"Die Neonaziszene ist wie eine Sekte"
Aus der Reihe "Werdegänge" (I)
Ingo Hasselbach
/ 14 Minuten zu lesen
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Nach der Wiedervereinigung Deutschlands nahm die Gewalt gegen Ausländer und Asylbewerber erheblich zu. Der ehemalige Ostberliner Neonaziführer Ingo Hasselbach war zum Mauerfall 23 Jahre alt und begriff schnell, wie einfach junge Menschen nach der Auflösung der DDR für eine neue Ideologie zu gewinnen waren, auch weil sie eine Identität, Respekt und Sicherheit suchten. Er beschreibt, wie er selber im Gefängnis zum Neonazi wurde und es danach gut verstand, andere in das rechtsextreme Milieu zu ködern. Erst nachdem es immer mehr Todesfälle durch rechte Gewalt gab, stieg er aus und baute EXIT-Deutschland mit auf, eine Initiative, die Rechtsextremen aus ihrem "Sekten-Milieu" heraushilft.
Das Gespräch mit Ingo Hasselbach protokollierten die niederländischen Journalistinnen Manon de Heus und Marijke van der Ploeg:
‚‚1986 bis 1988 saß ich unter anderem wegen versuchter Republikflucht im Knast. Ich war mit Kriegsverbrechern inhaftiert, wie dem Mörder von Oradour, Heinz Barth, der 1983 vom Stadtbezirksgericht Lichtenberg zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, oder Henry Schmidt, dem Gestapo-Chef von Dresden, der für die Deportation aller Dresdner Juden nach Auschwitz verantwortlich war. Die Männer waren damals 70, 80 Jahre alt und haben ganz offen über ihre Kriegsverbrechen geredet. Sie waren stolz darauf und waren davon überzeugt, dass die Sachen, die sie getan hatten, kriegsbedingt notwendig waren. Die Juden sahen sie als Feind und mit dem Feind müsse man abrechnen.
Diese Männer haben schnell verstanden, dass wir jungen Gefangenen einen gigantischen Hass gegen das System entwickelt hatten. Gegen die ganzen Verordnungen, gegen diese Ideologie. Sie haben das sehr geschickt genutzt und haben uns als knetbare Masse gesehen, die man beeinflussen konnte. Wir haben das zugelassen. Wenn ich mit den Hare Krishnas in den Knast gekommen wäre, dann wäre ich mit denen mitgelaufen, aber in meinem Fall waren es leider Nazis.
Im Nachhinein ist es natürlich sehr komisch, dass die uns Jugendliche in ein Gefängnis gepackt haben, in dem fast nur Kriegsverbrecher mit lebenslangen Strafen saßen. Ich habe nie kapiert, was der Hintergrund war, und habe später sogar nochmal mit einem Stasi-Mann darüber gesprochen. Er wusste scheinbar nichts davon.
Jugend als Punker in der DDR
Ich komme aus einer stark kommunistischen Familie. Meine Mutter, mein Vater und mein Stiefvater waren alle Funktionäre der DDR. Mein biologischer Vater hat am meisten an den Kommunismus geglaubt, er war ein richtiger Hardcore-Stalinist. Wegen seiner Ideale war er drei, vier Jahre im Westen im Gefängnis und danach ist er in den Osten abgehauen. Da hat er eine Affäre mit meiner Mutter begonnen – er war schon verheiratet mit einer anderen Frau – und wurde Chef vom Rundfunk der DDR. Eine wirkliche Rolle hat er in meinem Leben aber nicht gespielt, über seine genauen Ideale weiß ich also wenig.
Meine Mutter war Journalistin beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN), zu Hause hat sie aber nie wirklich über Politik und den Sozialismus gesprochen. Das hat, glaube ich, damit zu tun, dass sie sich auf der Arbeit schon so viel damit beschäftigt hat, aber auch damit, dass sie womöglich nicht mit voller Überzeugung dran geglaubt hat. Mir gegenüber war sie jedenfalls immer ultratolerant. Natürlich hat sie mir beigebracht, dass es Grenzen gibt, aber sie hat mir nie vorgeschrieben: So und so musst du sein. Sie hat mir immer meinen Freiraum gelassen.
Als ich ungefähr 13 Jahre alt war, wurde ich Punk. Außer typischen Punk-Klamotten – Lederjacke, grüne Militärhose und Stiefel – haben wir als Punks eigentlich nicht viel gemacht. Das ging auch nicht, weil wir immer unter Beobachtung waren. Einmal haben wir einen Song namens „Der kleine Spion“ laut auf der Straße gesungen. Das Lied war damals sehr beliebt in West-Berlin und wir fanden es cool. Wir haben da gar nicht groß drüber nachgedacht, aber eine halbe Stunde später waren die Volkspolizei und Stasi da. Sie haben ein Riesending draus gemacht, dass wir genau am 17. Juni ein Lied aus dem Westen gesungen haben.
Ich dachte die ganze Zeit: What the fuck ist denn los mit diesem scheiß 17. Juni? „Ja, heute ist der 17. Juni“, habe ich irgendwann gesagt, „und morgen ist der 18. Juni. So what?“ Wir wurden festgenommen, aber nicht viel später auch schon wieder freigelassen. Die Partei war überall und wir Punks wurden immer mehr kriminalisiert. Es gibt Tonbänder von Stasichef Erich Mielke, auf denen er den Kampf gegen die Punks und Skinheads ankündigt. Das ist natürlich absurd. Egal, wo wir hingekommen sind, die Stasi war schon da.
Der Staat hat uns im Prinzip eine politische Identität aufgeschwatzt, die wir zu der Zeit noch gar nicht hatten. Sie haben uns zwangspolitisiert. Wir konnten uns so gut wie gar nicht mehr frei bewegen und haben auch keinen normalen DDR-Ausweis bekommen, sondern einen speziellen. Jeder Polizist wusste dadurch, dass ich ein „Staatsfeind“ war und ich durfte nicht mehr aus Ost-Berlin raus. Das war natürlich unwahrscheinlich frustrierend. Der Staat konnte mit uns machen, was er wollte, und ich wusste: Die machen uns fertig.
Es wurde immer extremer, immer heftiger. Seitdem ich 14 war, konnte ich zugucken, wie alle meine Freunde abwechselnd in Gefängnissen verschwanden, meistens wegen Kleinigkeiten. Danach waren die wenigsten von ihnen noch Punks. Sie haben verstanden, dass sie den Staat als Skinhead noch mehr ärgern können. Es gab auch linke Skins, aber im Allgemeinen war die Skinhead-Szene mehr rechts orientiert als die Punkszene. Freunde sind wir aber trotzdem geblieben.
Wir kannten uns schon lange und hatten einfach alle die Schnauze voll von diesem Staat, der das ganze Leben bestimmen wollte. Das hat uns verbrüdert. Verhärtet hat sich das alles erst später, wir waren damals politisch noch sehr unschuldig. Punks, Skinheads: Das waren Jugendkulturen, keine politischen Gesinnungen. Wer will schon als Teenager politische Standpunkte einnehmen? Wir wollten einfach Spaß haben. 1986 kam ich dann, wie gesagt, selbst in den Knast.
Als ich im Oktober 1989 rauskam, musste ich mich sofort bei der Polizei melden. Die haben mir keinen Ausweis gegeben – nicht mal den komischen Ausweis, mit dem ich Ost-Berlin nicht verlassen konnte –, sondern den Entlassungsschein aus dem Gefängnis. „Das ist jetzt dein Ausweis. Wir wollen dich sowieso wieder einsperren, also brauchst du etwas anderes nicht.“ In der DDR warst du nach einer Haftstrafe erledigt, der Staat hat dich ab dem Moment immer verfolgt.
Nach dem Mauerfall zu Neonazis nach Hamburg
Zum Glück ist die Mauer nur wenige Wochen später gefallen. Ich bin dann erstmal nach Hamburg gefahren, wo Freunde von mir wohnten. Über diese Freunde habe ich Michael Kühnen kennengelernt, der dortige Neonaziführer aus den Achtzigern. Der war ultraclever, der Typ. Er hat schnell verstanden, dass es in der DDR eine große Zukunft für die Neonaziszene gab. Nach dem Fall der Mauer haben die Ostdeutschen ihre Orientierung und ihren Halt verloren. Sie wussten nicht, was jetzt mit ihrem Land passiert und viele Jugendliche haben sich ziellos gefühlt. Kühnen hat sofort verstanden, dass sich daraus ein Riesenpotential für den Aufbau einer rechten Ideologie ergibt.
Er hat auch verstanden, dass er dafür junge Leute brauchte, die wütend auf das alte System waren und eine gewisse Aggression in sich hatten. So wie meine Freunde und ich. Mit ungefähr zehn Leuten sind wir nach Ost-Berlin zurück. Der Plan war, so viele Leute wie möglich für den Neonazismus zu rekrutieren und eine gigantische rechte Bewegung aufzubauen. Was die Linken können, können wir auch, dachten wir, und haben erstmal ein Haus besetzt.
Problemlose Hausbesetzung
1989 war es unglaublich hektisch und unübersichtlich in Ost-Berlin. Viele Häuser standen leer, weil die Eigentümer von einem auf den anderen Tag in den Westen gegangen waren. Die Wohnung, die wir zuerst besetzt haben, stand in der Weitlingstraße in Lichtenberg. Wir sind da einfach reingegangen, aber die Wohnungsbaugesellschaft reagierte relativ schnell. Das Haus war denen irgendwie historisch wichtig, also haben sie uns gebeten, uns ein anderes auszusuchen. Sie haben uns tatsächlich Schlüssel von bestimmt 15 verschiedenen Häusern gebracht: „Hier, sucht euch ein paar aus.“ An jedem Schlüssel hing ein Kärtchen mit der Straße und der Nummer drauf. Unglaublich, oder? Wir haben uns für die Weitlingstraße 122 entschieden, da passten viele Leute rein.
Wir haben, wie gesagt, mit zehn Mann angefangen, aber nach zwei Wochen waren wir schon hundert. Fast alle meine Freunde und viele andere, die ich nicht persönlich kannte, kamen zu der Zeit aus Knästen. Es hat sich ganz schnell rumgesprochen: Da gibt es ein Haus, da kann man sich treffen. Die meisten, die bei uns reinkamen, waren 16 oder 17 Jahre alt. Für diese Jugendliche waren wir megacool. Wir haben allen gezeigt, dass wir keinen Staat brauchen, sondern nur auf unsere eigenen Regeln und Vorschriften hören.
Die Medien haben uns in der Anfangszeit unwissentlich sehr geholfen. Sie haben uns viel gefilmt und haben einfach gezeigt, was wir machen, ohne es kritisch zu hinterfragen oder sich wirklich mit unserer Ideologie auseinanderzusetzen. Viele Jugendliche, denen das politische Basiswissen gefehlt hat, konnten sich dadurch genau die Sachen rausziehen, die sie irgendwie spannend fanden. Das war natürlich sehr gefährlich. Warum die Medien so leichtsinnig mit uns umgegangen sind, weiß ich nicht. Bei vielen von den Zeitungen, die über uns berichtet haben, arbeiten ja gute Journalisten.
Im Haus war das Gemeinschaftsgefühl ganz wichtig. Wir haben zusammen saubergemacht, zusammen gekocht und zusammen gefeiert. Eigentlich war es wie eine riesengroße WG. Das Gemeinschaftsgefühl war die Basis für die politischen Gespräche, die wir geführt haben.
Gelder auch von Journalisten
Propagandamaterial brauchten wir nicht selbst zu machen, das kam alles aus der Neonaziszene im Westen. Vieles davon kam aus Holland. Wir hatten enge Kontakte zu Eite Homan, einem holländischen Neonazileiter zu der Zeit. Er kam regelmäßig nach Berlin und wir unterhielten uns fast immer über die weitere Expansion: Wie kriegen wir noch mehr Leute rein? Wir haben uns Ideen überlegt für Propaganda-Veranstaltungen und Möglichkeiten, Gelder zu akquirieren. Die Presse haben wir zum Beispiel immer für Interviews bezahlen lassen. Mann, von denen haben wir so viel Kohle gekriegt.
Im Januar 1990 haben wir eine Partei gegründet, die Nationale Alternative, von der ich lange Zeit Vorsitzender war. Das hat so viel Interesse erzeugt, dass wir jeden Freitag Pressekonferenzen gehalten und über unsere Ideen gesprochen haben. Dass innerhalb von drei Monaten eine so starke rechte Bewegung im Osten entstehen konnte, war natürlich ein Riesenphänomen.
Von der Hitler-Ideologie haben wir uns von Anfang an distanziert. Wir wussten, dass man alles, was von Hitler kommt, den Leuten nicht verkaufen kann: Bei Hitler denken die meisten Leute an Massenmord. Wir waren sozusagen der linke Flügel, die sozialrevolutionären Nationalsozialisten. Wir waren für die "Arbeiterklasse" und haben uns abgegrenzt vom Großkapital, von den „Bonzen“. Das hing natürlich mit dem Kommunismus zusammen und damit, wo wir herkamen. Was außerdem ein starker Fokus war, war die Parole „Deutschland der Deutschen“.
Durch die Öffnung der Mauer brach für viele Ostdeutsche eine sehr unsichere Zeit an. Viele DDR-Betriebe brachen zusammen, wodurch viele Leute ihre Arbeitsstelle verloren. Außerdem gab es einen unglaublichen Zustrom aus dem Westen, seien es Bundesbürger oder Asylbewerber, die jetzt natürlich auch im Osten untergebracht werden sollten. Viele stammten aus dem ehemaligen Jugoslawien, wo ein Bürgerkrieg ausgebrochen war.
Nicht wenige Menschen hatten einfach Angst vor der Zukunft oder waren leicht zu verunsichern, denn sie wussten nicht, wie sich ihr Land, das es ja plötzlich nicht mehr gab, weiterentwickeln würde.
Wir haben gesagt: Was auch immer passiert, Deutschland soll "für die Deutschen sein". Schlechte Erfahrungen mit Ausländern hatten wir eigentlich nicht. In der DDR gab es kubanische und vietnamesische Gastarbeiter, aber die lebten abgeschirmt vom Rest der Bevölkerung in Ghettos in Marzahn. Kontakt mit den Einheimischen hatten sie kaum.
Wir wollten mit unserer Partei am 6. Mai 1990 bei den ersten freien Kommunalwahlen in der DDR mitmachen, aber einen Tag vor der Wahl hat eine Antiterroreinheit die Weitlingstraße gestürmt. Ich und vier andere Köpfe wurden verhaftet. Das war für uns ein unglaubliches Happening. Ich bin gerade vom Einkaufen zurückgekommen, als sie plötzlich mit Maschinengewehren vor mir standen. Wir wurden festgenommen, aber die internationale Neonaziszene hat super Propaganda für uns gemacht: Es waren freie Wahlen und wir wurden verhaftet?! Durch sie erhielten wir außerdem Geld für Anwälte. Nach sechs Wochen wurden wir schon wieder rausgelassen.
"Eine unglaubliche Aufwertung meiner Person"
Es hört sich vielleicht komisch an, aber für mich war alles, was da passierte, eine unglaubliche Aufwertung meiner Person. Nach den ganzen Jahren im Osten und im Knast stand ich plötzlich im Mittelpunkt von Medien. Das war der Hammer! Ich war erst 24 Jahre alt, also noch richtig jung. Irgendwie habe ich in der Zeit meine Wut und Aggression über diese Jahre im Gefängnis ausgelebt. Brutal war ich übrigens nie. Ich habe mich nur geprügelt, wenn ich angegriffen wurde und habe nie Ausländer zusammengeschlagen. Ich war Ideologe, das war für mich wichtiger.
Für meine Mutter war es eine schwierige Zeit. Als ich Ende der Achtziger im Knast war, hat ihr Betrieb ihr verboten mich zu besuchen. Meine Mutter hat daraufhin gesagt: „Er hat doch eigentlich nichts gemacht. Er wollte nur irgendwo anders leben.“ Das war natürlich das Ende ihrer Karriere. Meine Mutter hat mich auch nach meiner Knastzeit immer wieder unterstützt, aber als ich Neonazi wurde, hat sie damit aufgehört. Es war unglaublich schmerzhaft für sie, dass ich als Führer von Berlin überall in den Medien war. „Du wirst immer mein Kind bleiben“, hat sie zu mir gesagt, „aber komm nächstes Jahr wieder, wenn du hiermit durch bist.“
In den Neunzigern wurde das Klima in Berlin immer aggressiver und gefährlicher. Das hatte viel mit "Antifas" zu tun, die in einem besetzten Haus nahebei in der Kreuzinger Straße wohnten. Wir sind irgendwann bei denen eingebrochen, haben all deren Transparente geklaut und sie bei uns in die Fenster gehängt. Es war so eine unglaubliche Demütigung für die, dass wir da einfach reinmarschiert sind und ihre Sachen geklaut haben.
Irgendwie hat es sich dann rumgesprochen, dass die ganze Aktion meine Idee war, denn ab dem Moment konnte ich abends nicht mehr ohne zehn Leute um mich herum nach Hause laufen. Ich musste immer damit rechnen, dass ich auf die Fresse kriege. Ab Juli 1990 wurde es richtig brutal. Sie haben unsere Autos kaputtgeschlagen und in die Luft gejagt und uns keine ruhige Minute mehr gegönnt. Die Aggressivität nahm immer mehr zu, auch bei uns.
Weil wir kurz vor der Wahl verhaftet worden sind, konnten wir keine richtige Parteiarbeit machen. Wir haben uns dann gesagt: Legal können wir hier nichts ändern, also muss es mit Terrorismus oder im Untergrund gemacht werden. Wir wollten einen rechten Kampf aufbauen und die Regierung außer Gefecht setzen: Politiker erschießen, alle Macht für das Volk.
Ausstieg wie aus einer Sekte
In der Nacht auf den 23. November 1992 wurde ein Haus in Mölln abgebrannt, wobei zwei türkische Frauen und eine Frau gestorben sind. Tote, das konnte ich absolut nicht tolerieren. Die Täter kamen aus der Neonaziszene und ich habe stark gespürt, dass ich dafür nicht länger stehen will.
In der Zeit habe ich einen Filmemacher kennengelernt, der ein Jahr lang eine Doku über mich gedreht hat. Er war ein Linker und echt ein cooler Typ. Wir haben uns angefreundet und uns viel ausgetauscht. Ich wollte für solche Sachen, wie sie in Solingen passiert waren, nicht verantwortlich sein, aber das war ich natürlich in gewisser Weise schon.
Nach einem Jahr Untergrundarbeit hat dieser Filmemacher mir geholfen auszusteigen. Das war nicht einfach, denn die Neonazibewegung ist wie eine Sekte: Man hat kaum noch Freunde außerhalb. Meine Familie wurde danach überall angegriffen. Meine Schwester und mein Bruder wurden verprügelt und meine Mutter hat eine Bombe gekriegt. Gott sei Dank wurde das Paket mit dem Sprengstoff kurz vor Weihnachten verschickt. Es war dadurch so lange unterwegs, so dass die Batterie schon leer war, als meine Mutter es ausgepackt hat.
Die heutige Neonaziszene ist nicht vergleichbar mit der Szene, wie ich sie gekannt habe. Wir haben damals eine gewaltbereite Truppe aufgebaut, die bis 1993, 1994 stark aktiv war. Danach gab es plötzlich keine Führungspersonen mehr, weil irgendwann alle im Knast waren oder ausgestiegen sind.
Die Neonazis sind dann langsam in legalen Organisationen gelandet. Eine Partei wie die AfD repräsentiert die Szene heute und die sitzen ganz normal im Parlament. Es ist gut, wenn eine Demokratie damit umgehen kann: Es nimmt die Hitze raus. Trotzdem mache ich mir Sorgen um die Zukunft. Ich habe Angst, dass Rassismus immer mehr salonfähig geworden ist. Auf einmal ist es beispielsweise wieder völlig legitim, zu sagen: „Ich mag keine Schwulen.“ Jüngere Generationen können das aufgreifen und das kann in Gewalt umschlagen. Ich habe es ja selbst erlebt.
"Du kannst dein Leben mit 16 komplett versauen"
Als ich ausgestiegen bin, gab es keine Unterstützung. Es gab keine Nummer, die ich anrufen konnte, um zu sagen: "Es reicht mir, ich möchte raus". Im Jahr 2000 habe ich darum die Organisation EXIT gegründet. Ursprünglich waren wir für rechte Jugendliche da, die aus der Szene raus wollten, aber mittlerweile helfen wir auch Jugendlichen, die mit dem Islam oder irgendeiner anderen Ideologie aufhören möchten.
Es gibt ein 24-Stunden-Nottelefon, das sie immer erreichen können, wenn sie Ratschläge oder eine Unterkunft brauchen. Bei EXIT arbeiten auch Aussteiger. Die Leitung hat Bernd Wagner, ein ehemaliger DDR-Polizist. Er ist cool, die Jugendlichen vertrauen ihm und seinem Team. Meine Lehre aus alldem: Wenn du Pech hast oder eine dumme Entscheidung triffst, kannst du dein Leben mit 16 komplett versauen. Du triffst ganz einfach Entscheidungen, die du nicht mehr triffst, wenn du 30 bist. Als meine Mutter das Bombenpaket bekommen hat, habe ich angefangen, mit der Polizei zusammenzuarbeiten und sehr umfangreich ausgesagt. Ich habe damit Information gegen Sicherheit getauscht.
Fast 20 Jahre später habe ich immer noch Polizeischutz, einen anderen Namen und eine geschützte Adresse. Legal findet man mich nirgendwo. Als ich neulich bei der Fahrzeugkontrolle war, waren die Bullen ganz baff: „Sie existieren gar nicht!“. Ja, schlechte Entscheidungen können ein Leben lang nachwirken."
Zitierweise: Manon de Heus / Marijke van der Ploeg, "Portrait Ingo Hasselbach", in: Deutschland Archiv, 24.4.2020, Link: www.bpb.de/308226
Jahrgang 1967, war Anfang der 1990er Jahre einer der führenden Neonazis in Ost-Berlin, stieg dann aber aus und wurde zum Mitbegründer der Neonazi-Aussteiger-Organisation Exit Deutschland. Er ist Co-Autor des 1993 erschienenen Buchs Die Abrechnung – ein Neonazi steigt aus, das 2001 zur Grundlage des Spielfilms Führer Ex unter Regie von Winfried Bonengel wurde.
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