Die öffentliche und wissenschaftliche Debatte über die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft nach 1990 ist immer noch sehr stark von einem „Überwältigungsnarrativ“ geprägt.
Alle diese Befunde vereint, dass die beschriebenen Austausch- und Transferprozesse nur als Einbahnstraße erscheinen.
Die Kooperation zwischen Baden-Württemberg und den drei südlichen DDR-Bezirken (aus denen im Herbst 1990 der Freistaat Sachsen gebildet wurde), aus der spätestens nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 eine dauerhaft angelegte Aufbauhilfe erwuchs, kam nicht zufällig zustande.
Initiator dürfte Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) gewesen sein, der in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – wie viele andere westdeutsche Ministerpräsidenten – einen regen Reiseverkehr in die DDR entwickelte und sich mehrmals mit dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Staatsratsvorsitzenden, Erich Honecker, traf.
Mit dem Mauerfall und dem sich abzeichnenden Ende der SED-Herrschaft versuchten sich alle westdeutschen Bundesländer neu zu positionieren und boten sich den ostdeutschen Akteuren – zunächst den Räten der Bezirke und später den neu gebildeten ostdeutschen Bundesländern – als Ansprechpartner bei der Bewältigung der vielfältigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben an. Späth sah in dem später gebildeten Sachsen aufgrund der industriellen Bedeutung und der historischen Tradition ein Bundesland mit großer Zukunft, die er mitgestalten wollte.
Sein Denken in europäischen Regionen mag zwar mit ein Grund für sein Engagement gewesen zu sein.
Der Mauerfall: Selbstermächtigung und Entstaatlichung
Der Mauerfall am 9. November 1989 läutete das Ende der SED-Herrschaft ein und eröffnete Freiräume in der DDR für gesellschaftliche Debatten. Selbstermächtigung und Selbstdemokratisierung waren kennzeichnende Elemente der Friedlichen Revolution. Mit dem Mauerfall erodierte aber auch die Staatlichkeit der DDR, wie sich bei der Einrichtung der Runden Tische auf zentraler, regionaler und lokaler Ebene zeigte. Andere Institutionen, die das Leben der Menschen in der DDR über Jahrzehnte beeinflusst hatten, wurden aufgelöst (z. B. die Staatliche Plankommission und das Ministerium für Staatssicherheit). Gleichzeitig bildeten sich neue Institutionen, wie etwa das Ministerium für Wirtschaft unter Christa Luft (SED/PDS), die aber nur eine kurze Halbwertzeit hatten und keine Durchschlagskraft besaßen.
Die letzte DDR-Regierung unter Hans Modrow (SED/PDS) hatte kaum noch Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Denn der Mauerfall führte auch zu einer Aushöhlung des Außenhandels- und Devisenmonopols der DDR: Mit der Grenzöffnung konnten westliche Waren ungehindert nach Ostdeutschland gelangen; die D-Mark stieg de facto zur Leitwährung in der noch bestehenden DDR auf. In das entstehende Machtvakuum stießen nicht nur neue (z. B. die neu gebildeten Parteien, aber auch westdeutsche Akteure), sondern zeitweise auch etablierte Akteure auf lokaler und regionaler Ebene. Dabei unterlag das sich neu bildende politische Kräftefeld einer permanenten dynamischen Veränderung. Insbesondere Bürgermeister und die Räte der Bezirke sahen sich unmittelbar mit den tagtäglichen Problemen der Ressourcenallokation vor Ort und den Erwartungshaltungen der Bevölkerung konfrontiert.
Der Mauerfall eröffnete aber auch neue Gesprächsräume auf deutsch-deutscher Ebene. Dabei ging es den westdeutschen Bundesländern keineswegs nur darum, die Chancen zur Intensivierung der wirtschaftlichen Kontakte auszuloten und auf mögliche Veränderungen im föderativen Gefüge der Bundesrepublik vorbereitet zu sein.
Die baden-württembergische Landesregierung entwickelte sich ab Anfang 1990 für viele Krankenhäuser und ÄrztInnen aus Sachsen zum ersehnten Problemlöser: So wurde das Stuttgarter Sozialministerium vermehrt darum gebeten, Verbandsmaterial und medizinische Ausrüstung zu liefern, aber auch medizinisches Fachpersonal zur Verfügung zu stellen und bei der Sanierung maroder Kliniken behilflich zu sein. Das leitende Klinikpersonal befürchtete offenbar einen Kollaps der Gesundheitsversorgung in Sachsen. Hilfe erhoffte man sich nicht mehr von der Modrow-Regierung in Ost-Berlin, sondern vom zukünftigen Partnerland im Südwesten der Bonner Republik.
Intensivierung und Professionalisierung der Kontakte zwischen Stuttgart und Dresden
Nach seiner Rückkehr aus Dresden und nach Absprache mit den Vertretern aller Fraktionen im Stuttgarter Landtag gab Ministerpräsident Späth nicht nur den Auftrag zu einer Soforthilfe in Höhe von zehn Millionen D-Mark, die teilweise schon kurz vor Weihnachten 1989 die sächsische Metropole erreichte. Bereits Mitte November hatte er das Sozialministerium darum gebeten, zu prüfen, welchen Beitrag das Ministerium „zur Aufnahme partnerschaftlicher Beziehungen des Landes zu einem Bezirk in der DDR“ leisten könne.
Dabei schälten sich einige spätere Patenschaften heraus: So wollte Bremen die bereits bestehende Städtepartnerschaft zu Rostock aktivieren. Hessen und Rheinland-Pfalz beabsichtigten, die Zusammenarbeit gemeinsam auf das Land Thüringen zu konzentrieren. Niedersachsen hatte wiederum die ostdeutschen Bezirke Magdeburg und Halle im Blick. Schleswig-Holstein plante eine Kooperation mit den drei nördlichen DDR-Bezirken. Dagegen ergab sich beim Bezirk Karl-Marx-Stadt eine gewisse Konkurrenzsituation, denn sowohl Baden-Württemberg als auch Bayern bekundeten hier ihr Interesse. Der Vorstoß des West-Berliner Senats, ein Abkommen zwischen den Regierungen der Bundesrepublik und der DDR über regionale Zusammenarbeit abzuschließen, fand nicht die Zustimmung der anderen Bundesländer, die sich für eine pragmatische Vorgehensweise aussprachen. Die bayerische Staatsregierung bezeichnete den vorgelegten Entwurf sogar als „monströs“.
Die Zurückhaltung der Bundesländer, die einerseits ihre Bereitschaft zur Unterstützung signalisierten, andererseits aber mehrheitlich eine vertragliche Festlegung ablehnten, erklärt sich aus dem dynamischen Verlauf der Ereignisse in der DDR nach dem Mauerfall. Die Bundesregierung reagierte zunächst auch sehr vorsichtig. Erst am 28. November war Kohl mit dem „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“, den er dem Bundestag unterbreitet hatte, in die Offensive gegangen.
Für den Sozialbereich schlugen die Beamten die beiden Sofortprogramme bei der Altenpflege und im Gesundheitswesen vor. Außerdem sollten ein Stipendienprogramm für die Hochschulen und ein Austauschprogramm für Jugendliche entwickelt werden. Weitere Vorschläge betrafen Hilfen bei Umweltschutzmaßnahmen und Städtepartnerschaften.
Der Vorstoß von Späth, eine langfristige Kooperation mit den drei südlichen DDR-Bezirken aufzubauen, traf offenbar auf breite Zustimmung in Ostdeutschland und weckte Erwartungen. So berichteten Vertreter des baden-württembergischen Gemeindetages, die Mitte Januar 1990 eine Besuchsreise nach Dresden unternommen hatten, dass sich ihre Gesprächspartner vom Rat des Bezirkes „soweit wie möglich nach Baden-Württemberg und nicht in [sic] ein anderes Bundesland orientieren“.
Um die Zusammenarbeit zwischen Baden-Württemberg und Sachsen zu professionalisieren, wurde am 31. Januar 1990 in Dresden die Vereinbarung über die Bildung einer Gemischten Kommission zwischen Ministerpräsident Späth und den Vorsitzenden der drei Räte der Bezirke unterzeichnet.
Die Einführung der D-Mark als Zäsur
Anfang Juli 1990 teilte die Zentrale Arbeitsverwaltung der DDR mit, dass die Zahl der Erwerbslosen innerhalb eines Monats um 47.289 auf 142.096 gestiegen sei.
Die Einführung der D-Mark und deren sozioökonomische Folgen veränderten schlagartig die inhaltlichen Schwerpunkte der Zusammenarbeit zwischen Baden-Württemberg und Sachsen. Auf der politischen Agenda rückte Arbeitsmarktpolitik ganz nach oben; dazu musste der Verwaltungsaufbau beschleunigt werden. Angesichts der stark ansteigenden Arbeitslosenzahl befürworteten die Dresdener Stadtverwaltung und das dortige Arbeitsamt den Vorschlag, eine kommunale Qualifizierungs- und Beschäftigungsgesellschaft zu gründen, um „in den nächsten Monaten Bürger der Stadt Dresden von der Straße zu holen und sie für einen späteren regulären Einsatz in der Wirtschaft zu befähigen“.
Ministerpräsident Späth wies Bundeskanzler Kohl Mitte August 1990 darauf hin, dass sich die wirtschaftliche Situation in der DDR „in den vergangenen Wochen deutlich verschlechtert“ habe.
In der Folgezeit konzentrierten sich die Fördermaßnahmen von Baden-Württemberg für Sachsen auf eine personelle Unterstützung beim Verwaltungsaufbau:
In Stuttgart gab es erhebliche Bedenken dagegen, baden-württembergische Beamte „voll in die Hierarchie mit entsprechender Weisungsbefugnis […] einzubinden, insbesondere im Hinblick auf evtl. anstehende Personalentscheidungen, die von baden-württembergischen Beamten, aufgrund der fehlenden DDR-spezifischen Kenntnisse nicht sachgerecht getroffen werden könnten“.
Ministerpräsident Späth konnte aus seinem Engagement in Ostdeutschland keinen politischen Nutzen mehr ziehen. Er unterstützte zwar den Westdeutschen Kurt Biedenkopf (CDU) im sächsischen Landtagswahlkampf und beriet diesen bei der anschließenden Regierungsbildung.
Fazit
Die Entstaatlichung der DDR auf zentraler Ebene, die mit dem Mauerfall einsetzte, entfaltete Sogwirkungen, die entscheidend dazu beitrugen, dass die Übertragung des westdeutschen Wirtschafts- und Sozialsystems auf Ostdeutschland mit dem Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 überhaupt erst erfolgen konnte. Der Transfer des westdeutschen Modells und die Entstaatlichung der DDR sind somit zwei Seiten einer Medaille. Damit ist aber noch nichts über die inhaltlichen Beziehungen zwischen West- und Ostdeutschland gesagt, die äußerst komplex waren und sich dynamisch veränderten. Von einer langfristig angelegten Strategie, das westdeutsche Modell auf die DDR zu übertragen, kann keine Rede sein. Eine wichtige Rolle nahmen 1990 die westdeutschen Länder und die Bürgermeister und Räte der Bezirke in der DDR ein. Dabei wird deutlich, dass etwa die Stuttgarter Landesregierung anfangs recht vorsichtig agierte. Im Vordergrund standen zunächst Soforthilfen zur Stabilisierung des sächsischen Gesundheitswesens und Unterstützung beim Aufbau kommunaler Verwaltungsstrukturen. Bei der Zusammensetzung der Gemeinsamen Kommission und seiner Fachausschüsse wurde auf eine paritätische Besetzung geachtet. An einen Elitentransfer war anfangs nicht gedacht. Die baden-württembergischen „Leihbeamten“ sollten zunächst nur eine beratende Funktion haben. Obwohl weitere, quellengestützte Untersuchungen zu anderen Bundesländern und Regionen noch ausstehen, zeichnet sich doch jetzt schon ab, dass der Begriff „Übernahme“ der Komplexität der Ereignisse von 1989/90 nicht gerecht wird.
Zitierweise: Dierk Hoffmann, "Übernahme? Austausch- und Transferprozesse zwischen Baden-Württemberg und Sachsen 1989/90", in: Deutschland Archiv, 11.05.2020, Link: www.bpb.de/309554