Die öffentliche und wissenschaftliche Debatte über die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft nach 1990 ist immer noch sehr stark von einem „Überwältigungsnarrativ“ geprägt. Zur Auflösung der Fußnote[1] So verglich der Soziologe Steffen Mau die Einführung der Marktwirtschaft im ehemaligen Gebiet der DDR mit einem „Tsunami“. Zur Auflösung der Fußnote[2] Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk kennzeichnete in seinem jüngsten Werk den Transfer des westdeutschen Modells auf Ostdeutschland als „Übernahme“. Zur Auflösung der Fußnote[3] Ähnlich argumentiert der Osteuropahistoriker Philipp Ther, der zudem auch noch den Zwangscharakter betont. Zur Auflösung der Fußnote[4] Andere Forscher konstatieren wiederum einen einseitigen Transfer von Ideen, Institutionen und Eliten von West nach Ost. Zur Auflösung der Fußnote[5]
Alle diese Befunde vereint, dass die beschriebenen Austausch- und Transferprozesse nur als Einbahnstraße erscheinen. Zur Auflösung der Fußnote[6] Darüber hinaus werden die enorme Dynamik der Entwicklung und die sich dadurch verändernden Handlungsspielräume der Akteure in Ost und West unterschätzt. Im folgenden Beitrag soll exemplarisch die Zusammenarbeit zwischen Baden-Württemberg und den drei südlichen Bezirken der DDR (Dresden, Karl-Marx-Stadt [heutiges Chemnitz], Leipzig; später: Bundesland Sachsen) beim Verwaltungsaufbau während der Friedlichen Revolution 1989/90 untersucht werden. Auf diese Weise kann auch der Frage nachgegangen werden, wie von den Verantwortlichen im Westen Deutschlands die Umbrüche im Osten wahrgenommen wurden.
Die Kooperation zwischen Baden-Württemberg und den drei südlichen DDR-Bezirken (aus denen im Herbst 1990 der Freistaat Sachsen gebildet wurde), aus der spätestens nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 eine dauerhaft angelegte Aufbauhilfe erwuchs, kam nicht zufällig zustande.
Initiator dürfte Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) gewesen sein, der in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – wie viele andere westdeutsche Ministerpräsidenten – einen regen Reiseverkehr in die DDR entwickelte und sich mehrmals mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Staatsratsvorsitzenden, Erich Honecker, traf. Zur Auflösung der Fußnote[7] Darüber hinaus besuchte er oft die Leipziger Messe, um die deutsch-deutschen Handelsbeziehungen zum Nutzen der heimischen Industrie zu pflegen und zu intensivieren.
Mit dem Mauerfall und dem sich abzeichnenden Ende der SED-Herrschaft versuchten sich alle westdeutschen Bundesländer neu zu positionieren und boten sich den ostdeutschen Akteuren – zunächst den Räten der Bezirke und später den neu gebildeten ostdeutschen Bundesländern – als Ansprechpartner bei der Bewältigung der vielfältigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben an. Späth sah in dem später gebildeten Sachsen aufgrund der industriellen Bedeutung und der historischen Tradition ein Bundesland mit großer Zukunft, die er mitgestalten wollte.
Sein Denken in europäischen Regionen mag zwar mit ein Grund für sein Engagement gewesen zu sein. Zur Auflösung der Fußnote[8] Entscheidend war aber vielmehr sein politisches Machtkalkül: Späth, der insbesondere in Teilen der westdeutschen Presse 1989 schon als Nachfolger von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) gehandelt wurde, hatte auf dem Bundesparteitag der CDU in Bremen (11. bis 13. September 1989) eine empfindliche Niederlage einstecken müssen. Der innerparteiliche Aufstand gegen den politisch angeschlagenen Bundeskanzler und CDU-Vorsitzenden misslang schon im Vorfeld des Parteitags kläglich. Späth scheiterte daraufhin bei der Wahl zum Präsidium der CDU und war in der Partei nunmehr „erledigt“. Zur Auflösung der Fußnote[9] Er musste sich neue Aufgabenfelder suchen. Da kam der Mauerfall gerade recht. Insofern war es kein Zufall, dass der baden-württembergische Ministerpräsident Dresden schon am 10. Dezember 1989 besuchte – rund zehn Tage vor seinem Widersacher Kohl.
Der Mauerfall: Selbstermächtigung und Entstaatlichung
Der Mauerfall am 9. November 1989 läutete das Ende der SED-Herrschaft ein und eröffnete Freiräume in der DDR für gesellschaftliche Debatten. Selbstermächtigung und Selbstdemokratisierung waren kennzeichnende Elemente der Friedlichen Revolution. Mit dem Mauerfall erodierte aber auch die Staatlichkeit der DDR, wie sich bei der Einrichtung der Runden Tische auf zentraler, regionaler und lokaler Ebene zeigte. Andere Institutionen, die das Leben der Menschen in der DDR über Jahrzehnte beeinflusst hatten, wurden aufgelöst (z. B. die Staatliche Plankommission und das Ministerium für Staatssicherheit). Gleichzeitig bildeten sich neue Institutionen, wie etwa das Ministerium für Wirtschaft unter Christa Luft (SED/PDS), die aber nur eine kurze Halbwertzeit hatten und keine Durchschlagskraft besaßen.
Die letzte DDR-Regierung unter Hans Modrow (SED/PDS) hatte kaum noch Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Denn der Mauerfall führte auch zu einer Aushöhlung des Außenhandels- und Devisenmonopols der DDR: Mit der Grenzöffnung konnten westliche Waren ungehindert nach Ostdeutschland gelangen; die D-Mark stieg de facto zur Leitwährung in der noch bestehenden DDR auf. In das entstehende Machtvakuum stießen nicht nur neue (z. B. die neu gebildeten Parteien, aber auch westdeutsche Akteure), sondern zeitweise auch etablierte Akteure auf lokaler und regionaler Ebene. Dabei unterlag das sich neu bildende politische Kräftefeld einer permanenten dynamischen Veränderung. Insbesondere Bürgermeister und die Räte der Bezirke sahen sich unmittelbar mit den tagtäglichen Problemen der Ressourcenallokation vor Ort und den Erwartungshaltungen der Bevölkerung konfrontiert.
Der Mauerfall eröffnete aber auch neue Gesprächsräume auf deutsch-deutscher Ebene. Dabei ging es den westdeutschen Bundesländern keineswegs nur darum, die Chancen zur Intensivierung der wirtschaftlichen Kontakte auszuloten und auf mögliche Veränderungen im föderativen Gefüge der Bundesrepublik vorbereitet zu sein. Zur Auflösung der Fußnote[10] Westdeutsche Politiker wurden bei ihren Reisen in die DDR vielmehr frühzeitig mit den drängenden sozialen und wirtschaftlichen Problemen in den Bezirken konfrontiert. Nachdem der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) von einer Reise nach Dresden am 10./11. Dezember 1989 zurückgekehrt war, wurde das Sozialministerium in Stuttgart damit beauftragt, ein Sofortprogramm in Höhe von 1,5 Millionen D-Mark vorzubereiten, um dem Gesundheitswesen und der Altenpflege in der Elbmetropole mit dringend benötigten Medikamenten und medizinischen Geräten unter die Arme zu greifen. Zur Auflösung der Fußnote[11]
Die baden-württembergische Landesregierung entwickelte sich ab Anfang 1990 für viele Krankenhäuser und ÄrztInnen aus Sachsen zum ersehnten Problemlöser: So wurde das Stuttgarter Sozialministerium vermehrt darum gebeten, Verbandsmaterial und medizinische Ausrüstung zu liefern, aber auch medizinisches Fachpersonal zur Verfügung zu stellen und bei der Sanierung maroder Kliniken behilflich zu sein. Das leitende Klinikpersonal befürchtete offenbar einen Kollaps der Gesundheitsversorgung in Sachsen. Hilfe erhoffte man sich nicht mehr von der Modrow-Regierung in Ost-Berlin, sondern vom zukünftigen Partnerland im Südwesten der Bonner Republik. Zur Auflösung der Fußnote[12] In Stuttgart wurden rasch Stimmen laut, die vor allzu großen Erwartungen warnten. Aus Sicht eines Beamten drohte die DDR „zunehmend ein Fass ohne Boden zu werden“. Zur Auflösung der Fußnote[13] Und der Präsident des baden-württembergischen Handwerkstages wies darauf hin, dass „von Woche zu Woche die Diskrepanz zwischen unseren Hilfsmöglichkeiten und dem Unterstützungsbedarf i[n] Sachsen“ wachse. Zur Auflösung der Fußnote[14]
Intensivierung und Professionalisierung der Kontakte zwischen Stuttgart und Dresden
Nach seiner Rückkehr aus Dresden und nach Absprache mit den Vertretern aller Fraktionen im Stuttgarter Landtag gab Ministerpräsident Späth nicht nur den Auftrag zu einer Soforthilfe in Höhe von zehn Millionen D-Mark, die teilweise schon kurz vor Weihnachten 1989 die sächsische Metropole erreichte. Bereits Mitte November hatte er das Sozialministerium darum gebeten, zu prüfen, welchen Beitrag das Ministerium „zur Aufnahme partnerschaftlicher Beziehungen des Landes zu einem Bezirk in der DDR“ leisten könne. Zur Auflösung der Fußnote[15] Dahinter stand eine langfristig angelegte Strategie, die über Ad-hoc-Maßnahmen hinausging und vermutlich alle Ressorts der Landesregierung erfasste. Um Konkurrenz bei der Aufbauhilfe auszuschließen und Synergieeffekte zu erzielen, fanden unter Leitung des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen erste Abstimmungen mit allen Bundesländern statt. Zur Auflösung der Fußnote[16]
Dabei schälten sich einige spätere Patenschaften heraus: So wollte Bremen die bereits bestehende Städtepartnerschaft zu Rostock aktivieren. Hessen und Rheinland-Pfalz beabsichtigten, die Zusammenarbeit gemeinsam auf das Land Thüringen zu konzentrieren. Niedersachsen hatte wiederum die ostdeutschen Bezirke Magdeburg und Halle im Blick. Schleswig-Holstein plante eine Kooperation mit den drei nördlichen DDR-Bezirken. Dagegen ergab sich beim Bezirk Karl-Marx-Stadt eine gewisse Konkurrenzsituation, denn sowohl Baden-Württemberg als auch Bayern bekundeten hier ihr Interesse. Der Vorstoß des West-Berliner Senats, ein Abkommen zwischen den Regierungen der Bundesrepublik und der DDR über regionale Zusammenarbeit abzuschließen, fand nicht die Zustimmung der anderen Bundesländer, die sich für eine pragmatische Vorgehensweise aussprachen. Die bayerische Staatsregierung bezeichnete den vorgelegten Entwurf sogar als „monströs“.
Die Zurückhaltung der Bundesländer, die einerseits ihre Bereitschaft zur Unterstützung signalisierten, andererseits aber mehrheitlich eine vertragliche Festlegung ablehnten, erklärt sich aus dem dynamischen Verlauf der Ereignisse in der DDR nach dem Mauerfall. Die Bundesregierung reagierte zunächst auch sehr vorsichtig. Erst am 28. November war Kohl mit dem „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“, den er dem Bundestag unterbreitet hatte, in die Offensive gegangen. Zur Auflösung der Fußnote[17] Vor diesem Hintergrund skizzierten Beamte der Stuttgarter Landesregierung ihre Vorstellungen für die anvisierte Zusammenarbeit Baden-Württembergs mit dem „Raum Dresden“. Zur Auflösung der Fußnote[18] Diese waren sehr breit angelegt und reichten etwa in der Wirtschaft von der Einrichtung eines Koordinationsbüros in der Elbestadt, der Unterstützung beim Auf- und Ausbau des Telefonnetzes, der Bildung einer gemeinsamen Wirtschaftskommission, der Bereitstellung von Existenzgründungsdarlehen für kleinere Unternehmen bis hin zur Ausbildung von DDR-Managern.
Für den Sozialbereich schlugen die Beamten die beiden Sofortprogramme bei der Altenpflege und im Gesundheitswesen vor. Außerdem sollten ein Stipendienprogramm für die Hochschulen und ein Austauschprogramm für Jugendliche entwickelt werden. Weitere Vorschläge betrafen Hilfen bei Umweltschutzmaßnahmen und Städtepartnerschaften.
Der Vorstoß von Späth, eine langfristige Kooperation mit den drei südlichen DDR-Bezirken aufzubauen, traf offenbar auf breite Zustimmung in Ostdeutschland und weckte Erwartungen. So berichteten Vertreter des baden-württembergischen Gemeindetages, die Mitte Januar 1990 eine Besuchsreise nach Dresden unternommen hatten, dass sich ihre Gesprächspartner vom Rat des Bezirkes „soweit wie möglich nach Baden-Württemberg und nicht in [sic] ein anderes Bundesland orientieren“. Zur Auflösung der Fußnote[19] In den Gesprächen betonten die Vertreter des Gemeindetages, dass die Partnerschaft zwischen Ost und West „organisch“, d.h. zunächst auf der Ebene von Kommunen und Vereinen wachsen müsse. Sie hielten es daher nicht für zweckmäßig, „zunächst offizielle Urkunden zu unterzeichnen und dann mit der Partnerschaftsarbeit zu beginnen“. Vorrangiges Ziel sollte – darin waren sich beide Seiten einig – der Aufbau einer kommunalen Selbstverwaltung und eine entsprechende Verwaltungsreform sein. Der Pressesprecher des Neuen Forums in Dresden, Arnold Vaatz (ab Februar 1990 CDU), musste einräumen, dass die DDR-Oppositionsgruppen die Relevanz dieses Thema allerdings noch gar nicht richtig erkannt hätten. Zur Auflösung der Fußnote[20]
Um die Zusammenarbeit zwischen Baden-Württemberg und Sachsen zu professionalisieren, wurde am 31. Januar 1990 in Dresden die Vereinbarung über die Bildung einer Gemischten Kommission zwischen Ministerpräsident Späth und den Vorsitzenden der drei Räte der Bezirke unterzeichnet. Zur Auflösung der Fußnote[21] Die Kommission wurde paritätisch geleitet durch jeweils einen Vertreter aus Ost und West. Dem Leitungsgremium gehörte neben den Vertretern der drei Bezirke ein Mitglied der „Gruppe der 20“ Zur Auflösung der Fußnote[22] an. Eine Anlage zu der Vereinbarung listete insgesamt elf Fachgruppen auf, die ebenfalls paritätisch besetzt waren. Schließlich richtete die baden-württembergische Landesregierung noch ein Verbindungsbüro in Dresden ein. Zur Auflösung der Fußnote[23] Eile war geboten, denn auch der Freistaat Bayern schickte sich an, ein „Informationsbüro“ mit drei Mitarbeitern in Dresden einzurichten. Zur Auflösung der Fußnote[24]
Die Einführung der D-Mark als Zäsur
Anfang Juli 1990 teilte die Zentrale Arbeitsverwaltung der DDR mit, dass die Zahl der Erwerbslosen innerhalb eines Monats um 47.289 auf 142.096 gestiegen sei. Zur Auflösung der Fußnote[25] Damit tauchte in der ostdeutschen Öffentlichkeit erstmals ein Phänomen auf, das es unter der SED-Herrschaft nicht gegeben hatte: Arbeitslosigkeit. Der Einigungsprozess, der nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 deutlich an Fahrt gewonnen hatte, warf seine Schatten voraus. Erste Proteste, die in den DDR-Betrieben bereits kurz vor dem Mauerfall begonnen hatten, weiteten sich rasch aus und schlossen schon bald Zukunftsängste mit ein. Bereits vor der Einführung der D-Mark in der DDR am 1. Juli 1990 hatten offenbar Strukturveränderungen auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt begonnen, die in der Folgezeit an Dynamik gewinnen sollten. Mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990 wurden die DDR-Betriebe schlagartig den Weltmarktbedingungen ausgesetzt. Die Einführung der D-Mark war aufgrund des politisch festgelegten Umrechnungskurses umstritten und mit erheblichen ökonomischen Risiken verbunden. Unmittelbar nach der Währungsumstellung drohte vielen Unternehmen der im März 1990 gegründeten Treuhand die Zahlungsunfähigkeit.
Die Einführung der D-Mark und deren sozioökonomische Folgen veränderten schlagartig die inhaltlichen Schwerpunkte der Zusammenarbeit zwischen Baden-Württemberg und Sachsen. Auf der politischen Agenda rückte Arbeitsmarktpolitik ganz nach oben; dazu musste der Verwaltungsaufbau beschleunigt werden. Angesichts der stark ansteigenden Arbeitslosenzahl befürworteten die Dresdener Stadtverwaltung und das dortige Arbeitsamt den Vorschlag, eine kommunale Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaft zu gründen, um „in den nächsten Monaten Bürger der Stadt Dresden von der Straße zu holen und sie für einen späteren regulären Einsatz in der Wirtschaft zu befähigen“. Zur Auflösung der Fußnote[26]
Ministerpräsident Späth wies Bundeskanzler Kohl Mitte August 1990 darauf hin, dass sich die wirtschaftliche Situation in der DDR „in den vergangenen Wochen deutlich verschlechtert“ habe. Zur Auflösung der Fußnote[27] Es komme jetzt darauf an, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, „dass auf kommunaler Ebene das Engagement für die nötigen Investitionen und die Schaffung der Arbeitsplätze entwickelt“ werden. Zur Auflösung der Fußnote[28] Dies sei jedoch noch nicht möglich, da die Kommunen „kaum Befugnisse und Ressourcen haben, die Länder noch nicht existieren und zentralistische Einrichtungen, wie zum Beispiel die Treuhand-Anstalt, zu einer schnellen und flexiblen Strukturpolitik nicht in der Lage sind“. Um diese Hemmnisse zu beseitigen, müssten westdeutsche Kommunen verpflichtet werden, Fachkräfte für den Verwaltungsaufbau in Ostdeutschland zur Verfügung zu stellen.
In der Folgezeit konzentrierten sich die Fördermaßnahmen von Baden-Württemberg für Sachsen auf eine personelle Unterstützung beim Verwaltungsaufbau: Zur Auflösung der Fußnote[29] Dazu zählten anfangs 150 Kommunalbeamte, 30 Beamte aus den Stuttgarter Landesministerien und 21 Richter, die nach Sachsen entsandt werden sollten. Die Fachgruppen der Gemischten Kommission sollten im Übrigen ihre Arbeit bis nach der ersten Landtagswahl in Sachsen am 14. Oktober 1990 fortführen. An eine Übernahme der sächsischen Verwaltung durch westdeutsche „Leihbeamte“ war ausdrücklich nicht gedacht.
In Stuttgart gab es erhebliche Bedenken dagegen, baden-württembergische Beamte „voll in die Hierarchie mit entsprechender Weisungsbefugnis […] einzubinden, insbesondere im Hinblick auf evtl. anstehende Personalentscheidungen, die von baden-württembergischen Beamten, aufgrund der fehlenden DDR-spezifischen Kenntnisse nicht sachgerecht getroffen werden könnten“. Zur Auflösung der Fußnote[30]
Ministerpräsident Späth konnte aus seinem Engagement in Ostdeutschland keinen politischen Nutzen mehr ziehen. Er unterstützte zwar den Westdeutschen Kurt Biedenkopf (CDU) im sächsischen Landtagswahlkampf und beriet diesen bei der anschließenden Regierungsbildung. Zur Auflösung der Fußnote[31] Nachdem ihm jedoch im Zusammenhang mit der „Traumschiff-Affäre“ Vorteilsnahme bei Ferienreisen vorgeworfen worden war, musste er am 13. Januar 1991 seinen Hut nehmen. Fünf Monate später wurde er Geschäftsführer der Jenoptik GmbH in Jena und stand damit an der Spitze eines ehemaligen DDR-Industriekombinats, das die Transformation von der Plan- zur Marktwirtschaft relativ erfolgreich meistern sollte. Doch das ist eine andere Geschichte.
Fazit
Die Entstaatlichung der DDR auf zentraler Ebene, die mit dem Mauerfall einsetzte, entfaltete Sogwirkungen, die entscheidend dazu beitrugen, dass die Übertragung des westdeutschen Wirtschafts- und Sozialsystems auf Ostdeutschland mit dem Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 überhaupt erst erfolgen konnte. Der Transfer des westdeutschen Modells und die Entstaatlichung der DDR sind somit zwei Seiten einer Medaille. Damit ist aber noch nichts über die inhaltlichen Beziehungen zwischen West- und Ostdeutschland gesagt, die äußerst komplex waren und sich dynamisch veränderten. Von einer langfristig angelegten Strategie, das westdeutsche Modell auf die DDR zu übertragen, kann keine Rede sein. Eine wichtige Rolle nahmen 1990 die westdeutschen Länder und die Bürgermeister und Räte der Bezirke in der DDR ein. Dabei wird deutlich, dass etwa die Stuttgarter Landesregierung anfangs recht vorsichtig agierte. Im Vordergrund standen zunächst Soforthilfen zur Stabilisierung des sächsischen Gesundheitswesens und Unterstützung beim Aufbau kommunaler Verwaltungsstrukturen. Bei der Zusammensetzung der Gemeinsamen Kommission und seiner Fachausschüsse wurde auf eine paritätische Besetzung geachtet. An einen Elitentransfer war anfangs nicht gedacht. Die baden-württembergischen „Leihbeamten“ sollten zunächst nur eine beratende Funktion haben. Obwohl weitere, quellengestützte Untersuchungen zu anderen Bundesländern und Regionen noch ausstehen, zeichnet sich doch jetzt schon ab, dass der Begriff „Übernahme“ der Komplexität der Ereignisse von 1989/90 nicht gerecht wird.
Zitierweise: Dierk Hoffmann, "Übernahme? Austausch- und Transferprozesse zwischen Baden-Württemberg und Sachsen 1989/90", in: Deutschland Archiv, 11.05.2020, Link: www.bpb.de/309554