Warten auf das Abschlusszeugnis
Aus der Reihe "Ungehaltene Reden" ehemaliger Mitglieder des letzten Parlaments der DDR (VIII)
Rainer Jork
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Als „Lernenden in einem politischen Crashkurs“ bezeichnet sich der ehemalige Volkskammerabgeordnete Rainer Jork aus Radebeul bei Dresden – 30 Jahre nach seiner Amtszeit in der letzten Volkskammer der DDR. Jork vertrat damals die CDU. In der Serie „Ungehaltene Reden“ des DA blickt der Maschinenbau-Ingenieur und Hochschullehrer in Form einer Glosse auf seine Erfahrungen im letzten Parlament der DDR zurück, auf erfüllte Hoffnungen und auf Altlasten, die bis heute geblieben sind.
Manch einer von jenen, die sich mit dem Verein ehemaliger Abgeordneter der CDU-DA-Fraktion in der demokratisch gewählten Volkskammer der DDR jährlich treffen, fragte sich schon, ob solcherart Klassentreffen denn überhaupt sinnvoll seien.
Man bezeichnete uns, die wir aus allen nur denkbaren Berufen in die Politik kamen, auch als Laienpolitiker. Warum auch nicht? Auf jeden Fall waren wir ziemlich ausnahmslos Lernende in einem Crashkurs, von dem wir wohl das Ziel kannten und es herbeisehnten. Unklar war jedoch, welche Art von Zwischenprüfungen uns in diesem Leistungskurs zugemutet werden würden und wann wohl die Abschlussprüfung stattfindet, das Ziel klar und erreichbar sein wird.
Vielleicht treffen wir uns auch unbewusst jährlich deshalb, weil wir auf ein unserem Engagement und Ergebnis genügendes Abschlusszeugnis nach erfolgreichem Kursende – der staatlichen deutschen Einheit – immer noch warten? Mancher mutmaßt, dass wir uns das vermisste Zeugnis auch noch selbst ausstellen müssen, zumal Absolventen, die nicht von der gleichen Schule kommen, uns bald nicht nur die Ergebnisse abnahmen, sondern auch noch sagen wollten, wie es damals wirklich war.
Schließlich sind in unserer Mediokratie offenbar straffrei Sekundärtugenden und Fächer abwählbar, die wir Laien in unserem Leistungskurs noch für wichtig hielten. Man muss doch heute nichts Wertschöpfendes mehr selbst machen. Eigentlich geht’s nur ums Verteilen, so bemerkten wir bald.
Da fürchtete doch tatsächlich jemand neulich, Deutschland könne sich totsparen, wenn man so weitermache, wie bisher. Am Anfang unseres Kurses haben wir noch angenommen, dass Sparen bedeutet, wenn man vom regelmäßigen Einkommen etwas zur Seite legt, um später davon notfalls leben zu können. Wir mussten dann aber lernen, dass dies offenbar völlig da-neben ist. Sparen ist viel lustiger und aktuell etwas ganz anderes: man macht etwas weniger Schulden, als man klugerweise vorher vortäuschte oder in bewährter Unkenntnis angab und vergrößert damit den nationalen Schuldenberg. Wenn man selbst keine Kinder hat, ist dies für die „Sparer“ wirklich unproblematisch, wie jeder einsehen wird.
Das Verständnis dieser für uns neuen Erkenntnis wird zweifelsfrei leichter, wenn man sich von überflüssigen, anstrengenden und die sozialen Ambitionen vernachlässigenden Ballastfächern, wie Mathematik, Physik und Chemie, befreit. Kleine läppische Unterschiede, wie zum Beispiel zwischen Brutto und Netto oder Plus und Minus könnten einem die Freude nehmen. Man muss nicht unbedingt wissen, was zum Beispiel „Minuswachstum“ bedeutet oder sich unter „Digitalisierung“ (im Wortsinn) eigentlich verbirgt. Wir haben gelernt, dass „die Politik“ für jeden und alles zuständig sein soll. Aber wer weiß schon, wer das eigentlich ist?
Wie die Geschichte lehrt, machen auch sog. Stabilitätskriterien wieder Freude, wenn sie kreativ gehandhabt und mit leichtem Gemüt nachgebessert werden. Mit etwas Lebensfreude kann man auch endlich noch die PISA-Ergebnisse so nachbessern, dass sie den allgemeinen Bedürfnissen nach Selbstbestätigung mühelos genügen.
Jetzt nach 30 Jahren zurückzublicken erinnert mich zuerst daran, dass wir damals nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 voller Idealismus und Tatendrang, aber eben auch ziemlich unvorbelastet bis naiv die ostdeutsche Demokratie gestalten wollten.
Ich glaubte zum Beispiel vor allem, dass das bundesdeutsche Grundgesetz in der Bundesrepublik nicht nur stabil gilt, sondern auch eingehalten werden muss. Schließlich ging es uns frisch gebackenen Kursteilnehmern bzw. Abgeordneten hinsichtlich unserer Zielfunktion und Abschlussmodalitäten auch um die Frage, welche Art Abschluss wohl zu erreichen sei, also nach welchem Artikel des bundesdeutschen Grundgesetzes die deutsche Einheit zu gestalten sei.
Mir persönlich war damals unter anderem jedenfalls noch nicht klar, dass
- die Gewaltenteilung im Grundgesetz scheinbar gar nicht so ernst gemeint ist, (wenn etwa in Personalunion ein Richter Abgeordneter wird)
- man sich über Schulden eigentlich praktisch keine Gedanken machen muss, (wenn man den Begriff nur zeitgemäß definiert),
- eine Wahlperiode eigentlich eine halbe Denk- und Arbeitsperiode für das Parlament ist, (weil Einarbeitung und „Wahlkampf“ viel Energie kompensieren),
- Minderheiten im Allgemeinen die Mehrheiten springen lassen,
- Recht kriegen mit dem Rechtsempfinden nicht stets etwas zu tun haben muss (neusprachlich sollte man wohl sagen, dass dabei die Schnittmengen überschaubar sind).
Obwohl wir das alles nun besser wissen, als wir damals ahnten, haben wir das primäre Klassenziel – die deutsche Einheit – glücklich erreicht.
Schließlich wollten wir fast alle den Schritt von unserer Parlamentsschule wieder ins reale Leben wagen. Wer lässt sich denn sonst noch mit dem Ziel in ein Parlament wählen, dieses dann aufzulösen und einem, möglichst seinem bisherigen, Beruf außerhalb des öffentlichen Dienstes, nachzugehen?
Wir sahen unsere Probleme, die zu gesamtdeutschen Altlasten werden würden und wurden, und sind dankbar für Förderung und Nachhilfe. Inzwischen wissen wir Kursteilnehmer, dass noch ganz andere Altlasten abzuarbeiten sind, von denen wir anfangs nichts ahnten, vor allem auch, wenn wir aus dem sächsischen „Tal der Ahnungslosen“ kamen.
Nun sind wir jedenfalls - ob mit oder ohne Abschlusszeugnis und von wem auch immer zertifiziert – willens und in der Lage, nicht nur uns und unsere „Schulzeit“ kritisch und konstruktiv zu sehen, sondern wissen auch, dass wir allesamt längst und noch eine Weile an Altlasten zu tragen haben. Ist das nicht sinnvoll, etwa auch notwendig?
Selbst wenn heute manchem Alteingesessenen unsere kritische Denkdynamik eher suspekt erscheinen mag: auch 30 Jahre nach Abschluss unseres Crash- und Leistungskurses in Sachen funktionaler Demokratie sind wir noch in gewisser Weise lern-, arbeits- und handlungswillig, also einigermaßen unverbesserlich.
Zitierweise: "Leistungskurs ohne Abschlusszeugnis“, Rainer Jork, in: Deutschland Archiv, 17.4.2020, Link: www.bpb.de/307858.
Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden in den nächsten Wochen folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
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