Interner Link: Inge Rapoport ist im vereinten westlichen Deutschland nur Doktorin geworden, so ließe sich herleiten. 2015 war sie in allen Medien, weil sie im Alter von 102 Jahren ihren Doktortitel an der Universität Hamburg verteidigte, die sie als jüdische Studentin unter den Nazis 1938 verlassen musste. Dabei hat sie in der DDR, ohne Doktortitel, durchaus Karriere gemacht. Sie wurde Professorin für Pädiatrie und hat die Neonatologie an der Berliner Charité aufgebaut. Als sie am 23. März 2017 mit 104 Jahren starb, war das in einem Land, in dem das Leben für Juden wieder gefährlicher geworden ist. Ihr blieb zwar der Anschlag auf die Synagoge der jüdischen Gemeinde in Halle erspart, aber noch zu ihren Lebzeiten hatte sich die Zahl der antisemitischen Straftaten in der Bundesrepublik Deutschland verdoppelt. Das heißt doch wohl: Seit der Wiedervereinigung ist die Situation für Juden in Ostdeutschland schlechter geworden. Kein Wunder, könnte man sagen, wurde die DDR doch mit einem Land vereinigt, wo ehemalige Nazis einst Politikerkarrieren machen konnten. Ja, wäre die Schlussfolgerung, die Wessis und ihr Antisemitismusproblem.
Aber so würde auch Inge Rapoport nicht reden. So eine Verallgemeinerung gegenüber Westdeutschen wäre nämlich unsachlich, weil es die erheblichen finanziellen und ideellen Wiedergutmachungsbemühungen der BRD oder auch die heftigen Auseinandersetzungen der 68er-Bewegung mit ihren Nazi-Eltern übergehen würde. Das hieße einfach nur den Spieß umdrehen… Der geschätzte Micha Brumlik hat neulich dem nach der „Wende“ geborenen Attentäter von Halle einen spezifisch ostdeutschen Antisemitismus attestiert. Zur Auflösung der Fußnote[1] Dabei kommt es zu der schon oft gemachten Zuspitzung, wonach aus westdeutscher Sicht die SED-Diktatur als Fortsetzung der NS-Diktatur erklärt wird. Zur Auflösung der Fußnote[2] Es wäre auch eine Gleichsetzung von Rot und Braun oder Links und Rechts durch die Darstellung des 1992 geborenen, rechtsradikalen Attentäters in Halle als angeblich von links durchtränkten Antisemiten. Im Ergebnis attestiert Brumlik der DDR Antisemitismus als eine „Form des vulgärdoktrinären Antikapitalismus“, als „Sozialismus der dummen Kerls“ nach August Bebel sowie „eines diktatorischen Staatssozialismus“, wie es heißt. Und dabei werden nach Harry Waibel große Zahlen von antisemitischen Schmierereien in insgesamt 40 Jahren DDR geschwungen, minutiös durch die Stasi aufgelistet, ohne diese Zahlen mit Zahlen aus dem Westen Deutschlands zu vergleichen. Oder wurden die dort nicht so genau aufgelistet? Nein, so redet man nicht.
Im Osten gab es lange weniger Antisemitismus als im Westen
Ein Vergleich hätte eine andere Rede und sogar ein anderes Bild zur Folge: Von den 1990er Jahren bis in die Mitte des nächsten Jahrzehnts befanden unterschiedliche westliche Meinungsforschungsinstitute unabhängig voneinander, dass der Antisemitismus in den östlichen Bundesländern nur halb so stark sei wie in den westlichen. Das American Jewish Committee (AJC) verzeichnete 1991 maximal sechs Prozent im Osten, versus maximal 16 Prozent im Westen. Zur Auflösung der Fußnote[3] 1996 waren die Werte der Ostdeutschen bei den unterschiedlichen antisemitischen Vorurteilen, etwa Juden hätten „zu viel Einfluss“, bei ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften) im Schnitt halb so hoch ab, wie die Werte der Westdeutschen. Zur Auflösung der Fußnote[4] Auch die Erhebungen der Friedrich-Ebert-Stiftung bestätigten diesen Befund noch Mitte der 2000er Jahre. Zur Auflösung der Fußnote[5] All diese Institute zeigen alsdann, dass eine Angleichung zwischen Ost und West erst 15 Jahre nach der Wiedervereinigung erfolgte (wobei in der Kempf-Studie von 2013 noch für 2010 die Ostdeutschen im Schnitt ein Viertel weniger antisemitische Tendenzen zeigen Zur Auflösung der Fußnote[6]).
Vor dem Hintergrund solcher Vergleichswerte ist nur zu vermuten, wie viele antisemitische Schmierereien in 40 Jahren Bundesrepublik zu verzeichnen waren. Und wohlgemerkt, diese Zahlen sind nicht zu verwechseln mit denen zur Ausländerfeindlichkeit in Ostdeutschland: Die stiegen in allen Erhebungen Anfang der 1990er Jahre rasant an und sind bis heute dreimal höher als der Antisemitismus in Ost und West. Zur Auflösung der Fußnote[7]
Argumente aus dem Osten werden ausgeblendet
Aber die eher niedrigen Werte zum ostdeutschen Antisemitismus werden nie positiv betrachtet. Im Gegenteil, die unterschiedlichen, meist westlichen Publikationen suggerieren immer wieder wie auch Brumliks Text, dass es viel schlimmer gewesen sein muss im Osten. Fakten, Argumente, Aufzählungen, all das nützt nichts. Daniela Dahn nimmt sich des westdeutschen Urteils, der Holocaust sei in der DDR verschwiegen worden, aufs Neue an. Zur Auflösung der Fußnote[8] Sie listet aufwendig gemachte DDR-Filme über jüdische Verfolgung und Massenvernichtung auf, teils schon lang vor der in Westdeutschland ausgestrahlten US-Serie „Holocaust“. Sie kommt auf eine stattliche Sammlung von insgesamt mehr als 1000 Titeln, von denen so gut wie alle auf der bei Wikipedia geführten „Liste von Filmen zum Holocaust“ fehlen. Und so beschreibt sie auch die Ohnmachtsgefühle, die in einem als Ostdeutsche aufkommen, wenn man die Wahl hat zwischen dem „kräftezehrenden Widerspruch“ oder dem, still, krank und aggressiv zu werden.
Dabei beruhen Brumliks Zuweisungen ebenfalls auf Fakten, beispielsweise die Erinnerung an die berüchtigten Kosmopolitismus-Prozesse des Sowjetblocks in den Jahren 1952/53. Auch Inge Rapoport nickte natürlich, die ungezählten Verhaftungen und Verurteilungen von Juden als angebliche Agenten des Westens waren schrecklich. Sie führten zur Flucht vieler mehr oder weniger „bekennenden“ Jüdinnen und Juden aus der DDR, und viele Gemeinden waren danach nicht mehr existent. Aber Rapoport verwies stets darauf, dass all das mit Stalins Tod 1953 recht abrupt aufhörte. Dass dies passierte, kurz nachdem sie 1952 in die DDR kam – und das ebenfalls als Verfolgte, diesmal aus den USA. Sie und ihr Mann Mitja Rapoport konnten als Krankenhausärzte in der McCarthy-Ära dort nicht mehr arbeiten, weil sie Mitglieder in kommunistischen Organisationen waren. Zwei amerikanische Staatsbürger jüdischer Herkunft, Ethel und Julius Rosenberg, wurden 1953 wegen Spionage für die Sowjetunion in den USA hingerichtet. Viele andere, etwa der Drehbuchautor und Regisseur Abraham Polonsky, hatten aufgrund seines marxistischen Engagements noch Jahre später Berufsverbot. Doch den USA bei ihrer Jagd auf Kommunisten und andere Linke, unter denen viele Juden waren, Antisemitismus vorzuwerfen, wäre polemisch und verzerrend.
In der DDR gab es keine Nazis in der Regierung
Inge Rapoport ist ein gutes Beispiel für in die DDR remigrierte Juden und passt kaum in die von Brumlik angeführte Beschreibung der „distanzierten Konformisten“. Sie und ihr Mann, ein international bedeutender Professor für Biochemie, hatten wie viele andere wichtige Positionen in der DDR bis in die Regierung hinein inne. Das Engagement und die Karrieren von in die DDR zurückgekehrten linken Juden faszinierten den israelischen Historiker Moshe Zuckermann derart, dass er 2002 die Publikation „Zwischen Politik und Kultur. Juden in der DDR“ herausgab. Zur Auflösung der Fußnote[9] Er meint, er hätte bis dato eine vergleichbare Teilhabe am Staat nur in den USA gesehen, wo es jüdische Senatoren und Politiker gab. Aber diese Publikation bleibt ebenso weitgehend außerhalb des Diskurses wie die ostdeutschen Gegenstimmen. Stattdessen wird der westdeutsche Historiker Harry Waibel von Brumlik herangezogen, der aufzeigt, wie die DDR selbst ehemalige Nazis in ihre Staatspartei SED aufnahm.
Die Reintegration von ehemaligen Nazis, Tätern und Mitläufern, stand jedoch in West wie Ost auf der Tagesordnung. Aber ging es um Rehabilitierung, Wiedergutmachung oder Weitermachen? Der Skandal war nicht der beschämende Einzelfall, sondern die offenkundige Selbstverständlichkeit der Wiederverwendung ehemaliger Nazis auf den Führungsebenen der Bundesrepublik nach 1945 in Politik oder Verwaltung. Und auch wenn die ehemalige ostdeutsche Vorstellung, nach der alle DDR-SED-Funktionäre dem antifaschistischen Widerstandskampf entstammen, eine Legende ist, so war doch die Staatsführung in der DDR ausgewechselt: Sie bestand in der Tat vor allem aus Widerstandskämpfern, aus der Emigration Heimgekehrten und darunter immer auch Juden. Selbst der letzte DDR-Staatschef, Erich Honecker, saß unter den Nazis im Gefängnis. Eine solche Gemeinschaft trug zum Engagement zurückgekehrter Juden in der DDR bei.
Argumente für den Gleichheitsgrundsatz als Opfer des Faschismus
Und sie waren sehr aktiv, als Kommunisten, nicht als Juden, wie Inge Rapoport stets betonte. Ihre vier Kinder schnupperten vielleicht mal in die Gemeindeversuche der (erst spät) durch den Staat unterstützten Rabbiner in den 1980er Jahren, um dann aber doch lieber außerhalb davon die loyale, prostaatliche Haltung ihrer Eltern zu kritisieren. Dabei ging es kaum um den später gern kritisierten Diskurs der jüdischen oder nichtjüdischen Aufbaugeneration, welcher beispielsweise die Bezeichnung „jüdisch“ in den DDR-Medien unterlässt. Alle wussten, wenn die in Buchenwald ermordeten Menschen als „Opfer des Faschismus“ unter ihren Nationalitäten gelistet waren, steckt dahinter ein Gedenkapell: Denn ist es nicht alarmierender, wenn im Holocaust nicht „die jüdischen Anderen“, sondern unsere Schwestern, Brüder, Freunde, Nachbarn, Kollegen oder Kinder ermordet wurden? Sie wussten zwar auch, dass innerhalb dieses Gleichheitsdiskurses die kommunistischen Widerstandskämpfer deutlich hervorgehoben, ja heroisiert und überzeichnet wurden.
Dass Aspekte, die das jüdische Leben nach 1945 betrafen, wie die Erhaltung ihres Gemeindelebens oder die Ehrung jüdischer Friedhöfe, in den Hintergrund gerieten, übergangen oder beschwiegen wurden. Auch hatten diejenigen Politiker oder Bürger, die jüdische Interessen vertreten wollten, kaum eine Chance, sich dafür Gehör zu verschaffen. Die jüdischen Mitglieder in den Führungsgremien der DDR handelten bisweilen sogar härter gegenüber Jüdinnen und Juden, um zu verdeutlichen, des es keine Bevorzugung dieser NS-Opfergruppe gibt – und weil sie, zumeist Westemigranten, sich nicht selten als erpressbar empfanden. Der Gleichheitsdiskurs zeigte jedoch auch Wirkung, etwa in einer Studie des AJC von 1994: Nur 22 Prozent aller Ostdeutschen unterstützten die geschichtsrelativierende Aussage, der Holocaust habe heute keine Bedeutung mehr, in Westdeutschland waren es dagegen 40 Prozent – und die Kategorie „vehemente Ablehnung der Aussage“ zeigt sogar 31 Prozent Ost versus 17 Prozent West. Zur Auflösung der Fußnote[10]
In der DDR machten linke Juden Karriere und prägten die Politik mit
Diese erste Generation der in die DDR remigrierten Jüdinnen und Juden bestand nicht nur aus Wissenschaftlern wie den Rapoports, sondern auch aus Literaten: Anna Seghers war über zwei Jahrzehnte Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. Louis Fürnberg, Herausgeber der „Weimarer Beiträge“, sowie Arnold Zweig, von 1950 bis 1953 Präsident, danach Ehrenpräsident der Akademie der Künste der DDR, waren eine Zeit lang in Palästina. Fürnberg und Zweig hatten in ihrem dortigen Exil erleben müssen, wie militante Zionisten das Verlagshaus ihrer deutschsprachigen Zeitschrift „Orient“ mehrfach in Brand setzten (in der auch beispielsweise Else Lasker-Schüler zusammen mit arabischen Intellektuellen veröffentlichte). Zur Auflösung der Fußnote[11] Nach dieser Erfahrung hatten Fürnberg und Zweig genug vom Zionismus. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass der viel kritisierte Antizionismus der DDR eher von den jüdischen als von den nichtjüdischen Partei- oder Regierungsmitgliedern angestoßen wurde (anfangs hatte die DDR ebenso wie die Sowjetunion gehofft, mit dem Staat Israel einen Verbündeten im Nahen Osten zu finden). Damit will ich nicht Beobachtungen widersprechen, die im späteren Antizionismus auch Antisemitismus belegen. Aber diese antizionistische Haltung gab es oft und ich konnte sie selbst noch lange nach der „Wende“ bei Inge Rapoport erleben: Jedes Mal, wenn ich aus Israel zurückkehrte, wurde ich sorgenvoll befragt, ob ich denn auch auf der palästinensischen Seite gewesen sei.
Engstirnigkeit aus Angst vor der Wiederkehr des Faschismus?
Und vielleicht ist an dieser Stelle eine Kritik an der DDR aus ostdeutscher Sicht angebracht? Die zwanghaft homogene Gemeinschaft einer kommunistischen und „antifaschistischen“ Führung war möglicherweise deren aller Verhängnis. Als Kind von Oppositionellen in der DDR bekam ich einmal von Mitja Rapoport zu hören, dass „Gorbatschow ein Verräter am Kommunismus“ sei. Auf dem Sessel zu Hause bei ihm und seiner Frau Inge rutschte mir das Herz in die Hose. Wie konnte er den großen Helden und Hoffnungsfunken meiner Eltern derart verurteilen? Auf mein fast gewürgtes „Warum“ bekam ich zu hören, was ich noch in der Schule der DDR gehört hatte: Man müsse die Menschen erziehen und dürfe ihnen nicht trauen, schließlich sei in der Demokratie sehr bald die Masse Hitler hinterhergelaufen ...
An diesem Ort mit zwei Menschen, die einst um ihr Leben rannten, begriff ich jedoch endlich emotional, dass die Engstirnigkeit, die Zensur, die Staatssicherheit dieser machthabenden Schicht der DDR in einem gemeinsamen Trauma wurzelte. Diese Elite war vor den Nazis geflohen, war in Haft, überlebte nur knapp – und sie wurden so zu Misanthropen! Juden wie die beiden Rapoports glaubten nicht an die liberale Demokratie, trotz dieses Wortes im Namen ihres Landes: Deutsche Demokratische Republik. Sie trugen in vielen Fällen die repressive Politik der DDR mit. Aber wie Brumlik oder Waibel vor diesem Trauma der alternden DDR-Elite der 1980er Jahre zu suggerieren, sie hätten sich mit Nazis arrangiert oder wären gar zur Hälfte Nazis gewesen Zur Auflösung der Fußnote[12], ist allein schon aus psychologischen Gründen nicht nachvollziehbar. Ihre Angst vor etwaigen neuen Nazis war vielmehr so groß, dass sie über den demonstrierenden Menschen der 1980er Jahre die Fratze des Faschismus zu sehen meinten – eine Angst, die bekanntermaßen auch ihren vielseitigen Missbrauch für andere Interessen zur Folge hatte.
Es gab in der DDR auch Antizionismus, der in Antisemitismus mündete
Und ja, vielleicht haben sie den durchaus auch in der DDR vorhandenen Antisemitismus heruntergespielt. So gab es ins Antisemitische mündende Darstellungen Israels in der ostdeutschen Fernsehsendung „Schwarzer Kanal“ Zur Auflösung der Fußnote[13] oder in Kinder- und Jugendzeitschriften, die von Brumlik erwähnten Friedhofsschmierereien Zur Auflösung der Fußnote[14] – auch Mitja Rapoport entdeckte 1952 eine antisemitische Kritzelei in „seinem“ Hörsaal – sowie die Existenz von Neonazigruppen, die als „Rowdies“ verharmlost wurden. Wir wissen heute, dass der Rassismus und seine verschiedenen Ausformungen nicht im Keim erstickbar sind. Sie existieren als Phobien in jeder Gesellschaft. Generell geht es darum, diese Phobien zu erkennen, zu kontrollieren und sie zu bekämpfen. Und so kommt man beim Durchstöbern all der Antisemitismusstudien auf den in pazifistisch geprägten Kreisen bekannten, österreichischen Sozialpsychologen Wilhelm Kempf, welcher nach seiner Studie 2013 bemerkt, dass „die politische Sozialisation in der DDR […] in der Bekämpfung des Antisemitismus etwas erfolgreicher war“. Und in Klammern: „auch wenn man dies gerne verleugnet“. Zur Auflösung der Fußnote[15]
Die Entnazifizierung wurde in der DDR intensiver betrieben – trotz aller Fehler
Dass der Antifaschismus Staatsräson war, hat geholfen - und nicht geholfen. So beschreibt die Psychoanalytikerin Annette Simon, wie der DDR-Alltag von „autoritären hierarchischen Strukturen“ geprägt war, und dass sich die daraus resultierende Wut auch gegen den „aufgepfropften Antifaschismus“ richtete und Neonazigruppierungen befeuerte. Zur Auflösung der Fußnote[16] Wenn im so aufgezogenen gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus nie die Rede vom jüdischen Anderen war, konnte auch keine Wiedergutmachung an Israel gezahlt werden. Der Antifaschismus hatte aber auch zur Folge, dass mit 12 500 Verurteilungen ehemaliger Nazis von 1945 bis 1949 unter der Sowjetbesatzung, sowie von 3 300 in der DDR durch die Waldheimer Prozesse allein im Jahr 1950 und danach weiteren circa 2 000 Verurteilungen bis Ende der 1980er Jahre doch etwas geschah – selbst wenn man einen erheblichen Teil der Verurteilungen als Eliminierung politisch unliebsamer Gegner abziehen muss.
Im doppelt so großen Westdeutschland beläuft sich dagegen die Zahl vom Anfang bis Ende der 1980er Jahre auf knapp 6 500. Zur Auflösung der Fußnote[17] Zudem habe ich heute in Zeiten, wo Rechtsradikalismus und rechter Terror vom NSU über die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, des Attentats auf die Synagoge in Halle oder des rassistischen Angriffs in Hanau, wieder Blüten treibt, mehr als einmal den Ruf nach einem „antifaschistischen Konsens“ in der Gesellschaft vernommen. Zur Auflösung der Fußnote[18]
Aus Hoffnungen und Enttäuschungen remigrierter linker Juden in der DDR lernen
Und wie würde man aus ostdeutscher Erfahrung heraus den Attentäter aus Halle erklären? Inge Rapoport mochte das Max Horkheimer Zitat: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.“ Nach 30 Jahren Transformationsprozess geraten die Erfahrungen der Ostdeutschen in den 1990er Jahren wieder auf die Tagesordnung der Medien: Der Ausverkauf der Betriebe, die hohe Arbeitslosigkeit, die Abwertung der Lebenserfahrungen und Qualifikationen, waren ausgrenzende Erfahrungen, Erfahrungen der Enteignung. Dass sich der Frust in den 1990er Jahren gegen vermeintlich leicht sichtbare Migranten und 30 Jahre später auch gegen „Juden“ und Muslime richtet, passt vor diesem Hintergrund ins Bild. Dabei ging jene „rechte Revolte“ im Osten nicht etwa von den klassischen „Entrechteten“ aus, die diese Probleme thematisierten, sondern eher von jenen, die alles abgelegt hatten, was an die DDR erinnerte und als „wahre Deutsche“ – auch mit Unterstützung rechter „Entwicklungshilfe“ aus den alten Bundesländern – neu auferstanden Das ist die Welt, in der der Attentäter von Halle aufwuchs.
Vor diesem Hintergrund sind Zuweisungen des Antisemitismus in die westliche oder östliche Richtung mehr als kontraproduktiv: Solche Beschuldigungen sind Teil des Problems. Man schafft vermeintliche Kontinuitäten, verwandelt die aus den sozialökonomischen Problemen unserer Zeit resultierenden Konflikte in kulturalisierende und bald ethnische Zuschreibungen – wie beim angeblich ostdeutschen Antisemitismus eines nach der „Wende“ geborenen Rechtsradikalen. Und dabei geht es keineswegs um eine Freisprechung der Ostdeutschen vom Antisemitismus. Ihre Erfahrungshorizonte sind für die heutige Erinnerungskultur jedoch relevant, zumal neuere Studien bestätigen, dass linke, eher menschenrechtsorientierte Bildungs- und Denkmuster tendenziell in Evaluationen zu antisemitischen Einstellungen oder ethnischen Vorurteilen besser abschneiden als die der Mitte oder gar der Rechten. Zur Auflösung der Fußnote[19] Wir hätten also einiges zu lernen aus den Hoffnungen und Enttäuschungen von Menschen wie Inge Rapoport.
Mehr zum Thema Antisemitismus gibt es Externer Link: im gleichnamigen Dossier >>>.
Mehr zu Ingeborg Rapoport finden Sie hier:
Texte aus ihrem Buch Interner Link: "Meine ersten drei Leben" >> Ein Porträt von Charlotte Misselwitz über Interner Link: Ingeborg Rapoport >>
Zitierweise: "Als ob wir nichts zu lernen hätten von den linken Juden der DDR ... - Bemerkungen zu dem Beitrag von Micha Brumlik 'Ostdeutscher Antisemitismus: Wie braun war die DDR?'", Charlotte Misselwitz, in: Deutschland Archiv, 29.4.2020, Link: www.bpb.de/308502