Wir sind ein von oben staatlich vereintes Deutschland, aber sind wir auch ein einig Vaterland? Ich rede heute, auch wenn Sie das von mir erwartet hätten, nicht über die vergebenen Chancen für Ost und West, reden möchte ich über uns.
Vor 30 Jahren war ich als Minister für Kultur im Kabinett von Hans Modrow Initiator und Gastgeber der öffentlichen Veranstaltungsreihe „Nachdenken über Deutschland“ im Apollo-Saal der Deutschen Staatsoper. Meine Gäste waren damals u. a. Günter Grass, Rolf Hochhuth, Henry Marx, Carl Friedrich von Weizsäcker, Peter Härtling, Gottfried Forck, Otto Schily, Kurt Biedenkopf, Egon Bahr, Hans Mayer, Walter Jens, Rita Süssmuth und Lew Kopelew. Über alles ist schon damals gesprochen und geschrieben worden, kein Abschnitt der deutschen Geschichte hat so viel über sich zur Kenntnis nehmen müssen, wie die Vor-, die Wende- und die Nachwendezeit in der DDR. Eine „Aufarbeitungsindustrie“ ist entstanden und hat deutliche Spuren hinterlassen.
Aber warum gibt es eigentlich kaum eine ernst zu nehmende umfassende Publikation über die letzte Volkskammer der DDR, muss man zu viel Wahrheit umschiffen, passt sie nicht ins Bild der Bundesrepublik oder schädigt man damit vielleicht den vorherrschenden Zeitgeist? Alles ist möglich, oder auch nicht.
Trotzdem bleibt: die letzte Volkskammer der DDR und ihre Vorgängerin nach der Wende sind das aufregendste und bedeutungsvollste Ereignis der parlamentarischen deutschen Zeitgeschichte. Ihr Vorfeld: Bekenntnisse in den Kirchen, Demonstrationen auf den Straßen, eine Übergangsregierung unter Modrow mit fünf BürgerrechtlerInnen, ein „Runder Tisch“ mit traumhaften Diskussionen und fairem Streit, freie demokratische Wahlen, ein friedlicher Weg zur Übergaberegierung unter Lothar de Maizière (CDU) als Fünf-Parteien-Koalition.
In der Kammer und im Volk Debattenkultur und Debattenunkultur. Ernsthafte PolitikerInnen in allen Parteien und verrückte Hinterbänkler, Nachtsitzungen ohne Ende und nicht eingeladene bundesdeutsche Prominenz auf der Ehrentribüne. Es gab nicht fraktionsgebundene Abstimmungen und mitunter ein hilfloses Volkskammerpräsidium.
Wir alle lernten Demut, Diskussions- und Streitfähigkeit und vor allem Toleranz. Was will man mehr. „Am Anfang war das Wort“, so steht es in der Bibel. Dieser Satz dauerte fort durch alle Zeiten. Mit dem Wort, der Sprache, entwickelte sich der Geist, erwuchs Bewusstsein. „Vom Wunder des menschlichen Wortes“ hat der damalige tschechische Bürgerrechtler und spätere Staatspräsident Vaclav Havel im Oktober 1989 in der Frankfurter Paulskirche gesprochen.
Eine „kopfgesteuerte Demokratie“
Dem gesprochenen Wort, das in der Regel flüchtig ist, folgen das geschriebene, das gedruckte und das gesendete in den Medien. Und die alle kennen keine Grenzen. Schon Goethe wusste: „Mit Worten lässt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten.“ In unserer Zeit hat der Soziologe Helmut Schelsky „die Beherrschung der Menschen durch Sprache die vorläufig letzte Form der Versklavung des Menschen genannt“. Und gesprochen, geschrieben, beschlossen und gesendet wurde in der Volkskammer unendlich viel. Vieles ist vergessen, verflüchtigt und bedeutungslos, aber vieles auch bedeutungsvoll. Die Geschichte und die nachfolgenden Generationen werden unsere Richter sein. Und sie werden gerechter sein als wir.
Und nun zur Sache: 1. Unsere Demokratie ist kopfgesteuert. 2. Unsere Sozialpolitik ist amputiert. 3. Unsere Außenpolitik hat eine Schieflage.
Erstens: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Nein, diese Feststellung ist nicht von Marx, sondern Originalton Grundgesetz der BRD (Artikel 20, Absatz 2). Nur kaum einer weiß das. Warum auch. Warum soll man träumen, wenn es im täglichen Leben um Altersarmut, Reformstau, Reformblockade, Analphabetentum, Wahlverweigerung, Extremismus, fehlende Visionen und Überlebensprobleme geht?
Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) formulierte in seiner Regierungserklärung 1969: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Kaum einer zitiert weiter: „Wir werden darauf hinwirken, dass (…) jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.“ Die Grundidee war die der Bürgergesellschaft. Um vorschnellen Einwänden vorzubeugen: Auch ich kenne keine überzeugende Alternative zu politischen Parteien in demokratischen Massengesellschaften. Wir brauchen sie, und dass sie starken politischen Einfluss haben, ist selbstverständlich.
Aber im Grundgesetz steht auch der Kernsatz: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ In Wirklichkeit aber haben sich die Parteien zum 6. Verfassungsorgan entwickelt. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes konnten nicht die Oligarchisierung und Abschottung der Parteien voraussehen. Die Personalauswahl geschieht oft in engsten Kreisen. Der parlamentarische Kampf ist zum Kampf von Fraktionsapparaten geworden und kein Ringen von Individuen um Konsens und Kompromiss.
Das Problem ist die Ausweglosigkeit der Willensbildung des Volkes jenseits von Wahlterminen. Die Antwort auf diese Parteienkrise ist deshalb nicht in einer Parteienreform zu suchen, sondern in einer anderen, in einer neuen Politik. Das im Prinzip unersetzbare repräsentative Prinzip der Demokratie muss durch mehr plebiszitäre Elemente aufgelockert werden. Bleibt alles wie es ist, werden die Parteien von Jahr zu Jahr mehr überfordert und schließlich von populistischem Protest unterspült. Die Parteien können ihre Macht nur bewahren, wenn sie Macht abgeben. Es geht dabei vor allem um die Rücknahme des Ausschließlichkeitsanspruchs und der Allzuständigkeitspraxis durch die Parteien.
Es geht darum, dass die Parteien den Anspruch aufgeben, über ein Monopol in der politischen Willensbildung zu verfügen. Es geht um die Beförderung neuer Formen der politischen Partizipation. Eine Schicht von Gleichgültigkeit hat sich wie Mehltau über unser Land gelegt. Wird diese schlimmer, wird die Luft zum Atmen schwerer.
„Welchen Kapitalismus wollen wir?“
Zweitens: In keinem Land der Eurozone ist der Reichtum so ungleich, oder besser, ungerecht verteilt wie in Deutschland. Um es deutlicher zu sagen: Gewinne werden in unserem Land privatisiert, Verluste sozialisiert. Bertolt Brecht hat das schon vor mehr als einem halben Jahrhundert auf einen Nenner gebracht: „Reicher Mann und armer Mann standen da und sah‘n sich an. Und der arme sagte bleich: Wär‘ ich nicht arm, wärst Du nicht reich.“ Unternehmen werden in Krisensituationen mit Steuermitteln saniert, trotzdem werden riesige Dividenden an Aktionäre und Gewinnzuwächse an die Konzernbosse ausgeschüttet und zugleich staatliche Hilfe für Kurzarbeit beantragt. Müssen wir uns nicht schämen, sind wir ein Entwicklungsland?
Die zwei entgegengesetzten säkularen Glaubenslehren erblicken in der Wirtschaft den Weg zur Erlösung. Der Kommunismus ist mit seiner Vergesellschaftung der Produktionsmittel gescheitert. Der Kapitalismus hat den Marktradikalismus zur Blüte getrieben. Was immer zur gesellschaftlichen Infrastruktur gehört, wird als Geschäft betrieben. Dazu zählt auch als Humankapital der „Rohstoff Mensch“.
Was ist das für ein Gefühl, ein Leben lang gearbeitet zu haben, und von der Rente nicht leben zu können? Was ist das für ein Gefühl, einen Monat lang ordentlich gearbeitet zu haben, um einen Lohn zu erhalten, der ein ordentliches Leben nicht ermöglicht? Es ist ein Gefühl der Entwürdigung, oder besser, es ist Entwürdigung. Der Markt erniedrigt den Menschen zur Ware, zum Objekt, vor allem diejenigen, die sich dagegen nicht zur Wehr setzen können: Kinder, Jugendliche, sozial Schwache, Obdachlose, Menschen im Alter. Das hat Altbundeskanzler Ludwig Erhard (CDU), Schüler und Freund von Franz Oppenheimer, einem Begründer und Verfechter des liberalen Sozialismus, mit seinem Bekenntnis zur freien und sozialen Marktwirtschaft nicht gewollt. Wir stehen vor der Grundsatzfrage: Welchen Kapitalismus wollen wir? Den mit einem menschlichen Antlitz oder den mit Fratze?
„Eine Aufforderung zur politischen Mitte“
Drittens: Wir brauchen eine unserer Geschichte geschuldete Außenpolitik. Ich bin antifaschistisch erzogen und mit Picassos Friedenstaube erwachsen geworden. Diese Haltung hat mich in der DDR geprägt, nicht weil sie durch den Staat verordnet war, sondern trotz mitunter peinlicher Staatsverordnung. Deutschland als der große Verlierer des heißen Krieges ist – welch Karikatur der Geschichte – der große Gewinner des Kalten Krieges. Es hat seine Einheit wiedererlangt, seine alten Feinde verloren und die volle Souveränität erreicht. Das verleitet offensichtlich zum Leichtsinn.
Fragt man nach dem Kern deutscher Außenpolitik, hört man meistens: politische Sicherung des Exportes, Gewinnung neuer Bodenschätze und Absatzmärkte, Vorherrschaft in der Globalisierung. Kaum hört man: Wasser, Luft, Erde, Klima und Umwelt, Kampf gegen militärische Auseinandersetzungen und Sicherung des Friedens.
Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums liegt Deutschland nicht mehr am Rand der westlichen und der östlichen Welt, sondern mitten in Europa. Diese gewonnene geografische Mitte ist auch als Aufforderung zur politischen Mitte zu verstehen. Auch für Deutschland muss gelten, das das Credo jeder Außenpolitik Bescheidenheit, Nichteinmischung, Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit und Beharrlichkeit ist. Wir sind Teil des Ganzen und nicht das Ganze selbst. Auch wenn manche davon träumen. Das betrifft auch ein ausgewogenes Verhältnis zu den USA und die Normalisierung unserer Beziehungen zu Russland und China.
Wir dürfen Deutschlands moralische Verantwortungslast für Europa und die Welt nicht vergessen. Wer daran zweifelt, sollte sich den tausenden Soldatenfriedhöfen zwischen Moskau und Sizilien erinnern. Ich kann die Augen nicht davor verschließen, das die Militarisierung unserer Gesellschaft schon nicht mehr eine abstrakte Gefahr, sondern bereits bittere Realität ist, dabei gab es das in der DDR schon zum Überdruss: in Kindergärten mit Kriegsspielzeug, an Universitäten Forschungen für das Militär, Schulen bieten „Jugendoffizieren“ Propagandaplattformen, Arbeitsagenturen fungieren mitunter als verlängerter Arm von Armeewerbern, Bundeswehrmusiker konzertieren in der Frauenkirche und manche Politiker träumen von mehr Verantwortung mit dem nebulös verbrämten Wort eines atomaren Mitspracherechtes. Der Rüstungsexport in alle Welt steigt jährlich. Angehörige der Bundeswehr und ihre Grabstellen sind an allen Krisenpunkten der Welt zu finden.
Und bitte glauben Sie mir: Bei einem „Weiter so“ ist unser Land auf Kante genäht. Der Macht der großen Banken und Konzerne muss eine Politik gegenübergestellt werden, die die Interessen der Menschen konsequent über die Profitinteressen stellt. Quo vadis Deutschland 2020 ff.?
Zitierweise: Dietmar Keller, "Geht alle Macht vom Volke aus?", in: Deutschland Archiv, 22.05.2020, Link: www.bpb.de/310120. Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
In dieser Reihe bereits erschienen:
- Sabine Bergmann-Pohl,
- Rüdiger Fikentscher,
- Hinrich Kuessner
- Klaus Steinitz,
- Richard Schröder -
- Maria Michalk,
- Markus Meckel,
- Hans-Peter Häfner,
- Konrad Felber,
- Walter Fiedler,
- Hans Modrow,
- Joachim Steinmann, "
- Christa Luft,
- Dietmar Keller, "
- Rainer Jork,
- Jörg Brochnow,
- Gunter Weißgerber, "
- Hans-Joachim Hacker,
- Marianne Birthler -
- Stephan Hilsberg -
- Ortwin Ringleb -
- Martin Gutzeit,
- Reiner Schneider -
- Jürgen Leskien -
- Volker Schemmel -
- Stefan Körber - "
- Jens Reich -
- Carmen Niebergall -
- Susanne Kschenka -
- Wolfgang Thierse -
- u.a.m.
- Die
- Die
- Film-Dokumentation
- Analyse von Bettina Tüffers: