Vieles von dem, was Jochen Staadt auf meine Kritik an der undifferenzierten Aufnahme der weitgehend anders gelagerten Opferfälle vor 1961 im Vergleich mit denen nach 1961 anführt, hat leider nichts oder wenig mit meiner Kritik zu tun. Ich will versuchen, das etwas zu ordnen:
I. Die Zeit vor und nach 1961 ist deutlich zu unterscheiden
(1) Die Kritik richtet sich gar nicht dagegen, dass auch die Zeit vor 1961 untersucht wurde, sondern moniert, dass dies zu undifferenziert geschehen ist. Die Unterschiede, sowohl was Zweck und Methode der Grenzsicherung angeht als auch was die konkreten Opferfälle betrifft, werden nicht hinreichend deutlich gemacht. Der jeweils andere historische Kontext wird nicht angemessen berücksichtigt. Die grundlegende Zäsur von 1961 existiert in der Studie faktisch nicht, und der Umstand, dass unter den Todesopfern vor 1961 höchstens 20 Prozent „Republik-“fluchtfälle waren, kann vom Leser nur durch Studium und Zuordnen aller Opferbiographien erkannt werden.
(2) Staadt schreibt: „Kubinas Behauptung, erst nach 1961 sei es an der innerdeutschen Grenze hauptsächlich um die Verhinderung von >Republikfluchten< gegangen, ist unzutreffend.“ Meine Aussage war: Vor 1961 ist es bis weit in die 50er Jahre hinein nicht primär um „Republik“-Fluchtverhinderung gegangen. Warum dies unzutreffend sein soll, sagt Staadt leider nicht. Stattdessen meint er mit einem Beispiel (Irmgard Stark, S. 39) meine Aussage falsifizieren zu können, und fragt dann: „Darf sie nun nicht mehr als Opfer des DDR-Grenzregimes gelten?“ Selbstverständlich waren auch Irmgard Stark und wer noch vor 1961 im Grenzgebiet durch Schusswaffenanwendung von Sowjets oder DDR-Grenzern zu Tode kam oder verletzt wurde, Opfer des Grenzregimes. Wovon denn sonst? Nur war dieses Regime bis weit in die 50er Jahre hinein eben ein anderes als dann ab 1961. Die Opfer waren, wie bereits erwähnt und anders als nach 1961, auch weit überwiegend keine „Republik“-flüchtlinge, sondern zumeist, wie es damals hieß, „Grenzgänger“, also Menschen die sich aus diversen Gründen über diese Grenze ohne Passierschein hin und her bewegten.
Im Jahr 1950, als Irmgard Stark zum Opfer wurde, gab es nach Schroeder/Staadt 20 Todesopfer an dieser Grenze, nur drei von ihnen waren „Republik“-fluchtfälle. Und selbst Irmgard Stark - als einer von diesen drei Fällen - wurde als Teil einer Gruppe von Grenzgängern, der sie sich angeschlossen hatte, zum Opfer. Hier können nicht alle Argumente bzgl. Zweck und Methoden der Grenzsicherung vor 1961 wiederholt werden . Es ist jedoch ganz offenkundig, dass sich das Grenzregime damals nicht primär gegen Flüchtlinge richtete und damit ein wesentlicher Unterschied zu der Zeit nach 1961 besteht. Hier zu wenig zu differenzieren bzw. die Differenzen nur schwer erkennbar zu machen, dagegen richtet sich die Kritik. Warum haben Schroeder/Staadt nicht in vor und nach dem Mauerbau unterteilt und deutlich zwischen Grenzgängern/Schmugglern und „Republik“-fluchtfällen unterschieden? Warum haben die Autoren die Fälle nirgends in Relation zur immensen Zahl an ungehinderten illegalen Grenzübertritten in den fünfziger Jahren gesetzt? Der Mauerbau war unbestritten eine historische Zäsur, aber gerade in Bezug auf das Grenzregime soll er es nicht gewesen sein?
(3) Staadt führt rechtfertigend etliche Grenzgängerfälle an, bei denen ich ja gar nicht behaupte, es seien keine Opfer des DDR-Grenzregimes, um dann darauf zu verweisen, es gebe vergleichbare Fälle auch bei Sälter/Dietrich/Kuhn. Ja, niemand bestreitet dass die Fälle vor 1961 an der Berliner Grenze einerseits und an der innerdeutschen Grenze andererseits miteinander vergleichbar seien, denn auch an der Berliner Grenze gab es vor 1961 ja nur sehr wenige „Republik“-fluchtfälle. Die allermeisten waren auch hier „Grenzgänger“/Schmuggler. Diese Todesopfer vor 1961 sind aber eben nicht so ohne Weiteres mit denen nach 1961 gleichzusetzen, als fast jeder Todesfall im Grenzraum ein „Republik“-flüchtling war bzw. in den wenigen anderen Fällen der Tod auf den nun primären Zweck des Grenzregimes zurückzuführen war, nämlich jede Flucht um nahezu jeden Preis zu verhindern, kurz: auf den Schießbefehl bzw. die Minen.
(4) Eigenartig mutet an, wie Staadt meint, die Aussage, der Schusswaffengebrauch sei „bis in die frühen fünfziger Jahre die absolute Ausnahme“ gewesen, falsifizieren zu können. Zunächst einmal macht er aus einer von mir als Zitat gebrachten Aussage eines ansonsten auch von Schroeder und Staadt geschätzten Autors von Standardwerken über die innerdeutsche Grenze eine Aussage von mir. Dann verfälscht er sie auch noch zu „in den fünfziger Jahren“, lässt „frühen“ kurzerhand weg. Er meint, die Frage, ob der Schusswaffeneinsatz eine Ausnahme gewesen sei oder nicht, wäre mit Verweis auf die Zahl der Schüsse „im IV. Quartal 1951“ (ca. 2.500, davon ca. ¾ Warnschüsse) zu klären. Nahezu alle Grenzen der damaligen Welt inklusive der westdeutschen Außengrenzen hatten den Zweck, illegalen Grenzverkehr und Schmuggel zu verhindern, notfalls auch mit Schusswaffeneinsatz. Wie war denn die Lage an der innerdeutschen Grenze in den frühen 50er Jahren? Ob etwas eine Ausnahme ist oder nicht, kann ich doch nur beurteilen, wenn ich es in Relation zu einer Gesamtzahl setze. Also wenn ich hier die Fälle mit Schusswaffeneinsatz ins Verhältnis setze zur Zahl der gleichzeitigen illegalen Grenzüberquerungen insgesamt. Ich habe dazu ja schon in meinem ersten Beitrag Zahlen genannt. Staadt ignoriert den enormen Umfang des mehr oder weniger ungehinderten, jedenfalls ohne Schusswaffeneinsatz sich vollziehenden illegalen Grenzverkehrs.
Ich muss mich daher teilweise wiederholen: Vom Oktober 1949 bis Ende 1952 lag die Zahl der illegalen Grenzüberschreitungen in beide Richtungen über die innerdeutsche Grenze nach westdeutschen Angaben im einstelligen Millionenbereich. Rechnen wir den von Staadt angeführten Schusswaffeneinsatz vom IV. Quartal 1951 auf diesen Zeitraum hoch (ca. 2.500 x 13 Quartale) kommen wir auf ca. 32.500 Schüsse (davon ca. drei Viertel Warnschüsse). Gehen wir davon aus, dass pro Fall drei Schüsse fielen, ergeben sich etwa 10.000 Schusswaffenfälle in gut drei Jahren. Von diesen endeten nach den Recherchen von Schroeder/Staadt nicht ganz 50 tödlich. Also selbst die Zahl der Schusswaffeneinsätze mit Todesfolge war außerordentlich gering im Vergleich zu den Schusswaffeneinsätzen insgesamt: 0,5 Prozent.
Nur fünf dieser 50 Todesfälle waren zudem „Republik“-fluchtfälle, also 0,05 Prozent der Schusswaffeneinsätze betrafen „Republik“-fluchtfälle. Diesen ca. 10.000 Schusswaffeneinsatzfällen mit 50 Todesfällen standen aber Millionen an illegalen Grenzüberschreitungen und auch noch hunderttausende vorübergehende Festnahmen ohne jede Schusswaffenanwendung gegenüber. Es scheint mir evident zu sein, dass Peter Joachim Lapp, von dem mein Zitat stammt, seine Aussage wohlbegründet machte, dass eben der Schusswaffengebrauch in dieser Zeit die „absolute Ausnahme gewesen“ sei. Noch im Sommer 1961 hätte es, so Lapp und Ritter an anderer Stelle, „ernstzunehmende Hindernisse in Form von Stacheldrahtzäunen […] nur auf einer Länge von 10% der [innerdeutschen; d. Verf.] Grenze“ gegeben. Staadt mag angesichts dieser Zahlen, also Millionen ungehinderter illegaler Grenzüberquerungen in beide Richtungen, kaum ernstzunehmender Grenzsperren, einem massenhaften, geradezu gewohnheitsmäßigen Schmuggel mit einem enormen Warenwert (s.u.), gleichzeitigem Schusswaffengebrauch im Promillebereich und insgesamt nur sehr wenigen „Republikflucht“-fällen unter den Todesopfern keinen fundamentalen Unterschied im Grenzregime zur Zeit nach 1961 erkennen.
(5) Staadt führt darüber hinaus, seine Position vermeintlich rechtfertigend, an: „Nach DDR-Statistiken flohen 1952 insgesamt 185.778 Menschen über die innerdeutsche Grenze in den Westen.“ Zur gleichen Zeit gab es 20 Todesopfer durch Schusswaffengebrauch an der innerdeutschen Grenze, darunter ganze drei Fluchtfälle. Drei Todesopfer bei einigen zigtausend geglückten Fluchten im selben Zeitraum über die „grüne“ innerdeutsche Grenze - und Staadt sieht keinen fundamentalen Unterschied zum Grenzregime nach dem Mauerbau?
(6) Natürlich sah die SED auch damals schon die Abwanderung, insbesondere von Hochqualifizierten, mit Sorge. Der von Arbeitern stand sie vollkommen verständnislos gegenüber. Aber es gibt keinerlei Indizien dafür, dass die SED bereits zu dieser Zeit das Abwanderungsproblem primär mit der Grenze lösen wollte. Staadt ignoriert hier konsequent den Forschungsstand.
(7) Staadt schreibt: „Der Vergleich der Ereignisse im Aachener Raum mit den Vorfällen an der DDR-Westgrenze zeigt freilich deutlich die Unterschiede beider Grenzen.“ Nun habe ich ja nirgends behauptet, dass es keine Unterschiede gegeben habe. Aber es gab eben auch deutliche Ähnlichkeiten, nämlich den in Einzelfällen tödlichen Schusswaffeneinsatz gegen Grenzgänger, darunter viele Jugendliche und Schmuggler, kleine und große, ganz ähnlich wie an der DDR-Westgrenze. Staadt teilt nicht mit, worin er denn nun die Unterschiede im Grenzregime sieht. Er führt zwei Punkte an, die seiner Meinung nach anscheinend die Verhältnisse unvergleichbar, jedenfalls zu unähnlich machen. Erstens verweist er, genau wie ich auch, auf den Umstand, dass in Westdeutschland in den Parlamenten über den Schusswaffeneinsatz an der Grenze kontrovers diskutiert wurde, in den DDR-„Parlamenten“ aber nicht. Aber dieser Unterschied betrifft das politische System, Demokratie versus Diktatur. Das Grenzregime war in dieser Zeit nichtsdestoweniger durchaus ähnlich, wenn auch in Westdeutschland demokratisch legitimiert, in der DDR dagegen nicht. Es wurde auch von der Bundesregierung trotz kontroverser Diskussion damals nicht verändert, sondern der Schusswaffeneinsatz von ihr verteidigt. Übrigens war das Grenzregime an der innerdeutschen Grenze damals in Westdeutschland, anders als das an der Aachener Grenze, überhaupt kein Thema, sondern nur die Massenzuwanderung aus der DDR. Diese stellte Westdeutschland und West-Berlin damals vor große Herausforderungen und sollte möglichst eingedämmt werden. Das änderte sich erst mit Wirtschaftsaufschwung und Arbeitskräftemangel Ende der 60er Jahre. Staadt verweist dann darauf, und hier anscheinend einen grundlegenden Unterschied im Grenzregime sehend, dass „der organisierte Kaffeeschmuggel […] ein Millionengeschäft“ gewesen sei.
Sicher, es gab organisierten, bandenmäßig betriebenen Schmuggel. Will Staadt behaupten, den habe es an der innerdeutschen Grenze nicht gegeben? Aber auch das wäre ja ggf. kein Unterschied im Grenzregime, sondern nur im Ausmaß des Schmuggels über die Grenzen. Staadt macht keinerlei Angaben zum Umfang des Schmuggels an der innerdeutschen Grenze. Aber nur so könnte man ja feststellen, ob das Schmuggel-„Millionengeschäft“ an der bundesdeutschen Westgrenze einen wesentlichen Unterschied zur Lage an der innerdeutschen Grenze darstellt oder eben nicht. Wir bräuchten ja irgendeine Relation, ähnlich wie bei der Frage, ob der Schusswaffeneinsatz nun „bis in die frühen fünfziger Jahre hinein“ die Ausnahme war oder nicht. Ich schrieb dazu, von Staadt leider nicht zur Kenntnis genommen: Der tatsächliche Umfang des Schmuggels „ist naturgemäß schwer zu ermitteln. Schätzungen gehen von einem Umfang zwischen 40 bis 200 Prozent des legalen innerdeutschen Handels aus.“ Der innerdeutsche Handel zwischen 1950 und 1953, also dem Zeitraum, in dem es über zwei Drittel der Todesopfer vor dem Mauerbau gab, hatte einen Umfang von fast 2 Milliarden Westmark (Verrechnungseinheiten).
Setzen wir nur den niedrigsten, von der westdeutschen Forschung genannten Wert an, dann müssten wir von einem Schmuggel im Warenwert von etwa 800 Mio. Westmark (= 40%) in diesen vier Jahren ausgehen, also im Jahresmittel 200 Mio. Selbst wenn davon auszugehen ist, dass ein nennenswerter Teil dieses Schmuggels von der SED selbst betrieben wurde und von ihr also nicht zu bekämpfen war, bliebe mit Sicherheit immer noch ein gigantischer Umfang an individuellem wie bandenmäßigem Schmuggel. Er stand jedenfalls dem des Kaffeeschmuggels im Wert von „20 Millionen Jahresumsatz“ an der Aachener Grenze ganz sicher nicht nach. Im Aachener Raum wie auch an der innerdeutschen Grenze schmuggelten neben regelrechten Banden vor allem ganz normale Bürger, Jugendliche und Kinder, Männer und Frauen, und unter den Todesopfern sah es ähnlich aus. So geht es unmissverständlich und anschaulich auch aus den Quellen hervor, die Staadt erstaunlicherweise als vermeintlich seine Position bestätigend anführt. Wir haben uns jetzt weit entfernt von den Fragen, um die es hier eigentlich geht. Aber da Staadt den Forschungsstand anscheinend beharrlich zu ignorieren entschlossen ist, schien mir dieser kleine exemplarische Exkurs notwendig.
II. Kausaler Zusammenhang
Begriffliche Unklarheiten gibt es bei Staadt nicht nur bei quantitativen Relationen und dem Zweck des Grenzregimes. Auch über das, was unter einem kausalen Zusammenhang zu verstehen ist, scheint keine Klarheit zu bestehen. Hier sei noch einmal auf die von mir in meiner ersten Kritik erwähnten Fälle verwiesen, die von sowjetischen Gerichten zum Tode verurteilt und in Moskau hingerichtet wurden, aber nicht wegen „Republik“-flucht oder Schmuggel, sondern wegen damals „gängiger“ Tatbestände wie Spionage, Sabotage oder „Boykotthetze“. Deren Tod stand eben nicht in einem kausalen Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime, sondern mit dem sowjetischen Terror- und Unrechtsregime. Einzig der Umstand, dass die Betroffenen Grenzer bzw. in Grenznähe tätige Volkspolizisten waren, bildet einen Bezug zur Grenze. Wären diese Personen anderenorts in der DDR eingesetzt gewesen, wäre ihnen bei dem, was ihnen vorgeworfen wurde, wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal widerfahren. Staadt geht in seiner Erwiderung auf meine Kritik mit keinem Wort auf diese nicht nur von mir beanstandeten und teils auch dargestellten Fälle ein. Es ist zu hoffen, dass dies als Indiz dafür zu werten ist, dass ein Umdenkungsprozess beim Forschungsverbund SED-Staat begonnen hat. Noch einmal: Es geht in der Studie um Todesopfer an der innerdeutschen Landgrenze, aber diese Menschen wurden in Moskau erschossen.
Was Staadt unter seiner Zwischenüberschrift „Todesfälle im Kausalen Zusammenhang“ zur Rechtfertigung des von mir beanstandeten Falles des mitten in Leipzig erschossenen Volkspolizisten Gerhard Gergaut (S. 524 f.) anführt, erschließt sich mir nicht. Aus Platzgründen und weil dieser Fall eher als Einzelfall problematisch ist, erspare ich mir hier eine detailliertere Erwiderung und empfehle, sich selbst die von Staadt als Referenzfälle genannten Kurzbiografien bei Hertle/Nooke anzusehen, die kaum zur Rechtfertigung der Aufnahme des Falles Gergaut taugen.
Abgesehen davon gibt es auch in der Studie von Hertle/Nooke einige wenige Fälle, deren Aufnahme kritisch gesehen werden kann, darunter der des von Staadt herangezogenen Ehepaares Wehhage. Nicht, weil sie keine Opfer waren, sondern weil ihre Aufnahme durch die Kategorien von Hertle/Nooke nicht wirklich gedeckt ist. Im Fall der Schroeder/Staadt-Studie diskutieren wir aber keine vereinzelten, möglicherweise als Grenzfälle einzustufenden Ausnahmefälle, sondern die fast regelhafte Überdehnung der Aufnahmekategorien.
Es sei noch einmal daran erinnert, dass die Schroeder/Staadt-Studie sich explizit nur auf die Todesofer an der innerdeutschen Landgrenze bezieht, also einen klaren lokalen Bezug hat auf den Grenzstreifen, der sich von Lübeck an der Ostsee bis zum kurzen Grenzabschnitt zwischen den Ländern Sachsen und Bayern zieht. Ausdrücklich ausgeschlossen sind alle Fälle, die sich nicht in unmittelbarer Nähe der innerdeutschen Landgrenze ereigneten. Im Fall des Volkspolizisten Gergaut (wie auch beim Ehepaar Wehhage) war eben nicht das Grenzregime ursächlich für die Amoktat (bzw. den Suizid), sondern die fehlende Reise- und Ausreisefreiheit. Auch solche Fälle sind tragische Fälle, und es wäre durchaus sinnvoll, die nicht selten tragischen Auswirkungen, die die Verweigerung von Reise- und Ausreisefreiheit auf das Leben der Menschen in der DDR hatten, übergreifend und anhand konkreter Biografien im historischen Kontext darzustellen. Aber dies war nicht die Forschungsfrage dieser Studie, in der es ausdrücklich und ausschließlich darum geht, die belegbaren Todesfälle an der innerdeutschen Landgrenze darzustellen und eine wissenschaftlich gesicherte (Mindest-)zahl dieser Fälle zu nennen. Es geht um die Todesopfer des DDR-Grenzregimes, nicht um jene in Folge der Verweigerung von Reise- und Ausreise, deren es sicher deutlich mehr gab als nur die Fälle Gergaut oder Wehhage.
III. Suizide
Unter der Zwischenüberschrift „Die MfS-Perspektive ist diffamierend“ behauptet Staadt, der rbb und ich hätten die „MfS-Darstellung“ übernommen, ohne die in den Überlieferungen enthaltenen, diesen monokausalen Konstruktionen widersprechenden Passagen „auch nur zu erwähnen“. Wir hätten somit „die grobschlächtigen Insinuationen der Stasi nun als angebliche gesicherte Erkenntnisse öffentlich verbreitet.“ Grobschlächtig ist hier nur Staadts Unterstellung, führt er doch nicht einen Beleg für seine Behauptung an, weshalb hier auch eine Antwort meinerseits nicht möglich ist.
Es sei hier noch einmal betont, dass meine Kritik weitgehend auf den biographischen Notizen von Schroeder/Staadt in der Studie beruht. Akteneinsicht habe ich nur in einer Handvoll von Fällen genommen, hauptsächlich bei Suizidfällen von Grenzern. In diesen Fällen war allerdings die Diskrepanz zwischen dem, was eine quellen- und textkritische Analyse der Akten sowie von Zeitzeugenaussagen nahelegte, und dem, was die Autoren in der Schroeder/Staadt-Studie präsentieren, für mich geradezu erschreckend.
Wie ich bereits geschrieben habe, lassen sich die einzelnen Suizidfälle bei dem hier nur sehr begrenzten Raum nicht angemessen diskutieren. Selbstverständlich „ignoriere“ ich aber nicht, wie Staadt behauptet, Aussagen aus den Quellen, auch nicht Bodo Pankes (S. 560 f.) Abschiedsbrief, ich gewichte nur teilweise und jeweils begründet anders als Schroeder/Staadt. Die primär privaten Hintergründe des Suizides beispielsweise von Panke sind nach Darstellung im Buch und noch mehr nach Kenntnis der Akten offenkundig. Dafür sprechen auch die Aussagen, die Staadt jetzt zusätzlich aus den MfS-Akten zitiert, nämlich dass Panke „überbetont feinfühlig“ gewesen sei. Ja das war er wohl, nicht zuletzt nämlich gerade auch gegenüber Kritik durch seine Frau. Wenn Staadt jetzt meint, „neben privaten gab es dienstliche Gründe“ für den Suizid, dann bestreitet das auch niemand, nur waren aus meiner Sicht letztere nach Aktenlage weder primäre Ursache noch konkreter Anlass für die Kurzschlusshandlung. Panke hatte massive private Probleme, und die Akten machen, ohne das hier weiter ausführen zu können, deutlich, dass Hauptursache offenbar die Ehe und Auslöser eine unmittelbar vorangegangene Herabsetzung durch seine Frau war.
Staadt zeigt mit den weiteren Beispielen, die er zur Rechtfertigung der Suizide in der Studie nennt, auch, dass er gar nicht fragt, ob die „dienstlichen Problemen“, die den Suiziden möglicherweise auch oder hauptsächlich zugrunde lagen, denn grenzregimespezifisch waren oder nur z.B. allgemein NVA-spezifisch. Wie auch bei Panke bestreitet niemand, dass es sich bei den weiteren von Staadt in seiner Erwiderung genannten Suiziden um tragische Fälle handelt. Bezeichnenderweise geht er auf die vielen anderen von mir noch konkret beanstandeten Suizidfälle mit keinem Wort ein, präsentiert stattdessen seinerseits nur einige besonders tragische, nichtsdestoweniger aber nicht im „kausalen Zusammenhang“ mit dem Grenzregime stehende Fälle.
Was Staadt etwa aus den MfS-Unterlagen zu Henry Falk (S. 566) als vermeintlich seine Position stützend zitiert („Ablehnung des Wehrdienstes und damit verbundener persönlicher Einschränkungen; persönliche Enttäuschung über Trennung seiner Freundin von ihm; Differenzen im Elternhaus“) verweist wieder auf die fehlende begriffliche Trennschärfe bei Schroeder/Staadt. Staadt schreibt, „die an erster Stelle erfolgte Erwähnung der >Ablehnung des Wehrdienstes< als Ursache des Suizids [ist] ein eindeutiger Hinweis auf den dienstlichen Zusammenhang.“ Offensichtlich war die MfS-Einschätzung hier nicht „monokausal“ und verschleierte auch nicht den „dienstlichen Zusammenhang“. Ein „dienstlicher Zusammenhang“ bedeutet aber eben erstens noch lange nicht, dass es auch ein kausaler, ursächlicher ist, was ich hier aber mangels Aktenkenntnis auch gar nicht bestreite. Aber es war eben offenkundig kein grenzspezifisches dienstliches Problem. Falk hat, wie unzählige andere junge Menschen damals in der DDR auch, den DDR-„Wehrdienst“ allgemein und nicht etwa speziell den Grenzdienst innerlich abgelehnt. Er hätte die daraus resultierenden Probleme also mehr oder weniger ähnlich auch in jeder anderen Einheit der DDR-Armee gehabt. Henry Falk ist ein besonders tragischer Fall und ein Opfer des SED-Regimes. Als jemand, der den Wehrdienst in der DDR etwa zur selben Zeit ebenfalls abgelehnt und deshalb verweigert hat, kann ich dessen verzweifelte Lage sehr gut nachempfinden. Aber er ist kein Opfer speziell des Grenzregimes. Und nur um solche geht es hier.
Ähnlich gelagert ist der Fall des ebenfalls von Staadt zur Rechtfertigung seiner Position angeführten Andreas Kaiser (S. 553 f.), nur dass bei ihm noch offensichtlicher persönliche Probleme (Tod der Mutter, Liebesprobleme) hineinspielten. Möglicherweise hätte er ohne die zusätzliche und für ihn schwere Belastungen durch den Wehrdienst sowie den gleichzeitig leichten Zugriff auf eine Waffe damals keinen Suizid begangen. Aber die Belastung war nicht speziell sein Dienst an der Grenze, sondern generell das harte und hierarchische militärische Regime. Das geht nicht zuletzt auch mehr als deutlich sowohl aus seinem Abschiedsbrief als auch aus der von Staadt angeführten Erinnerung seiner Schwester hervor. Tragisch, aber kein Opfer des Grenzregimes.
Auch der Fall des von Staadt angeführten Frank Lott ist ähnlich gelagert. Bei Schroeder/Staadt (S. 569 f.) liest man, Lott habe ein „zunehmend kritisches Verhältnis zu den Ausbildungsmethoden“ entwickelt: „Ihm missfielen Exerzierübungen und der harsche Kasernenhofton.“ Beides wäre aber in jeder anderen NVA-Einheit ähnlich gewesen, eine grenzspezifische Ursache für seinen Suizid ist nach der Darstellung von Schroeder/Staadt gerade nicht zu erkennen, und auch, was Staadt jetzt nachschiebt, lässt keine grenzspezifische Ursache für seinen Suizid erkennen.
Selbstverständlich ist „das DDR-Grenzregime und seine Opfer nicht eindimensional im Sinne einer schwarz-weiß Perspektive historisch zu beschreiben“, wie Staadt meint gegen seine Kritiker hervorheben zu müssen. Niemand bestreitet, dass auch Grenzer zu Opfern des DDR-Grenzregimes werden konnten, auch bei einem Suizid. Nur finden sich eben bei den allermeisten Fällen bei Schroeder/Staadt keine hinreichenden Belege dafür, dass die „dienstlichen Probleme“, wenn sie denn überhaupt ursächlich für den Suizid waren, auch grenzspezifischer Art waren.
Zitierweise: "Begriffliche Unklarheiten, eine Replik auf Jochen Staadt“, Michael Kubina, in: Deutschland Archiv, 27.4.2020, Link: www.bpb.de/307841.
Ergänzend zum Thema:
- Eine Antwort auf diese Replik: Interner Link: "Es geht um Schicksale, nicht Begriffe" von Dr. Jochen Staadt (13.5.2020)
- Die diesen beiden Stellungnahmen vorangegangenen Texte im Interner Link: Deutschland Archiv der bpb: 1. Jochen Staadt / Jan Kostka; Interner Link: Wer war Opfer des DDR-Grenzregimes 2. Michael Kubina; Interner Link: Eine andere Sicht 3. Jochen Staadt; "Interner Link: Nicht nur Heldengeschichten beschreiben"
- bpb-Film: Stasi-Videos und Fotos von Mauer und innerdeutscher Grenze
- In der Hand des MfS: Interner Link: Der Dienst an der Grenze. Von Peter Joachim Lapp.
- Die Externer Link: Chronik der Mauer - eine multimediale Übersicht
- Externer Link: 30 Jahre Mauerfall. Ein bpb-Dossier
- Interner Link: Nachts vor Ort beim Mauerbau? Ein Fotoalbum Erich Mielkes. Aus dem DA vom 19.7.2011.
- Die Maueröffner. Interner Link: Ein Dokumentarfilm aus dem Grenzübergang Bornholmer Straße am Abend des 9. November 1989.