EG abhängig. Gleichwohl war bei der Vergabe der Zuschläge an Investoren durch die Treuhandanstalt das Kriterium der Investitionszusagen sowie Beschäftigungszahlen, die wie bei den Werften vertraglich festgehalten wurden, mindestens ebenso wichtig wie der eigentliche Verkaufspreis. Dennoch dauerte es bis Ende des Jahres 1994, bis die Unternehmen aus dem ehemaligen Kombinat Schiffbau – zum größten Teil an kleinere Unternehmen und mittelständische Unternehmensgruppen – verkauft wurden. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die Betriebe nicht ohne erhebliche Anpassungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen auf dem freien Markt bestehen konnten, da die planwirtschaftlich gewachsenen Lieferketten und Produktionsabläufe fehlten. Je nach Standort und Innovationspotential konnten dennoch einzelne Zuliefererbetriebe, wie die Schiffswerft Rechlin oder die IMG Rostock, zu einem höheren Preis verkauft werden als manche der großen Seewerften.
Großprivatisierung mit sozialpolitischer Brisanz
Aufgrund der regionalen Bedeutung als Schlüsselindustrie in dem ansonsten agrarisch geprägten Mecklenburg-Vorpommern war die Privatisierung der Schiffbauunternehmen nicht zuletzt sozialpolitisch äußerst brisant. Die Werftenkrise im Frühjahr 1992 hatte den Akteuren vor Augen geführt, mit welcher sozialen Sprengkraft die ökonomische Transformation verbunden sein konnte. Während versucht wurde, Privatisierungslösungen für eine global von Überkapazitäten geprägten Branche zu finden, gingen zehntausende Beschäftigte auf die Straßen, besetzten ihre Betriebe und organisierten Proteste auch vor den Zentralen der Entscheidungsträger.
Es zeigte sich, wie hoch auch die politischen Risiken waren, einen stark von Subventionen abhängigen „industriellen Kern“ zu privatisieren. Entgegen der vielfach proklamierten ausschließlichen Privatisierungstätigkeit der Treuhand flossen durchaus auch regional- und strukturpolitische Überlegungen in die Entscheidungsfindung mit ein. Erst nach mehreren Jahren intensiven Ringens der unterschiedlichen institutionellen Akteure konnten für alle Unternehmen des ehemaligen Kombinats Schiffbau Verkaufslösungen gefunden werden. Im Ergebnis konnten einige der Betriebe, die über ein halbes Jahrhundert die Region geprägt hatten, erhalten bleiben. Die regionale Bedeutung des Schiffbaus war gleichzeitig jedoch erheblich geschrumpft. 80 Prozent der Werftarbeiter machten unmittelbar nach der Einführung der Marktwirtschaft die bittere Erfahrung der Arbeitslosigkeit und sahen dafür zu einem wesentlichen Teil die Verantwortung bei der Treuhandanstalt. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre flossen etwa 3,2 Milliarden D-Mark an Investitions- und Liquiditätshilfen als direkte Transaktionskosten in die Privatisierung der Schiffbaubetriebe. Umgerechnet kostete jeder erhaltene Arbeitsplatz eine halbe Million D-Mark.
Nach der Insolvenz des Bremer Vulkan 1997 durchlebten die Schiffbauunternehmen in Mecklenburg-Vorpommern noch mehrere Eigentümerwechsel. Zuletzt kaufte Genting Hong Kong drei der großen Werften in Stralsund, Warnemünde und Wismar, die heute zusammen MV Werften heißen. Es bleibt abzuwarten wie lange.
Zitierweise: Eva Lütkemeyer, "Gezeitenwechsel an der Ostsee. Die Privatisierung des DDR-Schiffbaus ", in: Deutschland Archiv, 05.06.2020, Link: www.bpb.de/311111