„Was meine Enkel von der Volkskammer im Jahr 1990 erfahren sollen“
Hans-Peter Häfner
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Der Fall der Mauer glich dem Bruch eines Staudammes. Wir standen vor der Aufgabe, nicht zu jammern und das Land wieder urbar zu machen, schreibt der Bergbau-Ingenieur Hans-Peter Häfner (82), der damals den Wahlkreis Suhl für die CDU vertrat. Häfner hat seine lehrreichen Erfahrungen während der Friedlichen Revolution und in der Volkskammerzeit für seine Enkel aufgeschrieben.
Für meine Kinder und Enkel habe ich prägende Ereignisse aus 82 Jahren meines Lebens aufgeschrieben. Dazu gehört auch die Zeit vom 18. März bis zum 2. Oktober 1990 als CDU-Abgeordneter in der 10. Wahlperiode der DDR-Volkskammer. Es ist die einzige Zeit in der 40-jährigen Geschichte dieses Parlaments, in der es durch freie Wahlen entstanden ist und seinen Namen zu Recht getragen hat. Und es ist für mich die intensivste und wichtigste Zeit in meinem Berufsleben gewesen.
1. Wie ich Abgeordneter wurde
Das war ein Ergebnis der Friedlichen Revolution, die im Herbst 1989 in unserem Teil Deutschlands begonnen hatte. Ich hatte mich seit Anfang Oktober aktiv am Reformprozess der Ost-CDU beteiligt, der ich seit 1972 angehörte. Die CDU hat sich während der Revolution in wenigen Wochen aus der Knechtschaft der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) befreit. Sie wandelte sich glaubhaft für die Bevölkerung in eine demokratische Partei mit neuer Führungsmannschaft und neuem Parteiprogramm.
Ab November 1989 organisierte ich mit Freunden die örtlichen Bürgerversammlungen und die anschließenden Demonstrationen, in denen ebenfalls Reformen und schon bald die Wiedervereinigung gefordert wurden. So kam es, dass ich nach 33 Jahren als Bergmann, Student und Ingenieur im Kalibergbau am 14. Dezember 1989 zum stellvertretenden Bürgermeister in meinem Wohnort Vacha in der Rhön gewählt wurde. Und im Januar 1990 setzte mich aus diesen Gründen der damalige CDU-Bezirksvorstand Suhl auf die dritte Stelle der CDU-Kandidatenliste für die Wahl zur Volkskammer (VK).
Ich habe erfahren, dass einen ähnlichen Weg zum Abgeordneten viele meiner "VK"-Kollegen erlebt haben. Und ich konnte mir ausrechnen, dass ich Abgeordneter werde, wenn die CDU 23 Prozent der Stimmen erhält.
2. Wahl und Wahlergebnis
Aber Prognosen sagten der SPD mehr als 50 Prozent und der CDU nur 11 Prozent voraus. Es ist anders gekommen, in meinem Wahlkreis Suhl wählten 50,4 Prozent CDU, und es zogen sieben Abgeordnete der CDU aus Südthüringen in die Volkskammer. Der Wahlkampf und die Wahl selbst verliefen unter lebhaftester Beteiligung der gesamten Bevölkerung, die graue DDR wurde bunt mit Millionen Wahlplakaten.
Ein Wähler in der DDR musste 79 Jahre alt sein, um vorher schon einmal frei und geheim gewählt zu haben. Alle Jüngeren erlebten freie Wahlen erstmalig. Entsprechend hoch mit 93,3 Prozent war die Wahlbeteiligung – so eine hohe Rate wurde nie wieder erreicht.
Nach dem erst im Februar neu verfassten Wahlgesetz waren nur noch 400 statt bisher 500 Abgeordnete zu wählen. Jeder Wähler hatte nur eine Stimme, es gab keine Sperrklausel. Es bewarben sich 24 Parteien oder Listenvereinigungen. In die Volkskammer gelangten 17 Parteien, die sich in sieben Fraktionen sammelten. Weil sie vorbehaltslos die Wiedervereinigung versprach, hat die „Allianz für Deutschland“, ein Bündnis aus CDU, Demokratischem Aufbruch (DA) und Deutsche Soziale Union (DSU), 48 Prozent der Stimmen erreicht. Damit war der Auftrag der Wähler klar vorgegeben:
Das Parlament soll in freier Selbstbestimmung den Beitritt der DDR in die Bundesrepublik verhandeln und nach § 23 des Grundgesetzes die staatliche Einheit Deutschlands herstellen. Alle Menschen in der ganzen Welt dachten damals, dass dafür mehrere Jahre gebraucht werden. So auch wir neu gewählten Volkskammer-Abgeordneten.
3. Alltag in Berlin
Wir fuhren an jedem Dienstag um 4 Uhr mit dem Zug, später mit dem Auto, nach Berlin. Der Montag war der Arbeit im Wahlkreis vorbehalten. Es gab keine sitzungsfreien Wochen, wir tagten täglich, manchmal auch am Sonntag. Jeder Arbeitstag begann um 9 Uhr und endete selten vor Mitternacht, manchmal auch später. Den Sitzungssaal hatten die 163 CDU-Abgeordneten im Gebäude des heutigen Außenministeriums, das bis April 1990 vom Zentralkomitee der SED genutzt wurde.
Je zwei Abgeordnete teilten sich ein Büro gemeinsam mit ihren zwei Mitarbeitern, welche wir ab Mai 1990 beschäftigen durften. Heimwärts ging es frühestens am späten Freitagnachmittag. Untergebracht wurden wir im ehemaligen Bettenhaus von Stasi-Angestellten in der Ruschestraße neben dem Hauptsitz des damals entmachteten Ministeriums für Staatssicherheit in der Normannenstraße. Vier Abgeordnete teilten sich zwei Schlafräume und eine Duschkabine mit einer Toilette. Das Hauspersonal war noch von der alten Dienststelle. Ein Festnetz-Telefon gab es nur im Büro, ein Fax-Gerät gab es noch nicht.
Dafür wurden alle unsere 39 Plenartagungen live im Fernsehen übertragen, meist mit Einschaltquoten von mehr als 50 Prozent. Solche Verhältnisse sind heute unvorstellbar. Und für unsere Arbeit wurden wir von Böswilligen in Ost und West als „Laienspieler“ diffamiert, weil uns parlamentarische Erfahrungen fehlten. Dabei hatten wir in der DDR ja keinen Mangel an Politprofis. Aber denen haben wir ganz bewusst das Feld nicht überlassen, sie hatten das Land trotz ihrer unbegrenzten Macht in den Ruin geführt.
Ich hatte gleich in unserer ersten Fraktionssitzung gesucht, ob ich gleichgesinnte Bekannte erkenne. Und siehe da, ich entdeckte drei weitere Mitstreiter, die früher so wie ich zur Studentengemeinde an der Bergakademie Freiberg gehörten. Es waren Dr. Heinrich Douffet, Ulrich Klinkert und mein Vertrauensstudent Martin Clemens, aus meiner Sicht alles couragierte Sachsen. Ich fand das einen bemerkenswert hohen Anteil, der unterstrich, woher unsere Prägung kam. Als Studierende hatte uns unser engagierter Studentenpfarrer Cornelius Kohl zu christlichen und gleichzeitig kritisch und sozial denkenden Menschen mit Zivilcourage erzogen.
In der Volkskammer war ich Mitglied im Haushaltsausschuss und im Petitionsausschuss. Die wichtigste Aufgabe hatten wir mit der Bearbeitung des DDR-Haushaltes für das II. Halbjahr 1990, erstmalig nun in D-Mark. Die überzogenen Forderungen der Ministerien von mehr als 70 Milliarden D-Mark mussten auf die zugebilligten 63 Milliarden D-Mark reduziert werden.
Wir haben richtigerweise im Sozial- und im Bauministerium nicht reduziert, dafür im Verteidigungsministerium überproportional gekürzt. Den Protest des Ministers Rainer Eppelmann hat mein Kollege Reiner Krziskewitz abgebügelt mit der Frage, ob die Armee die Verteidigungsbereitschaft etwa gegen die Schweiz oder Schweden aufrechterhalten will, weil alle anderen Nachbarn mit uns befreundet sind.
In der CDU-Fraktion war ich Sprecher für den Südthüringer CDU-Arbeitskreis und Mitglied in den Arbeitskreisen Haushalt, Petitionen und Bauwesen. Einen Redebeitrag habe ich in den Plenartagungen nicht gehalten. Da waren andere ehrgeiziger, dafür wurde mir bestätigt, dass ich 1979 in der DDR-Zeit erfolgreich einem Anwerbeversuch der Stasi abgewehrt hatte.
4. Dunkles Kapitel
Es gehört zu der unrühmlichen Geschichte der Volkskammer, dass schon im März 1990 Bürgerrechtler den Vorwurf erheben konnten, dass IM der Stasi als Abgeordnete gewählt wurden.
Vor ihrer Wahl ließen sich Sabine Bergmann-Pohl und Lothar de Maizière überprüfen, es wurde keine Belastung festgestellt. Der Stasi-Untersuchungs-Ausschuss unter Leitung des Abgeordneten Joachim Gauck fand im September 1990 heraus, dass 55 Abgeordnete in sechs Kategorien mehr oder weniger belastet waren.
Günther Krause hat mir 2020 bestätigt, dass aus unserer CDU-Fraktion 25 Abgeordnete darunter waren. Ich kann bis heute nicht begreifen, weshalb sich diese Personen zur Wahl stellten und dann die Wahl auch angenommen haben. Ihnen musste von Beginn ihrer Stasi-Mitarbeit an bewusst gewesen sein, dass sie nicht unschuldig waren, denn sie hatten heimlich Unrecht begangen. Ich vermute, dass sie der letzten Lüge ihres Stasi-Führungsoffiziers aufgesessen waren, dass ihre Akte angeblich vernichtet worden sei.
Zu den unerfreulichen Ereignissen zählt auch der Proteststurm, der sich DDR-weit erhoben hat, als wir Volkskammerabgeordneten uns im Mai 1990 erstmalig Diäten genehmigten. Die 3600 (Ost)Mark waren offenbar in der damaligen Zeit unangemessen. Wir haben in der Öffentlichkeit viel Prügel dafür bezogen.
5. Leistungen in der Parlamentsarbeit
Das Parlament begann seine Arbeit in der zweiten Sitzung am 12. April 1990 mit einer Erklärung aller sieben Fraktionen zur deutschen Schuld am Holocaust und den östlichen Nachbarvölkern. Darin hieß es unter anderem:
„...Das erste frei gewählte Parlament der DDR bekennt sich im Namen der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zur Mitverantwortung für Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder. Wir empfinden Trauer und Scham und bekennen uns zu dieser Last der Deutschen Geschichte... Wir haben die furchtbaren Leiden nicht vergessen, die Deutsche im Zweiten Weltkrieg den Menschen in der Sowjetunion zugefügt haben. Diese von Deutschland ausgegangene Gewalt hat schließlich auch unser Volk selbst getroffen. Wir wollen den Prozess der Versöhnung unserer Völker intensiv fortführen. Unser Anliegen wird es daher sein, Deutschland so in ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu integrieren, dass unseren Völkern Frieden und Sicherheit garantiert sind....“ (Quelle: https://www.ddr89.de/vk/vk_Erklaerung.html )
Außerdem bat die Volkskammer um Entschuldigung für die Teilnahme der DDR an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und für ihre diskriminierende Politik gegenüber dem Staat Israel. Das Parlament erklärte feierlich, die entstandenen deutschen Grenzen zu allen Anrainerstaaten ohne Bedingungen anzuerkennen. Diese Erklärung vom 12. April 1990 erhielt in den folgenden sechs Monaten Bedeutung, weil sie das Vertrauen unserer Nachbarvölker und ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung von uns Deutschen sehr befördert hat.
Für die Verhandlungen zur deutschen Einheit war Eile geboten, denn auch nach dem 18. März nahm der Flüchtlingsstrom aus der DDR in den Westen zunächst nicht ab. Zudem war die unsichere Lage in der UdSSR bedrohlich. Keiner wusste, wie lange Gorbatschow an der Macht bleibt, immerhin standen noch 380.000 Soldaten der Roten Armee und 120.000 russische Zivilibeschäftigte und Familienangehörige in der DDR. Unser Ministerpräsident Lothar de Maizière hat in seiner Regierungserklärung deshalb einerseits den Grundsatz genannt: keine Sturzgeburt zur Einheit. Andererseits: verhandeln so schnell wie möglich, doch so gut und zukunftsfähig wie nötig. Es ging mir sehr nahe, als er von den Brüdern und Schwestern in der Bundesrepublik forderte, dass die Teilung nur durch Teilen überwunden werden kann.
In der Geschichte gibt es kein Vorbild für die ab 1. Juli wirksam gewordene Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Es war der erste große Vertrag zur Einheit. Ziemlich abrupt ist damit von der sozialistischen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft gewechselt worden. Viele haben damals und bis heute die Privatisierung der Treuhandanstalt kritisiert. Sie sollten daran denken, dass es unsere osteuropäischen Nachbarn viel schwerer hatten, weil sie solche Hilfe nicht erhielten. Uns ist es denen gegenüber recht gut gegangen. Trotz mancher Fehlentscheidungen in der Treuhand wurde die ehemalige DDR nicht zum Armenhaus Deutschlands, vergleichbar mit Sizilien in Süditalien und auch nicht zu einem Oligarchen-Unwesen wie in Russland. Beides hätte durchaus entstehen können.
Als zweiten wichtigen Vertrag in den Verhandlungen zur Wiedervereinigung hat die Volkskammer dem Einigungsvertrag zugestimmt. Mit etwa 2.000 Einzelfallregelungen sorgte er dafür, dass aus den Hoffnungen und Wünschen der Menschen der DDR Ansprüche und vor allem Rechte geworden sind. So hat es zehn Jahre später Lothar de Maizière gesagt. Die Verhandlungsführer Wolfgang Schäuble und Günther Krause sowie eine beeindruckend hohe Zahl von Beamten in den Ministerien haben dafür in kurzer Zeit intensive gute Arbeit geleistet.
Ein weiterer wichtiger Vertrag – allerdings ohne Mitarbeit der Volkskammer – war der am 12. September in Moskau abgeschlossene Zwei-plus-Vier-Vertrag. Er hat in vollem Einvernehmen mit allen unseren europäischen Nachbarn Deutschland die volle, uneingeschränkte Souveränität zurückgegeben.
Meist schon vergessen ist, was in der Volkskammer außer den genannten großen Verträgen noch alles beschlossen wurde. Es sei hier nur ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannt: Reduzierung der Arbeitsstunden-Woche von 43,75 auf 40 Stunden, Anhebung der Mindestrente von 330 auf 495 Mark, die Durchschnittsrente ist mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 auf 654 D-Mark und am 1. Juli 1991 auf 864 D-Mark gestiegen. Das Recht auf einen Kita-Platz und Kinder- und Erziehungsgeld in gleicher Höhe wie im Westen wurde Gesetz. Ein bitter nötiges Sofortprogramm für den Bau von Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen wurde verabschiedet.
Mit dem Kommunalgesetz und dem Kommunalwahlgesetz haben wir den unseligen Zentralismus abgeschafft und erste freie Kommunalwahlen sowie handlungsfähige Kommunalverwaltungen ermöglicht. Mit dem Ländereinführungsgesetz haben wir die 1952 in der DDR abgeschafften Bundesländer wieder geschaffen. So konnte unsere Heimat auch wieder ihre alten Namen tragen.
Die gesamte Rechtsprechung wurde demokratisiert, Legislative, Exekutive und Rechtsprechung wieder klar getrennt. Verwaltungsgerichte, Finanzgerichte, Sozialgerichte und Arbeitsgerichte wurden eingerichtet und ein Netz von Arbeitsämtern flächendeckend geschaffen. Für Ärzte und Anwälte wurde die Niederlassungsfreiheit wieder eingeführt.
Diese Leistungen beweisen, dass die Volkskammer – wo immer es in der Kürze der Zeit möglich war – viele Fehler der SED-Diktatur weggeräumt hat, Ordnung im Land gehalten hat und so gleichberechtigte Verhandlungen mit dem Partner Bundesrepublik über den Beitritt erreichen konnte. Unser Ministerpräsident Lothar de Maizière hat sich dafür als redlicher Anwalt aller Menschen in der DDR mit ganzer Kraft (und oft darüber hinaus) eingesetzt.
6. Der Beitrittsbeschluss
Die Volkskammer hat vom 22. August um 9.00 Uhr bis zum 23. August um 3.00 Uhr getagt und um den lange umstrittenen Termin zum Beitritt der DDR zum Bundesgebiet gerungen. Kein Bundeskanzler Kohl, kein Präsident Bush sen. und kein Präsident Gorbatschow und kein anderer auf der Welt, nur wir 400 Volkskammer-Abgeordneten konnten beschließen, gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beizutreten. So hatte es die „Allianz für Deutschland“ den Menschen in der DDR vor der Wahl im März versprochen. Und so wurde das Versprechen nach nur unvorstellbar kurzer Zeit von 157 Tagen eingelöst und nach nur 199 Tagen mit dem Tag der Einheit am 3. Oktober 1990 auch Realität.
Der Beitrittsbeschluss hatte folgenden Wortlaut:
„Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. Sie geht dabei davon aus, dass die Beratungen zum Einigungsvertrag zu diesem Termin abgeschlossen sind, die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen einen Stand erreicht haben, die die außen- und sicherheitspolitischen Bedingungen der deutschen Einheit regeln, die Länderbildung so weit vorbereitet ist, dass die Wahl zu Länderparlamenten am 14. Oktober 1990 durchgeführt werden kann.“
Lange war in den Beratungen der Fraktionsvorsitzenden, die während der mehrfachen Auszeiten im Plenarsaal stattfanden, neben dem Termin 3. Oktober strittig, wie man die damals noch offenen vier Bedingungen für den Beitritt (Abschluss des Einigungsvertrages, Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages, Länderbildung und Landtagswahlen) so formuliert, dass die handelnden nationalen und internationalen Personen nicht unter Druck gesetzt werden. Ich hörte zu und konnte ihnen den vermittelnden Satzteil vorschlagen, der im obigen Text unterstrichen ist. So ist er auch in den Beschluss eingegangen. Über diesen meinen Beitrag zum historischen Beitrittsbeschluss freue ich mich heute noch, er ist die wesentlichste Tat in meiner Volkskammerzeit gewesen. Ich habe sie mir auch am 2. Oktober 1990 noch mit Unterschrift vom Vizepräsidenten Dr. Reinhard Höppner bestätigen lassen, damit mir meine Enkel das auch glauben können.
Was ist noch festzuhalten aus der Volkskammerzeit? Dr. Reinhard Höppner hat es so gesagt: Der Fall der Mauer glich dem Bruch eines Staudammes. Wir standen vor der Aufgabe, nicht zu jammern, dass man das Wasser hätte langsamer ablaufen lassen müssen, sondern Sandsäcke zu schleppen, damit nicht alles überschwemmt wird. Und dann das Land wieder urbar machen. Das hat die Volkskammer geschafft, nicht fehlerfrei, aber engagiert und erfolgreich. Die Volkskammer hat ein gutes, großes Kapitel in der deutschen Geschichte des Parlamentarismus geschrieben. Und ich kann sagen: Ich bin dabei gewesen.
Aufgeschrieben in Vacha in der Rhön, am 3. April 2020 von Dr.-Ing. Hans-Peter Häfner, MdVK a.D. , MdL a.D.
Zitierweise: "Was meine Enkel von der Volkskammer im Jahr 1990 erfahren sollen“, Hans-Peter Häfner, in: Deutschland Archiv, 9.4.2020, Link: www.bpb.de/307586.
Ein weiterer Text von Hans-Peter Häfner - über Witze in der Endzeit der DDR:
Hans-Peter Häfner über "Wortgewalt" während der Friedlichen Revolution, eine persönliche Sammlung von Witzen und Parolen aus der Endzeit der DDR:
Die Kommunisten in der DDR hatten sich während ihrer 40-jährigen Herrschaft eine Funktionärssprache voller Phrasen zugelegt. Die meisten Menschen waren gegen solche bombastischen und gleichzeitig nichtssagenden Worthülsen allergisch geworden, weil sie darin die Realitätsferne der SED und deren Unfähigkeit zu Veränderungen erkannten. Nichts war es mit der angeblichen Einheit der Partei mit dem Volk. Die Politik war erkennbar für alle dem unbedingten Willen zum Machterhalt untergeordnet und scheute sich nicht, Gewalt gegen seine Bürger einzusetzen.
Wegen der Verweigerung von Reformen, wie sie beispielsweise in der Sowjetunion stattfanden, wegen Leugnens von nachgewiesenen Wahlfälschungen und den zunehmenden Versorgungslücken wuchs 1989 die Unzufriedenheit in der Bevölkerung weiter an. Deshalb wurde bereits vor und besonders während der Revolution die sprachliche Verständigung des Volkes mit den Herrschenden direkt, spontan und vernichtend. Blitzschnell reagierten die Menschen mit Sprache und Witz. Der DDR-Bürgerrechtler Ehrhart Neubert hat in seinem über 500 Seiten starken Buch „Unsere Revolution“ die Geschichte der Jahre 1989/90 aufgeschrieben und darin zur Funktionärssprache und zum Witz des Volkes berichtet. Ich habe daraus mit dem Einverständnis des Autors Beispiele für meinen Text entnommen und eigene Beobachtungen und Kommentare hinzugefügt.
Schon im Jahr 1976 protestierte der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz in Zeitz gegen die überhebliche Losung der Partei: „Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“. Seine Antwort plakatierte er an seinem Kirchturm: „Ohne Sonnenschein und Gott geht die ganze Welt bankrott“. Tragisch für ihn war der fehlende Schutz seiner Kirche und die Diffamierung als verrückter Wirrkopf durch SED-Funktionäre. Er hat sich am 18. August 1976 aus Protest auf dem Marktplatz in Zeitz selbst verbrannt. Sein Tod war nach meiner festen Überzeugung nicht vergebens, denn die Kirchenleitungen haben nach seiner Beisetzung ihre Schutzfunktion erkannt und meist auch wahrgenommen. Nur die Partei blieb starr und reformunfähig.
Der wichtigste Ideologe der SED, Kurt Hager, hat in einem Interview 1987 auf die Frage, ob es in der DDR ebenso wie in der Sowjetunion zu Reformen kommen werde, geantwortet: „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, ebenfalls neu zu tapezieren?“ Es brachte ihm sofort den Spottnamen „Tapeten-Kutte“ ein und 1989 forderten die Menschen dann „Tapetenwechsel“. Bekannt ist ja auch die Honecker-Satire Udo Lindenbergs vom Sonderzug nach Pankow. Auf die Verweigerung eines Auftrittes in Ost-Berlin sang der Rockmusiker: „Ich muss da eben mal hin und was klären mit Eurem Oberindianer, dem Erich Honecker.“ Die Jugend freute sich über das Lied, einreisen durfte Udo zunächst trotzdem nicht, erst nach langem Pokern hinter den Kulissen.
Erich Honecker wiederum erfand am 29. Dezember 1988 als Antwort auf verweigerte Perestroika die Formel: „Sozialismus in den Farben der DDR“. Da entstand sofort der Witz: „Sage mir ein anderes Wort für saure Gurke. Antwort: Banane in den Farben der DDR“. Und Honecker erklärte ohne Gespür für die Stimmung im Land am 19. Januar 1989: „Die Mauer wird noch in 50 oder 100 Jahren stehen, so lange wie die Bedingungen noch existieren, die zu ihrer Errichtung geführt haben“. Am 15. August 1989 äußerte er völlig unberührt von der Flucht so vieler Menschen in die Botschaften in Prag, Budapest und Warschau: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf!“. Am 2. Oktober 1989 erschien in der Parteizeitung Neues Deutschland ein von Honecker veranlasster und sogar mitformulierter Kommentar. Darin wird behauptet, die Fluchtwelle sei „stabsmäßig vom Westen vorbereitet“ worden, den Flüchtlingen, „die ihre Heimat verraten und die moralischen Werte mit Füßen treten“ solle man „keine Träne nachweinen“. Wie menschenverachtend und wie fern der Realität zeigte sich hier der oberste Repräsentant der DDR, als ihm vor allem die jungen Menschen und damit die Zukunft des Landes davonlief.
Die offizielle Propaganda wollte niemals die „Abstimmung mit den Füßen“ der Bevölkerung zur Kenntnis nehmen: Bis zum Mauerbau 1961 flohen 3 Millionen Bürger aus der DDR, danach bis 1989 trotz der strengen Grenzsperren 500.000. Seit 1984 beantragten jährlich 50.000 Menschen die Ausreise aus der DDR, 1987 waren es schon 100.000. Zunehmend durfte schneller ausreisen, wer mutig politisch aneckte – oder inhaftiert war. Die SED betrieb heimlich Menschenhandel. Ab 1964 wurden fast 34.000 Häftlinge an die Bunderepublik „verkauft“ und so 3,4 Milliarden Mark eingenommen. Dieses Ausmaß stellte sich erst nach der Wiedervereinigung heraus.
Politische Witze als Ventil
In den Jahren vor der Friedlichen Revolution erzählte man sich gern politische Witze. Hier eine Auswahl dieser Form von öffentlichem Gespött: „Welches System steht im Gegensatz zum sozialistischen System? Das Nervensystem!“ Denn die täglichen Kämpfe um den Frieden, die ständigen Siege, die politischen Schulungen, die Lügen der Medien und die Sprache der Funktionäre nervten die meisten Bürgerinnen und Bürger in der DDR. Gekontert wurde mit befreienden Zeilen wie diesen: „Heute wurde ein neues DDR-Staatswappen erfunden: Statt Hammer, Zirkel, Ährenkranz jetzt mit Nilpferd. Warum das? Dem steht das Wasser bis zum Hals und trotzdem reiß es das große Maul auf.“ Ironisch wurde auch gefragt: „Wann kommen endlich Reformen in der DDR?“ In Anspielung auf den für die Wirtschaft Verantwortlichen und Freund von Honecker, Günter Mittag, war die Antwort: „Das genaue Datum ist noch nicht bekannt, aber die Tageszeit: nach Mittag.“
In Dresden hing 1988 am Reiterstandbild von August dem Starken ein Plakat: „Lieber August, steig´ hernieder und regier´ uns Sachsen wieder, lass in diesen schweren Zeiten lieber unsern Erich reiten.“ Alle wochenlange Mühe der Stasi blieb ergebnislos, der Dichter wurde nicht gefunden.
Auch die folgenden politischen Witze aus der Endzeit der DDR bringen den Bürgerfrust von damals auf den Punkt: - „Es wird ein Konsortium aus USA, Sowjetunion und DDR zur Hebung der Titanic gegründet. Im Erfolgsfall beanspruchen die USA den Tresor mit Gold und Diamanten, die SU die Antriebsmotore, weil man am modernen Know-how interessiert ist und die DDR will die Kapelle, weil sie bis zuletzt gespielt hat.“
- Als der erste deutsche Kosmonaut Sigmund Jähn wieder auf der Erde gelandet ist, ruft ihn der DDR-Konsum sofort zum Vortrag mit dem Titel: „Wie verhalte ich mich in leeren Räumen?“
- Bei einem internationalen Chirurgen-Kongress kommt der berühmte Herzchirurg Christiaan Barnard aus Südafrika drei Stunden zu spät. Er entschuldigt das mit einer erneuten, sehr schwierigen Herzoperation. Der DDR-Chirurg kommt erst am zweiten Tag und entschuldigt sich mit einer komplizierten Mandeloperation. Auf die erstaunte Nachfrage erklärt er, dass in der DDR ja keiner die Schnauze aufmacht und er deshalb die Mandeln rektal entfernen musste.
- Finde einen Satz, der auch in der DDR zu allen Zeiten wahr ist! „Auch das geht vorüber!“
- In einem DDR-Eisenwarenladen will ein Mann einen Hammer. Haben wir nicht. Gut, dann will ich Nägel. Haben wir nicht. Was haben Sie denn heute? Geöffnet. Warum haben Sie geöffnet, wenn Sie nichts zu verkaufen haben? Weil wir kein Schloss für die Eingangstüre haben.
- Ein Mann meldet auf der Stasi-Kreisdienststelle, dass ihm sein Papagei entflogen ist. Die Stasi-Leute sind ungehalten, sie wären doch kein Zoo oder Fundbüro. Der Mann erklärt ihnen: Ich möchte ja nur zu Protokoll geben, dass ich die politischen Ansichten meines Papageis nicht teile.
Völlig unglaubwürdig machte sich die SED-Staatsführung mit erfundenen Horror-Meldungen. So erschien in der SED-Zeitung in Plauen am 22. August 1989 ein Leserbrief angeblich aus Stuttgart. Darin wurde geklagt über die schlechte soziale Lage im Westen und die Täuschung der Flüchtlinge, die mehrheitlich als Obdachlose auf der Straße enden. Die DDR wird als freies und soziales Land gelobt. Ein Unbekannter dichtete daraufhin: „Aus Stuttgart schrieb die Rote Tante, sie hätt`nen Haufen Ost-Verwandte Und könnt, es ist fast nicht zu glauben, ein Urteil sich dazu erlauben, wie frei man hierzulande lebt und fast im 7. Himmel schwebt, und käm sofort, hätt sie die Wahl, in Erichs großen Wartesaal. Die gute Frau, die würde lauschen, müsst sie mit uns die Wohnung tauschen, mit leerem Korb durch Läden hetzen und nicht von Weitem saudumm schwätzen. Das Ost-Geld in der Hand rumdrehen, den Intershop von außen sehen. Dann könnt sie hinterm Mond mal bellen und könnt ihr Auto hier bestellen. Sie braucht es auch nicht gleich zu kaufen und könnt noch 17 Jahre frei rumlaufen. Vom Schweizer Käs gibt`s nur die Löcher, nur Wodka gibt es noch und nöcher, die Butter schmeckt wie Sahnequark, das Pfund Kaffee kostet 40 Mark…. Ob Autobahn, ob Landesstraße, das Auto hoppelt wie ein Hase. Gar vieles ist hier nur Attrappe, wie unser Trabi alles Pappe…. Wer denkt, hier ist er im Geschick: Willkommen in der Republik!“. Absurd und gleichzeitig wie ein Witz aus dem real existierenden Sozialismus wirkt auch eine Meldung des Neuen Deutschlands vom 19. September 1989 über die angebliche Betäubung eines DDR-Mitropa-Kellners mit einer Menthol-Zigarette in Budapest und seiner Verschleppung nach Österreich. Diese Räuberpistole musste im November 1989 als Erfindung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zurückgenommen werden. Geglaubt haben sie nur wenige verbohrte Anhänger des Regimes. Wohin diese hilflosen Lügen führten, zeigt sich daran, dass allein im September 1989 30 000 SED-Genossen ihren Austritt aus der Partei erklärten. Und zu gleicher Zeit verweigerten immer mehr mutige Mitglieder in den Betriebskampfgruppen die Teilnahme an Bürgerkriegs-Übungen, die seit Frühjahr 1989 gegen angebliche Konterrevolutionäre und „kirchliche Kreise“ angesetzt worden waren.
Außer dem starren Festhalten an Reformverweigerung heizte die Stimmung weiter auf, dass die zahlreichen Anzeigen zu nachgewiesenen Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 nicht bearbeitet wurden. Im Gegenteil diffamierten und bedrohten die Staatsorgane die Einreicher. Immer deutlicher erkannten immer mehr Menschen, dass die Politik so nicht weiter gehen konnte. Eine revolutionäre Situation reifte heran.
Die Rolle der Heldenstadt Leipzig und ihrer Kirchen
In der Leipziger Nikolaikirche gab es schon in den Monaten zuvor jeden Montag Friedensgebete mit zunächst überschaubaren Teilnehmerzahlen. Am 4. September 1989 nahmen trotz Druck und Terror der Staatsorgane, das Gebet abzusagen, mehr als 1 000 Menschen teil. Superintendent Magirius predigte zur Losung: „Wer in der gegenwärtigen Lage auf Vernunft und guten Willen setzt, sucht das Gespräch, nicht ohne das Element, das Christus gestiftet hat: Versöhnung.“ Nach dem Gebet formierte sich ein Demonstrationszug, bei dem Losungen wie „Für ein offenes Land mit freien Menschen“, „Freie Fahrt nach Gießen“ , „Wir wollen raus“, „Stasi raus“, „Wir bleiben hier“ zu lesen oder zu hören waren. Verhaftet wurde niemand, weil Polizei und MfS überrascht waren und zudem wegen der Messe westliche Kamerateams präsent waren. Einzelne Transparente wurden zwar heruntergerissen, aber niemand verhaftet.
Nach der Messe, zum nächsten Friedensgebet am 11. September war die Kirche überfüllt, aber diesmal führte die Polizei mehrere Hundert Menschen ab, gegen 19 Personen wurden im Schnellverfahren Geldstrafen ausgesprochen und 22 Personen wegen „Zusammenrottung“ (§ 217 StGB) zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt. Die Leipziger waren empört und organisierten in einer Solidaritätswelle tägliche Fürbitten in mehreren Kirchen. Am 18. September haben sich wieder mehrere Tausend versammelt. Pfarrer Wonneberger verlas die Namen der Inhaftierten und predigte über die Posaunen von Jericho (Josua 6.1-21): „So wie es schon immer war, so soll es nicht bleiben. Für alle wollen wir ein Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden“. Wieder nahm die Polizei 31 Personen fest, 8 Teilnehmer erhielten mehrmonatige Haftstrafen.
An den drei Septembergebeten hat sich die Bevölkerung von Woche zu Woche stärker beteiligt. Am 25. September setzten die Sicherheitsorgane 1 500 Kräfte ein und sperrten die Innenstadt ab. Trotzdem kamen wieder über 6 000 Menschen, obwohl eine Eskalation der Gewalt drohte. Die Predigt hatte Gewaltlosigkeit zum Thema: „Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen“ und „Wer andere willkürlich der Freiheit beraubt, hat bald selbst keine Fluchtwege mehr“. Diesmal wurden nur wenige Teilnehmer verhaftet. Die Menschen verloren ihre Angst, hielten sich gegenseitig an den Händen und sangen das Lied der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung „We shall overcome“. Der Bogen wurde noch weiter gespannt mit dem Schlachtruf der Französischen Revolution von 1789 „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und dem Gesang der Internationale: „Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“. Viele Leipzigerinnen und Leipziger skandierten: „Freiheit! Neues Forum zulassen!“ und „Am Montag sind wir wieder da!“ Die verärgerte SED ließ daraufhin in die Zeitung schreiben: „Wir sprechen diesen Elementen das Recht ab, für ihre Zwecke Lieder und Losungen der Arbeiterklasse zu nutzen.“ Sie hatte nicht begriffen, dass mit der ersten Massendemonstration die Revolution im Herbst 1989 begonnen hatte. Leipzig hat zu Recht durch diesen Aufstand und die noch folgenden Ereignisse den Titel „Heldenstadt“ erworben.
„Wir sind das Volk“
Am 2. Oktober fanden die Friedensgebete schon in zwei überfüllten Kirchen statt, obwohl durch Befehle von Honecker und Vorbereitungen des MfS Demonstrationen vor dem 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober auf jeden Fall verhindert werden sollten. An der Demonstration beteiligten sich weit mehr als 10.000 Menschen. Die Polizei verletzte und verhaftete durch Einsatz von Hunden, Schilden und Schlagstöcken viele Teilnehmende. Trotzdem riefen die Demonstrierenden ihre Losungen: „Schließt Euch an, wir brauchen jeden Mann!“, „Keine Gewalt! Kein neues China!“, „Wir sind keine Rowdies!“. Spontan entstand die Losung: „Wir sind das Volk!“, als Menschen in einem Polizeikessel auf die Durchsage reagierten „Hier spricht die Volkspolizei…“.
Damit, so beschreibt es auch Erhart Neubert, hatte die Revolution ihren Logos hervorgebracht. Die Bürger traten aus der Untertanenrolle heraus, sie bestritten die Legimitation des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaates und ernannten sich selbst zum Souverän. Sie gingen in die Offensive, die Losung „Wir sind das Volk“ wurde in alle Bürgerversammlungen der Revolutionszeit 1989/90 weitergetragen. Friedensgebete wurden ab September organisiert, so am 18. September1989 in Magdeburg, am 20. September in Nordhausen und am 22. September in Gotha. Vom 3. bis 8. Oktober 1989 kam es entlang der Bahnstrecken, auf denen die Botschaftsflüchtlinge aus Prag in die Bundesrepublik ausreisen durften, in Dresden und ganz Sachsen zu Gewalt und Verhaftungen, weil viele Menschen auf die Züge aufspringen wollten. Der Terror spricht sich schnell herum, überall in der DDR treffen sich nun trotz der Gewalt und der Drohungen der Mächtigen erregte Menschen zu Friedensgebeten, Protesten und Demonstrationen. Wie ernst die Lage war, beschreibt Ehrhart Neubert mit dem Friedensgebet eines 17-Jährigen aus Magdeburg: „Guter Gott, Vater im Himmel, ich bete jetzt für meinen Vater, der irgendwo in der Nähe des Domes mit anderen von den Kampfgruppen auf einem LKW sitzt und auf Befehle wartet. Verhindere, dass ein Schießbefehl gegeben wird.“ Und manche verloren dabei trotzdem nicht ihren Witz: „Ach wär ich doch ein Pflasterstein, dann könnt ich schon im Westen sein“ war ein gerne zitierter Spruch als Reaktion auf den hemmungslosen Export von Benzin, Textilien, Kunstschätzen und selbst Pflastersteinen.
In Ostberlin druckte ein „Verein der Wehrdiensttotalverweigerer“ 7.000 „Geburtstagsgeldscheine“ mit der Aufschrift „Vierzig Quark der Deutschen Desinfizierten Republik“. Herausgeber war eine „Staatspunk der DDR - 40 Jahre Ruhe und Ordnung“. Und es gab noch den Hinweis: „Hierfür bekommt man nichts. Für die anderen Scheine aber auch nicht.“ Am 7. Oktober 1989 zum Staatsfeiertag gab es eine gewaltige Militärparade, ein Auszeichnungs- und Ordensregen ergoss sich über die Republik. Die Mahnung des hohen Gastes aus der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, zu dringlichen und schnellen Reformen wandelte der Volksmund sofort in die griffige Losung um: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“
Der Höhepunkt der Bürgerproteste und Demonstrationen war am 9. Oktober wieder in der Stadt Leipzig. Die Stimmung wirkte unheimlich angespannt. Es waren 6.000 Bewaffnete mit Wasserwerfern, Schützenpanzerwagen und Maschinengewehren bereitgestellt, Betriebskampfgruppen und linientreue Zivilisten sollten helfen, Demonstrierende einzuschüchtern. Als aber nach den Friedensgebeten die Menschen aus den Kirchen strömten, waren es 70.000 Demonstranten, die über den Innenstadtring zum Hauptbahnhof zogen. Bei diesen vielen Menschen wäre dem Staat nur die Option geblieben, willkürlich in die Menge zu schießen. Dafür wollte – Gott sei Dank – keiner den Befehl geben. Honecker war nicht erreichbar, Egon Krenz schlug sich in die Büsche. Der Dirigent des Gewandhauses Kurt Masur hat in einem Aufruf zur Gewaltlosigkeit, die er mit fünf anderen namhaften Leipzigern verfasste, maßgeblich zum glücklichen Ausgang beigetragen. Er beschrieb später dieses Ineinander von Angst und Mut der Leipziger: „Die Menschen sind in Todesangst auf die Straße gegangen. Man hätte ja ihnen vorher sagen können: Wir sprechen mit Euch, wir tun nichts. Das hat man nicht getan, man hat gehofft, dass allein die Drohung ausreichen würde, um die Menschen wieder zur Raison zu bringen. Und allein das war ein Verbrechen, allein das war unmenschlich.“
Die Demonstration wurde heimlich von einem Berliner, dem Kameramann Siegbert Schefke, unter abenteuerlichen Umständen gefilmt und am Folgeabend im bundesdeutschen Fernsehen gezeigt. Am folgenden Montag erschienen zur Demonstration in Leipzig sogar 120.000 Menschen, wieder eine Steigerung. Die SED bot jetzt nach ihren schweren Niederlagen viel zu spät an: Wir stellen uns dem Dialog. Das Volk antwortete sarkastisch: „Ulbrich log, Honecker log, Krenz log, nun Dialog!“.
Der erzwungene Rücktritt von Honecker am 17. Oktober 1989 „aus gesundheitlichen Gründen“ brachte durch die Wahl des Kronprinzen Krenz keine Entlastung. Ihm, der noch im Sommer das chinesische Massaker an Studenten begrüßt hatte, wurde keine Wende zu einer neuen Politik zugetraut. Als er in seiner Antrittsrede die DDR-Bevölkerung als „liebe Genossinnen und Genossen“ grüßte, erntete er Spott und Gelächter. Die Antwort der Demonstrierenden waren Losungen wie: „Wende um 360 Grad - Ohne uns!“, „Wir sind keine Fans von Egon Krenz“, „Egon allein, das darf nicht sein“.
Immer größere und kreativere Proteste
Die weitgehend friedlich verlaufenden Proteste nahmen zu. Die Stasi registrierte vom 16. bis zum 22. Oktober 1989 bereits 24 Demonstrationen mit 140.000 Teilnehmenden und vom 23. bis zum 30. Oktober 1989 sogar 140 Demonstrationen mit 540.000 Teilnehmenden Immer häufiger wurden brennende Kerzen mitgeführt und zum Symbol für die Friedliche Revolution. Es wurde auch in Betrieben, vor allem in Sachsen und Thüringen, gestreikt. Das MfS meldete im Oktober 206 solcher Ereignisse. Die Losungen waren zuerst bitter ernst, dann befreit und oft witzig. Hier einige Beispiele: Nach „Keine Gewalt!“ und „Gebt die Straße frei!“ kam „Erich geh`, uns tut`s nicht weh“ und „Egon ist nicht unser Mann“, dann „Krenz-enlose Freiheit“, „Freie Wahlen!“, „Demokratie - jetzt oder nie!“, „Die führende Rolle dem Volk!“, „Von der Sowjetunion lernen, heißt „siechen“ lernen“, „Lieber saubere Flüsse als Schwarze Kanäle“ in Anspielung auf die Sendungen des verhassten TV-Agitators der SED, Karl-Eduard v. Schnitzler, vom Volksmund damals wegen seiner Propagandasprache auch „Sudel-Ede“ genannt.
Am 4. November 1989 fand die größte Demonstration in der Geschichte der DDR auf dem Alexanderplatz in Berlin mit über 500.000 Teilnehmern statt. Künstler hatten sie beantragt und das DDR-Fernsehen übertrug live, ein Novum. Mit zahllosen selbst gemachten Plakaten entstand ein wahres Sprachgewitter der Revolution. Sie wurden fast alle gesammelt und aufbewahrt, in Berlin und Bonn waren sie 1990 in Ausstellungen zu sehen. Hier wieder eine Auswahl: „Zirkus Krenz - die Vorstellung ist aus!“, „Krenz Xiaoping? Nein, danke!“, „Wenn Egon von Reformen spricht, vergesst die 7 Geißlein nicht!“, „Freie Wahlen statt falsche Zahlen!“, „SED in die Opposition!“, „130.000 Stasi-Knechte haben keine Sonderrechte“, „Rechtssicherheit spart Staatssicherheit!“. Das meistfotografierte Plakat zeigte Egon Krenz mit Haube als Wolf im Bett der Großmutter. Darunter stand die Frage von Rotkäppchen: „Großmutter, warum hast Du so große Zähne?“
Am gleichen Tag wurde in fast 50 weiteren Städten demonstriert. In Leipzig kamen am 6. November 400.000 Menschen zusammen, fast 70 Prozent der Leipziger Einwohnerschaft. Die Forderungen nach Veränderungen wurden so radikal, dass für bloße Reformen kein Spielraum blieb. Egon Krenz opferte durch erzwungene Rücktritte viele seiner Genossen und suchte politische und wirtschaftliche Hilfe bei Michail Gorbatschow. Doch das konnte die Vertrauensverluste nicht mehr wettmachen, auch die Forderungen auf den Demos drückten das aus, zum Beispiel: „Vorwärts zu neuen Rücktritten!“ Eine ganze Serie von Pannen führte dann am 9. November zum bislang unvorstellbaren und eigentlich auch nicht beabsichtigten Fall der Mauer. Über diese Sternstunde in der deutschen Geschichte ist so oft berichtet worden, dass sie fast alle Deutschen kennen. Man kann nur dazu bemerken, was alle damals fühlten: W a h n s i n n !
Die nächsten Wochen waren Reisezeit, allein am 12. November besuchten vier Millionen DDR-Bürgerinnen und -Bürger den Westen. Mehr als 1 Milliarde D-Mark wurden mit den 100 D-Mark Begrüßungsgeld an die 10 Millionen Besucherinnen und Besucher ausgezahlt. Innerhalb der DDR wurden Amtsmissbrauch und Privilegien der SED-Nomenklatura öffentlich. Es empörte besonders, dass die hochbezahlten Funktionäre in ihrem Hochsicherheitswohngebiet Wandlitz für Ost-Mark hochbegehrte und für sie extra noch verbilligte Westwaren einkaufen konnten. Die „verdorbenen Greise“, so nannte Wolf Biermann sie in einem seiner Lieder - sollen auch Porno-Filme erworben haben, ergab sich aus Dursuchungsprotokollen der DDR-Staatsanwaltschaft, die 1990 im Spiegel veröffentlicht wurden.
Die Oppositionsgruppen in der DDR hatten nach dem Mauerfall leider keine ausgereiften Konzepte für eine Politik ohne SED. Losungen dieser Zeit zeigten nur Einigkeit gegen die Modrow-Regierung: „Trotz Reisen lassen wir uns nicht bescheißen!“, „So lange die SED regiert, so lange wird noch demonstriert“. Da gab der 10-Punkte-Plan von Helmut Kohl den Menschen endlich eine realistische Perspektive. Neu kamen sofort Losungen auf: „Wir brauchen die Einheit!“ und die Wandlung der bisherigen Forderung „Wir sind das Volk!“ zu: „Wir sind e i n Volk!“. Die Macht des MfS zerbrach und die Angst vor der DDR-Geheimpolizei verflog, als der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, sich lächerlich machte mit seiner stammelnden Rede in der Volkskammer: „Ich liebe Euch doch alle!“. Die Stasi begann, ihre Akten zu vernichten. Ab 4. Dezember 1989 besetzten die Bürger die Stasi-Dienststellen fast überall im Land. Losungen lauteten: „Mahnwachen gegen die Vernichtung von Beweismitteln“, „Sollen die Menschen im Lande bleiben, muss man Stasi und Kampfgruppen vertreiben“. Auch gesungen wurde: „So ein Tag, so wunderschön wie heute, so ein Tag, der dürfte nie vergeh`n.“
Die Bürgerbewegung setzt einen „Runden Tisch“ durch. Er musste konsolidierend das Machtvakuum verwalten. Ministerpräsident Hans Modrow nutzte diese Zeit, um seinen Getreuen in SED und MfS mit großzügigen Abfindungen und Kauf von Volkseigentum zu Billigpreisen in neue Existenzen zu bringen. Die Auflösung des MfS wurde verzögert, die Aktenvernichtung jedoch fortgesetzt. Das empörte viele, die über Weihnachten fast eingeschlafenen Demos erhielten wieder Zulauf. Die Losungen zeigten es: „2 Montage nicht auf der Straße - schon hebt die SED die Nase“, „Haut die Roten auf die Pfoten“ , „Es wird langsam zur Qual, wir brauchen im März die Wahl“.
Wahlkampf mit überraschendem Resultat
Genau das beschloss der „Runde Tisch“ und dann begann ein Wahlkampf, wie ihn DDR-Bürger noch nie erlebt hatten. Die Republik hing voller bunter Plakate. Die CDU warb: „Nie wieder Sozialismus!“, „Wohlstand für alle!“. Die SPD meinte: „Liebe CDU, wer gestern noch Blockflöte übte, kann heute nicht die erste Geige spielen.“ Die Grünen plakatierten: „§ 23-kein Anschluss unter dieser Nummer!“ und die PDS warb: „Für die Schwachen eine starke Opposition.“ Einig im Konkurrenzkampf waren sich alle neugegründeten Parteien gegen die PDS: „Partei Der Stasi“, „Pleite Durch Sozialismus“, „Lügen haben kurze Beine, Gysi, zeig uns doch mal Deine!“, „Es geht nicht um Bananen, es geht um die Wurst!“. In einer Umfrage am 6. Februar 1990 war die SPD mit 59 Prozent quasi schon Wahlsieger, die PDS landete mit 12 Prozent vor der CDU mit 11 Prozent, Neues Forum und Liberale lagen abgeschlagen bei vier und drei Prozent. Am Wahlabend am 18. März 1990 sah es anders aus. Es gab eine sensationelle und nie wieder erreichte hohe Wahlbeteiligung von 93,2 Prozent. Das war nicht verwunderlich, freie und geheime Wahlen gab es letztmalig 1932 bei einem Wahlalter von 21 Jahren. Alle DDR-Bürger, die jünger als 79 Jahre waren, wählten erstmalig frei und geheim und taten das zahlreich. Das Ergebnis überraschte: das Bündnis „Allianz für Deutschland“ erreichte 48,4, die SPD 21,9, die PDS 16,4 und die Revolutionäre der ersten Stunde nur enttäuschende 4,9 Prozent. Am 12. April 1990 bildete Lothar de Maiziere (CDU) in der Volkskammer eine große Koalitionsregierung. Sie stellte die Weichen für die Vereinigung der zwei deutschen Staaten am 3. Oktober 1990. Das erfolgte im Einvernehmen mit der Bundesrepublik Deutschland, mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges und mit allen europäischen Nachbarländern. Die Friedliche Revolution in der DDR war vorbei, sie mündete ein in eine demokratisch, frei und geheim gewählte Regierung. Nun war auch die Zeit der DDR-Witze vorüber.
Zitierweise: Hans-Peter Häfner, „Flucht aus dem Nervensystem", in: Deutschland Archiv, 25.07.2020, Link: www.bpb.de/307586
Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden in den nächsten Wochen folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Der Bergbau-Ingenieur Hans-Peter Häfner stammt aus Schmalkalden.1990 war er CDU-Abgeordneter in der letzten DDR-Volkskammer und gehörte danach dem Thüringer Landtag bis 1999 an. Bis 2009 war er für die CDU Vorsitzender des Stadtverbands Vacha sowie Mitglied des Stadtrats und des Kreistags.
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