Einleitung
In den späten 1950er und 1960er Jahren war die politische Führung in Ost-Berlin geradezu davon besessen, sich von ihren Genossen und Kampfgefährten in Peking bestätigen zu lassen, dass die DDR die Heimat einer sozialistischen deutschen Nation sei. Dieser von Walter Ulbricht erschaffene Mythos bestand darin, dass es eine deutsche, sozialistische und anti-imperialistische Nation in der DDR im Gegensatz zur kapitalistischen, vermeintlich faschistischen, imperialistischen und militaristischen Nation in der Bundesrepublik Deutschland entstanden sei. Zusammen mit der Deutschlandfrage hoffte Ost-Berlin auch auf chinesische Unterstützung in der Berlinfrage im Sinne der DDR: Das bedeutet den Abzug allen westlichen Militärs aus West-Berlin und die Anerkennung der (vermeintlichen) Tatsache, dass West-Berlin nicht Teil der Bundesrepublik sondern eine eigene politische Einheit sei. Die Position Chinas in Bezug auf die Deutschland- und Berlinfrage war allerdings starken Schwankungen unterlegen, was nicht zuletzt auch das Resultat der von Chaos, Terror und Gewalt geprägten Qualität chinesischer Innen- und Außenpolitik der 1950er und 1960er Jahre war.
In den 1950er Jahren starteten Chinas Führer Mao Zedong und seine politischen Weggefährten wie Deng Xiaoping , Zhou Enlai und Lin Biao eine Reihe von Terrorkampagnen gegen willkürlich zu Feinden erklärte Gruppen und Einzelpersonen. Der Terror, die Hungersnöte und der Zusammenbruch der Wirtschaft erreichte im Rahmen des sogenannten Großen Sprungs nach vorn (1958-1962) einen vorläufigen Höhepunkt. Bis zu 40 Millionen Chinesen fielen der Kampagne der totalen Kollektivierung der landwirtschaftlichen Produktion zum Opfer, dazu kamen die gescheiterten Versuche große Teile der Landbevölkerung auszubilden sowie in Fabriken und/oder Hinterhöfen Stahl zu produzieren. Chinas Außenpolitik war seinerzeit in erster Linie Ausdruck und Ergebnis von Maos großmachtpolitischen Visionen und Fantasien, was China unweigerlich auf Konfrontationskurs mit seinen Nachbarn brachte. Im August 1958 befahl Mao beispielsweise das Bombardement der zu Taiwan gehörigen Inseln Quemoy und Matsu in der Straße von Taiwan, mit dem Ziel die gewaltsame Wiedervereinigung Chinas mit Taiwan zu erzwingen. Im Oktober 1962 provozierte Mao einen Grenzkonflikt mit Indien entlang der umstrittenen chinesisch-indischen Grenze im Himalaya. Die Annäherung Chinas an die Bundesrepublik Mitte der 1960er Jahre und die Aufnahme bilateraler diplomatischer Beziehungen in den frühen 1970er Jahren besiegelten dann das Ende chinesischer Unterstützung für Ulbrichts Pläne, sich West-Berlin einzuverleiben.
Konföderation und Berlin-Ultimatum
Im Juli 1957 schlug der DDR-Ministerrat vor, eine Konföderation aus beiden deutschen Staaten zu bilden. Ein bereits von der Sowjetunion im Jahre 1955 vorgeschlagener „Gesamtdeutscher Rat“ sollte gebildet werden, zusammengesetzt aus Parlamentariern beider Staaten. All das lehnte Bonn wenig überraschend auf der Stelle ab. Diese Entscheidung veranlasste den Sowjetführer Chruschtschow im November 1958, seine ganz eigene „Lösung“ der Deutschland- und Berlinfrage vorzuschlagen: das Berlin-Ultimatum. Dieses forderte die Westmächte auf, West-Berlin binnen sechs Monaten zu verlassen, um es einem „Gesamtberlin“ zu ermöglichen, nach Ablaufen dieser Frist eine „entmilitarisierte und freie Stadt“ zu werden.
Unter Verletzung des Viermächte-Status würde Moskau nach dem Ablauf der Frist die Kontrolle über die Zufahrtswege zu und aus West-Berlin der DDR übertragen. Chruschtschow rundete seinen Erpressungsversuch mit der Forderung an die Westmächte ab, dass Moskau, wenn der Westen all dem nicht zustimmen und versuchen sollte, die Transitwege nach und von Berlin mit Gewalt zu öffnen, dies als einen kriegerischen Akt interpretieren würde. Ein nuklearer Konflikt, so warnte er, könnte die Folge sein.
Die Westmächte gaben sich von den Drohungen und dem Ultimatum allerdings unbeeindruckt, das Chruschtschow im August 1959 zurückzog und Verhandlungen in Genf zustimmte. Diese – genauso wie ein Treffen zwischen Chruschtschow und US-Präsident Eisenhower im September in Washington – wurden ohne Ergebnis abgebrochen. Im Mai 1961 schoss die sowjetische Luftabwehr ein amerikanisches U-2 Aufklärungsflugzeug über sowjetischem Territorium ab, was dazu führte, dass auch die für Juni des gleichen Jahres angesetzten Verhandlungen zur Berlinfrage zwischen Chruschtschow und dem neuen US Präsident Kennedy in Wien keine Ergebnisse brachten. Im Gegenteil: Chruschtschow erneuerte das Berlin-Ultimatum. Die Berlin-Krise endete erst am 13. August 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer und Kennedys Entscheidung keinen dritten Weltkrieg über die definitive Teilung Berlins zu riskieren.
Peking ist an Bord…
Mao begrüßte zweifelsohne die Aussicht auf anhaltende Spannungen und Konflikte mit den USA. Ein Artikel in der chinesischen Tageszeitung People’s Daily vom 30. 11.1958 zitierte Chinas Vize-Außenminister Chen Yi, der bestätigte, dass Peking den von Moskau vorgeschlagenen Plan vom November 1958 aus Gesamtberlin eine „freie und entmilitarisierte Stadt“ zu machen, unterstütze. Anfang 1959 begrüßte Peking den sowjetischen Vorschlag, eine Friedenskonferenz einzuberufen, um Friedensverträge sowohl mit der DDR als auch der Bundesrepublik zu verabschieden. Dieses müsse einhergehen mit dem Abzug der westlichen Truppen aus West-Berlin, so die Forderung. Im März 1959 beklagte sich Peking dann darüber, dass die Bundesrepublik sämtliche von der DDR initiierten Versuche einer Entspannung und Annäherung ablehnte. In erster Linie bezog sich Peking auf den oben genannten, gänzlich unrealistischen Vorschlag aus dem Jahre 1957 zur Bildung einer deutschen Konföderation.
… riecht dann aber Verschwörung
Die 1960er Jahre begannen so wie die 1950er bezüglich Chinas Position zur Berlin- und Deutschlandfrage endeten: China unterstützte die Position Ost-Berlins, dass West-Berlin völkerrechtlich nicht zur Bundesrepublik gehöre. Chinas Vize-Premierminister Chen entschied im Januar 1961 außerdem, dass die Berlin- und Taiwanfrage(n) vieles gemein hätten und forderte von den USA, den „gerechten Verlauf“ der Geschichte zu erlauben: Das war aus seiner Sicht die Wiedervereinigung Berlins und der Abzug des amerikanischen Militärs aus Taiwan. Allerdings gab Chen zu, dass der Abzug amerikanischen Militärs unrealistisch war, nicht zuletzt deshalb, weil die in Taiwan stationierten amerikanischen Truppen für Washington von großer geostrategischer Bedeutung waren. Ost-Berlins Botschafter in Peking, Paul Wandel, bestätigte, dass die Berlin- und Taiwanfrage vieles gemeinsam hätten, wies aber darauf hin, dass die Lösung der Taiwanfrage weniger dringend als die der Berlinfrage sei. Weder Chen noch Wandel erklärten allerdings, was genau die beiden Fragen gemein hätten, wohl auch deswegen, weil es diese Gemeinsamkeiten nicht gab.
Berlin war eine geteilte Stadt, während Taiwan nach dem Ende des chinesischen Bürgerkrieges 1949 zu einem von Chiang Kai-shek geführten Staat mit – bis 1971 – einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wurde. Im Februar 1961 gab sich Chinas Staatspräsident Liu Shaoqi in einem Gespräch mit Botschafter Wandel optimistisch, dass die Westmächte keinen Dritten Weltkrieg riskieren würden, um West-Berlin zu verteidigen – eine „kleine schwache imperialistische Basis inmitten des sozialistischen Lagers“ nach Ansicht Lius. Mitte 1961 beklagte sich dann Ost-Berlin darüber, dass die Presse Chinas den militaristischen Charakter der Bundesrepublik nicht ernst genug nehme. Das Außenministerium der DDR verfasste zwei Berichte, in denen es warnte, dass die Bundesrepublik bereits ein aggressives, militaristisches Land sei, während chinesische Zeitungsartikel lediglich vor einem „wiederauflebendem westdeutschen Militarismus“ warnten. Der zweite Bericht des DDR-Außenministeriums beklagte, dass Chinas Presse nicht annähernd genug darüber berichten würde, dass die Westalliierten das Potsdamer Abkommen verletzen würden, indem sie den oben genannten sowjetischen Vorschlag eines „entmilitarisierten“ Berlins ablehnten. Das war nicht nur sachlich falsch, sondern in dem Bericht wurde auch vergessen zu erwähnen, dass der sowjetische Vorschlag von der Drohung begleitet wurde, den Zugang der Westalliierten nach Berlin zu blockieren.
Applaus für die Mauer
Die bilateralen Beziehungen verbesserten sich wieder, als Peking im August 1961 zusammen mit Ost-Berlin und Moskau den Bau des antifaschistischen Schutzwalls – also die Berliner Mauer – bejubelte. Nach dem Mauerbau im August startete Peking eine „eindrucksvolle“ Desinformationskampagne, in deren Rahmen die People’s Daily am 18. August 1961 berichtete, dass das Leben im sogenannten demokratischen Sektors Berlins – Ost-Berlin – wie immer sei. Ohne die Berliner Mauer explizit zu erwähnen, schrieb die Zeitung von „Schutzmaßnahmen entlang der Grenze” und behauptete, dass die ostdeutsche Bevölkerung die Anstrengungen der Polizei begrüße, Ost-Berlin vor „westdeutschen Provokationen” zu schützen. Ferner berichtete die People’s Daily, dass die Bevölkerung West-Berlins panikartig Geld von Bankkonten abhebe, Flugtickets (wohin nannte die Zeitung nicht) kaufe und Möbel aus der Stadt transportiere. Chinas Nachrichtenagentur Xinhua erklärte ebenfalls am 18. August 1961, dass Bürger aus Bayern, Baden-Württemberg und dem Rheinland politisches Asyl in der DDR beantragen würden, um nicht in der „revanchistischen” Bundeswehr Wehrdienst leisten zu müssen. Ende August des gleichen Jahres berichtete die People’s Daily, dass das bundesdeutsche Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen – in Zusammenarbeit mit US-Geheimdiensten – in Menschenhandel verwickelt sei. Damit war der „Schmuggel“ von ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger nach West-Berlin gemeint. US-Geheimdienste würden dabei mit verschiedenen Organisationen wie z. B. der „Ermittlungskommission der freiheitlichen Juristen“, dem „Ost-Zonen Lehrerverband“, dem „Allgemeinen Deutschen Studentenverband“ und dem „Deutschen Bauernverband“ zusammenarbeiten. Abschließend beklagte der Beitrag, dass westdeutsche Unternehmen zusammen mit dem Deutschen Arbeitgeberverband große Anstrengungen unternommen hätten, ostdeutsche Arbeiter und Ingenieure für Positionen in der Bundesrepublik zu rekrutieren. Eine Woche später veröffentlichte die People’s Daily einen Artikel, in dem West-Berlin als ein „Nest der westdeutschen Militaristen und Faschisten und eine Waffenfabrik der Aggressor-Organisation NATO“ bezeichnet wurde.
Ende August 1961 traf Ost-Berlins Botschafter das Politbüromitglied Chen Ji. Während des Treffens ließ Chen den Botschafter wissen, dass es legitim sei, auf ostdeutsche Bürger zu schießen, die versuchten die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik zu überqueren: „Ich bin völlig einverstanden mit der Verbindung von Maßnahmen zur politisch-ideologischen Erziehung und Maßnahmen zur Unterdrückung. Auch im Inneren muss man manchmal zu Zwangsmaßnahmen greifen. Daher bin ich auch damit einverstanden, dass die Polizei auf Grenzverletzer schießt.“
Ost-Berlin zeigte sich für die chinesische Unterstützung erkenntlich, als es im Oktober 1961 – zu einer Zeit als selbst Mao und die KP Chinas das humanitäre und wirtschaftliche Desaster des Großen Sprungs nach vorn als Realität anerkannten – Peking zu den angeblichen Errungenschaften des Sprungs gratulierte. Außerdem bestätigte Ost-Berlin, dass Taiwan ein untrennbarer Teil der Volksrepublik Chinas sei und sich die DDR dafür einsetzen werde, dass China und nicht Taiwan das Recht habe, das chinesische Volk bei den Vereinten Nationen zu vertreten. Peking, so schien es auch 1962, glaubte der ostdeutschen Propaganda und fügte dieser ihre eigene hinzu, als die People’s Daily im August 1962 über angebliche Provokationen und Sabotageakte entlang der innerdeutschen Grenze berichtete, die von westdeutschen Politikern, inklusive Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) und Berlins Bürgermeister Willy Brandt (SPD), verübt worden seien.
Pekings (durchsichtiges) Doppelspiel
Im August 1963 beschuldigte Peking Moskau, dass die UdSSR die Bundesrepublik de facto als den alleinigen Vertreter des deutschen Volkes anerkannt habe, als sie zusammen mit den USA und Großbritannien am 5. August den Vertrag über ein Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser unterzeichnete. Sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR traten dem Vertrag bei. Aber Washington, London und Bonn bestanden darauf, dass der Beitritt der DDR nichts an deren diplomatischer Nichtanerkennung änderte. Das, so schlussfolgerte die People’s Daily am 23. August 1963, sei ein „schändlicher Akt von Verrat“. In einem Artikel der gleichen Zeitung eine Woche später wiederholte Peking seine Behauptung, dass Moskau mit den westlichen Militaristen auf Kosten der Interessen und Autonomie der DDR kollaboriere. In dem Beitrag hieß es nun, dass dies vergleichbar sei mit dem Verrat an der VR China in der Taiwan-Frage. Damit meinte Peking wohl die Entscheidung Moskaus aus dem Jahr 1958, die von Mao initiierte Bombardierung taiwanesischer Inseln in der Straße von Taiwan militärisch nicht unterstützt zu haben. Ende August 1963 sandte das chinesische Außenministerium der ostdeutschen Botschaft in Peking eine Note, in der die DDR aufgefordert wurde, sich die chinesische Version vom Marxismus-Leninismus zu eigen zu machen, um gemeinsam mit China den westdeutschen und amerikanischen Imperialismus zu bekämpfen. Natürlich ohne auszuführen, wie sich die vermeintliche chinesische Version vom Marxismus-Leninismus von der anderer sozialistischer Länder, allen voran der Sowjetunion, unterscheidet. Pekings Versuche, sich als „Verteidiger“ ostdeutscher Interessen zu profilieren, wurden 1964 fortgesetzt. In einem Artikel der People’s Daily im September 1964 warnte Peking Ost-Berlin, dass Bonn ein „Geschäft mit der Sowjetunion“ anstrebe, um sich die Wiedervereinigung für einen „bestimmten Preis“ zu kaufen. Ost-Berlin antwortete auf den Artikel der People’s Daily wenige Tage später und stellte klar, dass der chinesische Versuch, einen Keil zwischen Ost-Berlin und Moskau zu treiben vergeblich sei.
Vom Regen in die Traufe
Anfang 1965 sprach Peking die Empfehlung aus, dass die westdeutschen „Militaristen“ aus ihren Träumen erwachen und anerkennen sollten, dass es zwei deutsche Staaten gebe. Ferner sollten sie den Versuch unterlassen, andere Staaten zu erpressen, damit diese ihre diplomatischen Beziehungen mit der DDR abbrächen. Dazu zählte auch ein Beitrag in der Wochenzeitschrift Peking Rundschau, der nahelegte, die „Hallstein-Doktrin einzupacken und in einem historischen Museum auszustellen.“ 1965 führte Peking aber auch seinen politischen und ideologischen „Kreuzzug“ gegen die Sowjetunion fort. Das chinesisch-sowjetische Zerwürfnis hatte unweigerlich Einfluss auf die Qualität der Beziehungen zwischen Ost-Berlin und Peking. Ost-Berlin beklagte sich über Pekings Anschuldigungen, zusammen mit Moskau nicht reagiert zu haben, als der Bundestag am 7. April 1965 eine Bundestagssitzung in West-Berlin abhielt. Diese Anschuldigung war allerdings haltlos, weil Moskau seinerzeit mit einer Demonstration militärischer Stärke reagierte und sowjetische MiG-Kampfjets über West-Berlin fliegen ließ, um die Parlamentssitzung zu stören. Während eines Treffens mit dem DDR-Botschafter Günter Kohrt in Peking im Mai 1965 wurde dieser von seinen chinesischen Gesprächspartnern informiert, dass Chruschtschow ein Revisionist sei, der anders als das tapfer gegen den westlichen Imperialismus kämpfende China nicht bereit sei, einen Krieg zu führen, selbst wenn es sich dabei um „notwendige“ und „gerechte“ Kriege handele. Im Juni 1965 bezichtigte Ost-Berlin Peking der „Differenzierungspolitik“ gegenüber osteuropäischen, sozialistischen Ländern im Allgemeinen und der DDR im Besonderen. Was damit gemeint war, war die Taktik Pekings, einen Keil zwischen Moskau und seine Vasallen zu treiben zu wollen. Diese Politik, betonte Ost-Berlin, sei allerdings zum Scheitern verurteilt.
Flirten mit Bonn
Ab 1963 bemühte sich Peking um diplomatische Beziehungen mit einigen westlichen Ländern. Das Resultat waren diplomatische Beziehungen mit Frankreich ab 1964 und im gleichen Jahr der Beginn (zunächst geheimer) Verhandlungen mit der Bundesrepublik. Diese begannen im März 1964 in Bern, und Bonn erhoffte sich durch offizielle diplomatische Beziehungen auch die offizielle Unterstützung Chinas in der Deutschland- und Berlinfrage.
Ausgangspunkt und erstes Etappenziel der Verhandlungen sollte die Einrichtung von Handelsvertretungen in Bonn und Peking sein. Handelsvertretungen nach dem Muster derjenigen Vertretungen, die die Bundesrepublik in den Vorjahren mit Ländern des Warschauer Paktes (Polen, Rumänien, Ungarn und Bulgarien) abgeschlossen hatte. Gleich zu Beginn der Verhandlungen in der Schweizer Hauptstadt betonte Bonn, dass die Verhandlungen nichts an ihrer Haltung in der Taiwan-Frage änderten: Bonn werde es auch in Zukunft undefiniert lassen, ob Peking oder Taipeh aus der Sicht der Bundesrepublik das chinesische Volk vertrete. Gleichzeitig hoffte Bonn, dass Peking fortan West-Berlin als zur Bundesrepublik gehörig anerkennen würde und dass China – so wie es Polen, Rumänien, Ungarn und Bulgarien 1963/1964 taten – West-Berlin in ein Handelsabkommen miteinbeziehen würde. Das ließ sich allerdings nicht realisieren, und die Verhandlungen wurden im November des gleichen Jahres abgebrochen als es Peking ablehnte, eine Berlin-Klausel als Teil eines Handelsabkommen zu vereinbaren.
Es ist wenig überraschend, dass die westdeutsch-chinesischen Verhandlungen die DDR auf den Plan riefen und Peking des Betrugs bezichtigt wurde. Das SED-Politbüromitglied Hermann Matern beschuldigte Peking, mit den NATO-Staaten zusammenzuarbeiten und die westdeutschen Bestrebungen zu unterstützen, Nuklearwaffen zu entwickeln und zu stationieren. Max Reimann, Generalsekretär der illegalen westdeutschen KPD, der diese von Ost-Berlin aus führte, glitt in Richtung einer Verschwörungstheorie ab und fantasierte im Neuen Deutschland, dass Mao den vermeintlichen westdeutschen Plan unterstütze, die nach dem Zweiten Weltkrieg verlorenen Territorien in Polen und der Tschechoslowakei wiederzuerobern: Dies sei die Wiederherstellung eines neuen Großdeutschen Reiches, warnte Reimann. Und schließlich gab auch noch Mao selbst seine Analyse zum Besten, um Ost-Berlin und Moskau gegeneinander auszuspielen – allerdings mit einer historischen Analyse, die unsinniger kaum sein konnte. Während eines Treffens mit einer Delegation der Sozialistischen Partei Japans in Peking im Juli 1964 behauptete Mao, dass die DDR ein Opfer expansionistischer sowjetischer Politik sei. Moskau, so Mao, habe nach Ende des Zweiten Weltkrieges einen Teil Ostdeutschlands abgetrennt, um sich diesen dann einzuverleiben.
Der DDR-Botschaftsrat in Peking, Helmut Liebermann (DDR-Botschafter in China von 1976 bis 1982), warnte Ende Juli 1964 davor, dass chinesische Diplomaten das Gerücht verbreiteten, Chruschtschow und Ulbricht wollten den territorialen Status Quo in Osteuropa verändern. Das nun polnische Stettin sollte demnach an die DDR gehen, während Polen ein Stück des litauischen Staatsgebiets in der Nähe von Vilnius zugesprochen werden sollte.
Trinksprüche Chinas mit Bonn
In den frühen 1970er Jahren war es dann endgültig vorbei mit jedweder Form der Unterstützung Chinas in der Deutschland- und Berlinfrage. Im Oktober 1972, einen Monat vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Bundesrepublik, verkündete Chinas Premierminister Zhou Enlai: „Niemand kann dem deutschen Volk das Recht auf ein wiedervereinigtes Deutschland verweigern. Vielleicht ist der von der DDR und Bundesrepublik unterzeichnete Grundlagenvertrag ein Schritt in die richtige Richtung.“ Allerdings schien dies aus der Sicht Ost-Berlins nicht zuzutreffen. Das DDR-Außenministerium stellte im Dezember des gleichen Jahres klar, dass es zwei souveräne deutsche Staaten gebe: einen sozialistischen und einen kapitalistisch-imperialistischen. Im September 1974 reiste der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl nach China, wo er sich mehrfach von seinen chinesischen Gastgebern bestätigen ließ, dass es nur eine deutsche Nation gebe. Kohl blieb neun Tage in China, während derer ihm z. B. der chinesische Vize-Außenminister Qian Guanhua beim Abendessen zur „Freundschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und China sowie Deutschland als eine Nation” zutrank. Nach Kohl reisten dann der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß 1975, Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) 1975 und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) 1977 nach China. Peking führte seine Charme-Offensive fort und auch diesen drei deutschen Politikern wurde bestätigt, dass Deutschland eine Nation sei und diese Nation das Recht auf Wiedervereinigung habe.
Mit der Machtübernahme Deng Xiaopings in China in den späten 1970er Jahren und der De-Ideologisierung chinesischer Politik wurde Pekings – manchmal feurige, dann lauwarme –Unterstützung für die These einer zweiten deutschen Nation hinfällig.
Zitierweise: Axel Berkofsky, "China und die Berlin- und Deutschlandfrage: Erst Zuckerbrot, dann Peitsche für Ost-Berlin", in: Deutschland Archiv, 27.05.2020, Link: www.bpb.de/310578