Ich bin sehr verwundert über den Ton und die Argumentation zu meiner wissenschaftlichen Arbeit
Das Herangehen kombiniert klassische schriftliche Quellen, Interviews, Begegnungen vor Ort und „Urban exploration“, das bedeutet das Erkunden und die Dokumentation leerstehender Gebäude (Betriebe, Häuser der Kultur usw.), die dem Verfall preisgegeben sind. Dieser ziemlich neue Ansatz versucht einen frischen Blick auf alte Fragen zu werfen.
Erstaunlicherweise geht der Autor mit keinem Wort in den Passagen zu meiner Arbeit auf den Umfang beziehungsweise die Spannweite dieser Untersuchung ein. Damit bleibt diese für die Leserinnen und Leser unverständlich. In den 650 Seiten meiner Untersuchung findet der Autor nichts Interessantes oder Positives, im Gegensatz zu Dutzenden von Rezensionen, Präsentationen und Tausenden von Leserinnen und Lesern. Außerdem ist es sehr bedauerlich, dass Ulrich Pfeil diese Bücher unbedingt mit ideologischen Hintergründen aufladen möchte, die ich selbst jedoch ablehne. (Zudem habe ich auch eine kritische Haltung gegenüber den im Artikel genannten „Insoumis“ von Mélenchon.) Stattdessen sollten die Kernbegriffe ernstgenommen und die Fragestellungen erörtert werden. Stichpunktartig seien hier genannt: die Definition und Funktionalität der Spuren, ihr sozialer Rahmen und die Herausforderungen von „Abandon“ (Vernachlässigung/Verwahrlosung/Verlassen) für eine Gesellschaft. Anders gesagt: Welche Rolle spielen diese (materiellen) „Spuren“ der DDR für die ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR und für Deutschland heute insgesamt?
Wenn Pfeil schreibt, dass „die deutsche Erinnerungslandschaft 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sehr viel pluraler und föderaler ist, als die Autoren dieses hier darstellen“, ist das ein Beweis dafür, dass er kaum mehr als die Einführung des Buches gelesen hat: Die vorgeblichen Mängel stehen im Fokus des gesamten Buches. Das heißt, die pluralen Gedächtnisse und die verschiedenen Wege der Erinnerung sind das zentrale Thema. Dass die Erinnerung an die DDR für viele Menschen Jahre nach 1990 von einer politischen und repressiven Lektüre ihrer Geschichte beherrscht wurde, ist nicht meine Idee, sondern steht in einem Großteil der Arbeiten, die dieses Thema behandeln. Hier verwechselt Pfeil das dominante Gedächtnis und die sozialen Gedächtnisse, die natürlich vielfältiger sind.
Der Autor zieht in Verkennung der Tatsachen den Schluss, dass mein Werk aus „Nostalgie“ beziehungsweise „Ostalgie“ heraus verfasst sei. Diese Beurteilung hat nicht nur mit dem Ziel der Untersuchung nichts zu tun, sie ist außerdem falsch und geradezu diffamierend: Soll sie aussagen, dass ich ein Anhänger oder Verteidiger des DDR-Regimes wäre, inklusive seiner dunkelsten Seiten? Und was hat ein solches Werturteil hier zu suchen? Das Buch enthält keine Parteinahme in dieser Richtung, weil ich absolut kein Interesse an einer politischen Stellungnahme habe.
Der Beitrag von Pfeil negiert die inhaltlichen Nuancierungen meines Buches. Mehr als die Hälfte des Inhalts von „Pays Disparu“ wird total außer Betracht gelassen, obwohl diese Auslassungen deutlich dazu beitragen würden, eine weniger „auf einen Aspekt beschränkt(e)“ Perspektive einzunehmen als die, die Pfeil darstellt. Das betrifft beispielsweise die Ethnographie der Feierlichkeiten zum Jahrestag der DDR-Gründung und die Spuren der DDR in Literatur und Filmen.
Zudem stelle ich hiermit fest, dass ich in meinem Buch keine Kritik an der Politik von Helmut Kohl ausdrücke, sondern ich zitiere Aussagen der Zeitzeugen, ohne sie als meine eigenen Aussagen zu übernehmen, weil ich ganz einfach die politischen Urteile des Historikers uninteressant und unproduktiv finde.
Oft verwechselt Pfeil meine unterstellte Meinung oder meine Forschung mit den Zitaten. Seine Argumentation ist so schwach, dass er alle negativen Bewertungen meiner Arbeit, die er in verschiedenen Rezensionen gefunden hat, zusammenstellte musste, um sie zu stützen. Bei einem solchen Vorgehen könnte ich aus allen möglichen Rezensionen die mehrheitlich positiven Passagen zitieren, die das Gegenteil ausdrücken und die in meinen Büchern zum Beispiel keine „Nostalgie“ erkennen.
Vermutlich liegt der Grund für diese – ich nenne es mal – Verbissenheit nicht allein in einem wissenschaftlichen Meinungsstreit. Ich unterstelle vielmehr auch einen politischen Angriff, wenn Pfeil interpretiert, dass es sich um eine „linkspopulistische Strömung in der Geschichtswissenschaft“ handele, „welche die Verlustgeschichte von DDR und deutscher Einheit in ihrem ideologischen Kampf gegen den sogenannten ‚Neoliberalismus‘ instrumentalisiert und ihn geschickt in den Medien zu platzieren weiß“.
Die Frage, ob und was in den Medien wahrgenommen wird oder eben nicht, hängt nicht nur davon ab, ob etwas „geschickt platziert wird", sondern hat vielleicht auch damit zu tun, ob das Werk von einem größeren historisch interessierten Publikum als relevant und neu wahrgenommen wird.
Was Pfeil ablehnt, ist, die DDR als Erfahrung beziehungsweise als Erfahrungen für viele seiner ehemaligen Bürgerinnen und Bürger zu studieren und nicht nur als „das Böse“ zu denunzieren: die Spuren als methodologische Frage und Herausforderung für die Gegenwart.
Hier gibt es den
Zitierweise: Nicolas Offenstadt, "Die DDR als Zankapfel in Forschung und Politik – Französische Blicke auf den zweiten deutschen Staat“ in: Deutschland Archiv, 25.05.2020, Link: www.bpb.de/310440