1990 gehört zu den für die deutsche Nachkriegsentwicklung schicksalsentscheidenden Jahren. Anfang des Jahres fand die erste freie Wahl der Volkskammer der DDR statt. Deren Tätigkeit erstreckte sich zwar nur auf ein halbes Jahr. Es wurden jedoch Gesetze beschlossen, die das Leben und die Arbeit der Menschen, die Bedingungen und Möglichkeiten ihrer demokratischen Partizipation an Entscheidungen zur gesellschaftlichen Entwicklung weitgehend bestimmten. Sie beeinflussten auch langfristig in hohem Grad die Gestaltung der wirtschaftlichen Potenziale und Strukturen.
Die damalige Umbruchzeit war politisch und emotional angespannt. Die Dramatik des Jahres 1990 bestand insbesondere darin, dass sich in der DDR Stimmungen, Hoffnungen und Erwartungen unterschiedlicher und in nicht geringem Maße entgegengesetzter Art gegenüberstanden und zugleich miteinander verflochten waren. Einerseits in Richtung einer tiefgehenden Erneuerung und Demokratisierung der DDR, andererseits in Richtung einer möglichst raschen Übernahme des Lebensniveaus und der Freiheiten der Bundesrepublik.
In den politischen Auseinandersetzungen spielten die sehr unterschiedlichen Bewertungen der wirtschaftlichen Situation der DDR eine zentrale Rolle. Für ein realistisches ostdeutsches Zukunftsprogramm nach der Wiedervereinigung war eine kritische und realistische Einschätzung der DDR-Wirtschaft unverzichtbar. Diese wies große Rückstände in der Arbeitsproduktivität (50 Prozent des Niveaus der BRD) auf, die Produktionsanlagen waren stark überaltert und besaßen im internationalen Vergleich einen niedrigen Modernisierungsgrad. Die Auslandsverschuldung stellte eine hohe Belastung der Volkswirtschaft und des Staatshaushalts der DDR dar. Im Gegensatz zu vielen Darstellungen in westdeutschen Publikationen stagnierte die DDR-Wirtschaft bis einschließlich 1989 jedoch nicht, war keinesfalls bankrott und hat nach meiner Kenntnis stets ihre internationalen Zahlungsverpflichtungen erfüllt. Sie stand auch nicht vor einem baldigen
Unter den Ländern des ehemaligen sozialistischen Lagers nahm sie sogar im Produktivitätsniveau insgesamt und in der wissenschaftlich-technischen Leistungsfähigkeit auf vielen Gebieten eine Spitzenstellung ein. Die DDR verfügte auch über wichtige wirtschaftliche und Forschungsleistungen, die sie in das vereinigte Deutschland einbringen konnte. Die Chancen, diese zu sichern und weiter auszubauen wurden ihr aber zum großen Teil, wie noch gezeigt werden soll, genommen.
Darin zeigt sich konzentriert die Problematik des auf Druck der Regierung der „BRD“, (wie wir damals zur Bundesrepublik sagten), beschrittenen Weges zum vereinten Deutschland, den aber auch viele Menschen in der DDR zügig einschlagen wollten. Doch anstelle einer gleichberechtigten Vereinigung mit einer neuen Verfassung kam es zum Beitritt der DDR zur BRD, der sich aus Sicht der Partei des demokratischen Sozialismus (PDS)
Die unterschiedlichen Wertungen der DDR-Wirtschaft spiegelten sich auch deutlich in den Beratungen der Volkskammer wider, insbesondere in den Vorstellungen und den zu schaffenden Rahmenbedingungen für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands.
In den Volkskammersitzungen zwischen April und Oktober 1990 äußerten VertreterInnen der PDS-Fraktion ihre Forderungen, Erwartungen und Befürchtungen für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der ehemaligen DDR nach dem Beitritt zur BRD. Ich möchte diese kritischen Voraussagen in meinem Beitrag darlegen und mit der tatsächlichen Entwicklung dreißig Jahre danach vergleichen.
Ausgangslage
In einem solch komplexen, widersprüchlichen und mit grundlegenden Veränderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse verbundenen Prozess wie der Schaffung der Deutschen Einheit sind die erreichten Ergebnisse von vielen Faktoren abhängig. Dabei sind zwei besonders wichtig:
Der erste bezieht sich auf die Schwierigkeit, die zu erwartenden Entwicklungsbedingungen, ihre voraussichtlichen Veränderungen sowie ihre Verflechtungen und Wechselwirkungen untereinander realistisch vorauszusagen. Der zweite Faktor betrifft die Fähigkeit, die voraussichtlichen Wirkungen politischer Entscheidungen und Weichenstellungen auf den Vereinigungsprozess und speziell auf die Entwicklung Ostdeutschlands verlässlich einzuschätzen.
Ich möchte hervorheben, dass es sich bei der Integration der staatssozialistischen DDR in die kapitalistische, marktwirtschaftlich organisierte Bundesrepublik um einen, auch im internationalen Maßstab, nie dagewesenen Prozess handelte. Es ging darum, zwei Staaten und Volkswirtschaften, die auf völlig unterschiedlichen, zum großen Teil entgegengesetzten Prinzipien beruhten, zu einer wirtschaftlichen Einheit zu vereinen. Deshalb waren auch die Anforderungen an Voraussagen zur zukünftigen Entwicklung Ostdeutschlands nach dem Beitritt und der Integration in die Bundesrepublik besonders hoch und anspruchsvoll.
Speziell die Voraussagen und Versprechungen der damaligen Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU-West) und der letzten DDR-Regierung unter Lothar de Maiziére (CDU-Ost) im Jahre 1990 verdienen eine kritische Rückschau. Warum ist die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre so anders verlaufen als vorausgesagt? Vielleicht lassen sich aus den Gründen für Abweichungen und Fehlentwicklungen einige Schlussfolgerungen für weitere Entwicklungsrichtungen beziehungsweise für notwendige und aus meiner Sicht auch noch mögliche Korrekturen ziehen.
Rückblick
Ich habe mich in der DDR vor nunmehr rund 50 Jahren unter völlig anderen gesellschaftlichen Bedingungen in der Staatlichen Plankommission der DDR mehrere Jahre mit Problemen der volkswirtschaftlichen Prognostizierung beschäftigt. Dazu gehörte auch die kritische Bewertung der vorausgesagten Ergebnisse und speziell der Gründe, warum die Prognoseziele zum großen Teil nicht erreicht wurden. Ich kann hier nur eine kurze Bewertung vornehmen. Es würde sich meines Erachtens lohnen, einmal eine offene und kritische Diskussion über die Prognosetätigkeit und Prognosefähigkeit jener Zeit in der DDR zu führen.
Als ich in der Plankommission tätig war, umfasste unser Prognose-Zeitraum die Jahre 1970 bis 1990. Das Gesamtergebnis muss jedoch äußerst kritisch bewertet werden. Die objektiven Bedingungen für die langfristige Entwicklung der DDR wurden damals unrealistisch bewertet, die Zielstellungen waren durch stark subjektiv geprägte Vorstellungen – Wunschdenken – für die Entwicklung geprägt. Das Entwicklungsziel, die Bundesrepublik in der Arbeitsproduktivität und im Konsumtionsniveau einzuholen, wurde völlig verfehlt. Das prognostizierte Erfolgsjahr 1990 wurde auch aus wirtschaftlichen Gründen zum letzten Jahr der Existenz der DDR.
Kritische Einschätzung der voraussichtlichen Entwicklung Ostdeutschlands nach der Wiedervereinigung
Ich werde mich auf drei für die Entwicklung Ostdeutschlands entscheidende Komplexe konzentrieren, die auch Schwerpunkte der Beratungen in der Volkskammer bildeten:
1. Die Währungsunion mit der Einführung der D-Mark zum 1. Juli 1990.
2. Das Treuhandgesetz zur Privatisierung des volkseigenen Vermögens und dessen Durchführung.
3. Der Einigungsvertrag, der entscheidend durch die Art der Vereinigung als Beitritt der DDR zur Bundesrepublik bestimmt wurde, und die sich daraus ergebenden Konsequenzen.
In meinen Darlegungen stütze ich mich auf die Protokolle der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, 10. Wahlperiode vom 15. April bis zum 2. Oktober 1990, wie sie im Deutschen Bundestag archiviert sind
Gesetz zum Vertrag über die Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der DDR und der BRD vom 18. Mai 1990
Unsere Kritik an diesem Gesetz war damals nicht darauf gerichtet, die Einführung der D-Mark zu verhindern. Wir ließen uns vielmehr davon leiten, dass diese Umstellung, die mit sehr weitgehenden Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands verbunden sein würde, unzureichend vorbereitet war.
„Der gegenwärtig vorliegende Staatsvertrag entspricht nicht der Kompliziertheit dieses Prozesses und enthält auch unzureichende Garantien, um ihn ohne tiefe ökonomische Erschütterungen und soziale Konflikte gestalten zu können“, urteilte damals meine Fraktion.
Aus heutiger Sicht war die überstürzte Umstellung auf die D-Mark ohne ausreichende ökonomische Unterstützungsmaßnahmen und andere gesetzliche Regelungen die entscheidende Ursache für den rapiden Rückgang der Produktion und vor allem der Industrie in den Jahren 1990 und 1991. Es wurden zwar mehrere einzelne Maßnahmen zur Unterstützung der D-Mark-Umstellung eingeführt. Es fehlten aber ein Gesamtkonzept und die notwendige Zeit, um den tiefgreifenden wirtschaftlichen und speziell den finanziellen Wirkungen der starken Aufwertung der Währung der DDR gerecht zu werden. Die Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Betriebe ging drastisch zurück. Die Folge war ein Produktions- und Exporteinbruch 1990 – vor allem im zweiten Halbjahr – und 1991, der die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland und damit den Aufholprozess nachhaltig beeinträchtigte.
Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens – Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990
Mit dem neuen Treuhandgesetz wurde die Umwandlung des Volkseigentums auf dem Wege der Privatisierung in Eigentumsformen festgelegt, die der Marktwirtschaft entsprachen. Das Problem bestand nicht in dieser Umwandlung als solcher. Sie war eine Bedingung für die Integration der Volkswirtschaft Ostdeutschlands in die Gesamtwirtschaft der Bundesrepublik. Das Problem bestand vor allem darin wie, in welcher Art und Weise, in welche Richtungen und in welchem Tempo diese Privatisierung entsprechend den Festlegungen des Treuhandgesetzes erfolgte. Die Kritik der PDS-Fraktion bezog sich insbesondere auf folgende Punkte:
„Die Vertretungskörperschaften der Beschäftigten in den Betrieben werden völlig unzureichend oder überhaupt nicht in den Umwandlungsprozess einbezogen. Dies wird sich negativ sowohl auf die Berücksichtigung der Interessen der Beschäftigten als auch auf die Transparenz des gesamten Privatisierungsprozesses auswirken.“
• Es wurde grundsätzlich nur auf Privatisierung orientiert, die Bedeutung des Gemeineigentums spielte keine Rolle. Es wurden keine Kriterien dafür festgelegt, welches Eigentum als Staatseigentum fortbestehen und welches in andere Eigentumsformen, wie Eigentum der Länder, der Kommunen oder in genossenschaftliches Eigentum übergehen sollte. Mit einer stärkeren Orientierung auf diese Eigentumsformen hätten wichtige ökonomische Grundlagen für eine zukünftig stabile Entwicklung der Länder und Kommunen geschaffen werden können. Die faktische Orientierung nur auf die Privatisierung des Volksvermögens war meiner Überzeugung nach vereinfacht, einseitig und falsch. • Die Verwendung der Erlöse der Privatisierung blieb unklar; es entstand der Eindruck, dass der überwiegende Teil für den Abbau der Defizite des Staatshaushalts und kaum zur Förderung der zukünftigen wirtschaftlichen Tätigkeit eingesetzt werden sollte. • Die Erfahrungen anderer Länder, dass eine überstürzte Privatisierung zu großen Verlusten beim Verkauf von Betrieben führt, wurden unzureichend berücksichtigt. • Die Tore für eine vorrangige Privatisierung und Veräußerung der volkseigenen Betriebe im Interesse westdeutscher Unternehmen wurden mit diesem Gesetz weit geöffnet. • Im Treuhandgesetz waren die Regelungen und Festlegungen zum praktischen Vorgehen in der Privatisierung unzureichend. Dies betraf u. a. die Beachtung des Grades der Sanierungsfähigkeit von Unternehmen, die Reihenfolge der Privatisierungen und besonders das Abwägen der inhaltlichen und zeitlichen Beziehungen zwischen Sanierung, Strukturanpassung und Privatisierung.
Im Rückblick zeigt sich in der Schlussbilanz der Treuhandanstalt von 1994 über die Ergebnisse der Privatisierung deutlich, wie berechtigt diese Kritik war: Vom gesamten, von der Treuhandanstalt verwalteten Produktivvermögen fiel der weitaus überwiegende Teil an Westdeutsche.
Gesetz zum Vertrag zwischen der DDR und der BRD über die Herstellung der Einheit Deutschlands, Einigungsvertrag vom 31.8.1990
In den Diskussionen zum Einigungsvertrag wurde von der PDS-Fraktion vor allem kritisiert, dass es sich nicht um das gleichberechtigte Zusammenwachsen zweier Staaten, sondern den Beitritt der DDR zur BRD unter den dort bestehenden Bedingungen handelt. Wir betonten damals: Ein Beitritt würde den komplizierten widerspruchsvollen Bedingungen des Vereinigungsprozesses zweier Staaten, die auf unterschiedlichen, zum großen Teil entgegengesetzten gesellschaftlichen Verhältnissen und wirtschaftlichen Ordnungsprinzipien beruhten und zwischen denen ein großes Produktivitäts- und Wohlstandsgefälle bestand, nicht gerecht. Eine gründliche Analyse der Wirksamkeit des Einigungsvertrages führte zu unserer Schlussfolgerung, dass er unzureichend Instrumente und Methoden enthalte, um Konflikte und Erschütterungen aufzufangen und zu lösen.
Im Prozess der Verhandlungen zum Einigungsvertrag wurden entsprechend der bei der 1. Lesung geübten Kritik einige Verbesserungen erreicht. Das eigentliche Anliegen unserer kritischen Bemerkungen zu seinen Bestimmungen wurde jedoch nicht berücksichtigt. Kritisiert wurde vor allem die vollständige Negierung aller positiver Ergebnisse, die in der DDR erreicht wurden, darunter in der Gleichberechtigung der Frauen, in der Bildung (höherer Anteil der ArbeiterInnen an den AbiturientInnen und Studierenden, Verbindung der schulischen Bildung mit praktischer Tätigkeit), im Gesundheitswesen (Polikliniken und Vorrang des öffentlichen Eigentums bei der Bereitstellung gesundheitlicher Leistungen)und bezahlbare Wohnungsmieten.
Natürlich ging es nicht um eine kritiklose Übernahme dieser und anderer erhaltenswerter Leistungen der DDR, sondern um ihr Erhalten eng verflochten mit dem Beseitigen ihrer Schwächen in Verbindung mit ihrer Weiterentwicklung unter den veränderten Bedingungen. Ein Teil dieser erhaltenswerten Leistungen der DDR wurde später stillschweigend, ohne ihren Ursprung zu erwähnen, in die Bundesrepublik übernommen, wie zum Beispiel die angestrebte bedarfsgerechte Bereitstellung von Kindergartenplätzen und die Verbesserung einiger Bedingungen zur Gleichstellung der Frauen.
Das Dilemma der Altschulden
Eine wichtige Problematik betraf die Altschulden der Betriebe. Die Betriebe im Bereich der Treuhand waren mit hohen Verbindlichkeiten, von etwa 100 Milliarden D-Mark, rund 25 Prozent ihres Gesamtvermögens, belastet. Diese waren größtenteils nicht durch ineffiziente Wirtschaftstätigkeit entstanden, sondern eine Folge der Zentralisierung der Gewinne im Staatshaushalt und der zentralen Verteilung der Investitionsmittel an die Betriebe vorwiegend auf der Grundlage von Krediten. Die Probleme wurden noch dadurch verschärft, dass die Verbindlichkeiten im Verhältnis 2:1 abgewertet wurden, das materielle Vermögen der Betriebe jedoch weitaus stärker (3:1 und 4:1). Die Zinsen für die Schulden stiegen sprunghaft an und übertrafen gemeinsam mit den festgelegten Rückzahlungen die finanziellen Möglichkeiten sehr vieler Unternehmen. Dadurch wurde ihre weitere Existenz gefährdet. Eine Folge war die stark anwachsende Arbeitslosigkeit, deren Finanzierung durch höheres Arbeitslosengeld langfristig wahrscheinlich weitaus höher war als die Finanzierung der Schuldentilgung.
Die hohen Reparationszahlungen der DDR an die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg wurden im Einigungsvertrag nicht berücksichtigt. Von der PDS-Fraktion wurden Ausgleichszahlungen für die von der DDR zu über 90 Prozent geleisteten Reparationszahlungen Deutschlands an die UdSSR gefordert. Diese Forderung war völlig unrealistisch. Es wäre rückblickend besser gewesen, anstelle der Forderung nach Ausgleichszahlungen der BRD an die DDR die moralische Anerkennung der Tatsache zu verlangen, dass die DDR die Hauptlast der Reparationen zu tragen hatte. Es hätte anerkannt werden müssen, dass sich die umfangreichen Demontagen und andere Reparationsleistungen nachhaltig auf die wirtschaftliche Entwicklung der DDR, insbesondere auf die Investitionen, ausgewirkt haben. Sie schlugen sich auch deutlich in der Größe des Rückstands gegenüber der BRD 1950 und in den folgenden Jahren nieder. Mit einer solchen Anerkennung hätten aus meiner Sicht die Bürgerinnen und Bürger der DDR auch mit mehr Würde in den Vereinigungsprozess gehen können.
Insgesamt zeigt sich, dass der starke Zeitdruck einer gründlichen Erörterung der Probleme bei der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und der Integration der ostdeutschen in die gesamtdeutsche Wirtschaft, vor allem der Bestimmung der Wege zu ihrer Lösung, im Wege stand.
Die Frage, in welchen Zeiträumen der Rückstand Ostdeutschlands in den wirtschaftlichen Leistungskriterien überwunden werden und gleiche beziehungsweise gleichwertige Lebensverhältnisse erreicht werden sollten, spielte in den Beratungen der Volkskammer keine Rolle. Bekanntlich versprach Bundeskanzler Helmut Kohl in seiner Rede von März 1990 den Ostdeutschen im Verlaufe weniger Jahre „blühende Landschaften“ und damit faktisch eine schnelle Angleichung an das wirtschaftliche Niveau der Bundesrepublik. Daran glaubten nur wenige der Abgeordneten der neu gewählten Volkskammer. Es war klar, dass dazu eine weit längere Zeit erforderlich sein würde. Einer Voraussage, dass dieses Ziel auch 2020, nach 30 Jahren, noch nicht erreicht sein würde, wäre damals jedoch von den meisten Abgeordneten ebenso wenig akzeptiert worden.
Rückschau auf die Voraussagen des Jahres 1990 – die tatsächlichen Ergebnisse der ostdeutschen Entwicklung im vereinigten Deutschland.
Im Ergebnis des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland wurde die Vereinigung Deutschlands vollzogen. Wesentliche Aspekte des Lebens der Menschen in der ehemaligen DDR haben sich spürbar verbessert, von den individuellen Einkommen, der Versorgung mit Konsumgütern, den Reisemöglichkeiten in alle Orte der Welt, bis zur Infrastruktur, der Wohnungssubstanz und der Erneuerung der Städte. Im Rückblick betrachten rund drei Viertel der ostdeutschen Bevölkerung die Vereinigung insgesamt als positiv. Die West-Ost-Unterschiede in der Höhe der persönlichen Einkommen, der Arbeitsproduktivität, der Modernität des Anlagenkapitals und anderer Indikatoren haben sich wesentlich verringert.
Zugleich muss festgestellt werde, dass ein grundlegendes Ziel der Vereinigung, gleichwertige Lebensverhältnisse herzustellen, bis heute noch nicht erreicht ist. Die Lebenslage der Menschen in Ostdeutschland wird jedoch nicht allein hiervon bestimmt. Der gesamte Einigungsprozess vollzieht sich äußerst widersprüchlich, als ein aus meiner Sicht von der politischen und ökonomischen Elite Westdeutschlands gesteuerter Prozess, in dem die Partizipation der in den neuen Bundesländern lebenden Menschen in den Hintergrund gedrängt wird, was zu einer verbreiteten Unzufriedenheit führt. Das bezieht sich sowohl auf die Art und Weise, in der dieser Anschluss erfolgt, eben als Ausrichtung ostdeutscher Verhältnisse und Werte an westdeutschen Vorgaben
In einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung werden die Einflüsse des Lebensumfeldes auf politische Einstellungen und Wahlverhalten untersucht. Im Ergebnis wird eine Transformationskrise festgestellt, die in sich ausbreitender Unzufriedenheit, in Existenzängsten, Zukunftssorgen und Resignation zum Ausdruck kommt.
Verfestigte Rückstände
Die offiziellen Statistiken und die Jahresberichte der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit zeigen aus meiner Sicht, dass bei allen wichtigen Indikatoren für das Lebensniveau der Bevölkerung und für das Produktivitätspotenzial der Wirtschaft noch beträchtliche Rückstände bestehen und dass sich diese zum großen Teil verfestigt haben. Es gab keine wirkliche, umfassende, sondern nur eine sehr fragmentierte Integration der ostdeutschen Wirtschaft und der Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer in das vereinigte Deutschland.
Nach dem bisher letzten Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2019 wurde in den neuen Bundesländern 2018 bei wichtigen Indikatoren folgendes Niveau im Vergleich zu Westdeutschland erreicht:
• Bruttoinlandsprodukt (BIP) je EinwohnerIn 69 Prozent • Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen 80 Prozent • Bruttoanlageinvestitionen je EinwohnerIn 68 Prozent • Kapitalstock je EinwohnerIn 77 Prozent • Arbeitnehmerentgelt je ArbeitnehmerIn 81 Prozent
Der entscheidende Grund dafür, dass bisher grundlegende Ziele der Ost-West Angleichung nicht erreicht wurden, liegt nicht darin, dass die Zeitspanne von 30 Jahren für ihre Verwirklichung zu kurz war. Er ergibt sich vor allem daraus, dass die politischen, ökonomisch-finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen unzureichend dazu beitrugen, eine reale, gleichberechtigte Integration zu fördern. Stattdessen erschwerten sie teilweise die reale Integration und blockierten sie sogar auf einigen Gebieten.
Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) hat einmal gesagt: „Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen ist, sie zu gestalten." Gerade an diesem Gestaltungswillen und an der Fähigkeit einer den komplizierten Bedingungen entsprechenden Gestaltung fehlte es der letzten DDR-Regierungskoalition 1990.