Am 17. März 2020 ist Dr. Gisela Helwig gestorben. Meine ehemalige Kollegin hat fast 40 Jahre, ihr ganzes Berufsleben, in der Redaktion des „Deutschland Archivs“ verbracht, der in Köln gegründeten, wichtigsten westdeutschen Fachzeitschrift für das Mit- und Gegeneinander der beiden Staaten in Deutschland. Zusammen mit der Chefredakteurin Ilse Spittmann-Rühle prägte sie in bemerkenswerter personeller Kontinuität das DA – zu Zeiten der Teilung bis in die Jahre der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR. Den Tag des Mauerfalls erlebten beide in Berlin. Mit der Vereinigung im Jahr darauf erfüllte sich ein Traum von Spittmann und Helwig. Das DA wurde gesamtdeutsch.
Gisela Helwig, 1940 in Essen geboren, kam 1965 in die Redaktion. Damals hieß das DA noch „SBZ-Archiv“. Hier fand sie das Thema für ihre Dissertation, die 1974 mit dem Titel „Zwischen Familie und Beruf – Die Stellung der Frau in beiden deutschen Staaten“ im Verlag Wissenschaft und Politik erschien. Dorthin war 1969 auch das im Jahr zuvor gegründete DA gewechselt.
Gisela dachte immer gesamtdeutsch, akzeptierte die Teilung nie. Rasch spezialisierte sie sich auf die vermeintlich „weichen“, doch in Wirklichkeit so harten gesellschaftspolitischen Themen – stets in beiden Teilen Deutschlands: Jugend und Familie, Erziehung und Bildung, Sozial-, Kirchen- und natürlich Frauenpolitik, bereits in einer Zeit, als sich die Neue Frauenbewegung erst formierte. Damit betrat sie in vielfacher Hinsicht Neuland und setzte Maßstäbe.
Liest man ihre Kommentare und Analysen im DA sowie die Ausgaben der „Edition Deutschland Archiv“ und ihre Tagungsbeiträge heute nach, so ist es verblüffend, wie zeitlos gültig ihre Beobachtungen und Befunde über den Charakter der SED-Herrschaft und deren vermeintliche „Errungenschaften“, aber auch über den Zustand der Sozialpolitik im Westen, geblieben sind. Dabei gab es bis zum Ende der DDR kaum eine Möglichkeit, Forschungsergebnisse mit Archivstudien zu begründen und zu untermauern. Ihr nachdrückliches Plädoyer für den allzu oft unterschätzten Wert veröffentlichter Quellen und deren Kritik für die Wissenschaft klingt mir bis heute im Ohr. Wer wissen wollte, konnte wissen.
Mein erster Arbeitstag im Deutschland Archiv war Mittwoch, der 1. April 1992. Mit der Straßenbahn fuhr ich vom Hauptbahnhof in den Süden der Domstadt, nach Bayenthal in die Goltsteinstraße. Hier, in einer etwas abgelegenen, schönen Nachkriegsvilla mit verwunschenem Garten, sollte die weltoffene und zahlenmäßig so kleine Zentralredaktion der westdeutschen DDR-Forschung arbeiten? Welch ein Kontrast zum langjährigen Forschungsgegenstand des DA, etwa, wenn man die Redaktion mit vergleichbaren Einrichtungen in Ost-Berlin verglich. Besucher aus den Staaten des Ostblocks, so berichteten mir meine Kolleginnen, waren seinerzeit felsenfest überzeugt davon, dass in den oberen Etagen der „Feindzentrale“, wie das DA in Akten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR tituliert wurde, der Bundesnachrichtendienst wachte.
Ich war neben der leider längst gestorbenen Redaktionsassistentin Christel Marten, meiner Chefin Ilse Spittmann und Gisela Helwig die Nummer 4 in der Redaktion. Noch ein halbwegs junger Mann, ließ ich mich von der Alters- und Geschlechterdisparität nicht schrecken. Es begannen fabelhafte Lehrjahre. Sie ließen mich machen – und ich machte, konnte mich als Redakteur, als „Quotenmann“ (G.H.), behaupten. Dafür bin ich meinen Kolleginnen bis heute dankbar.
„Sie können sofort loslegen“, meinte Gisela – das „Du“ war damals längst nicht so verbreitet wie heute –, und drückte mir an jenem ersten Morgen einen fast mannshohen Stapel von Büchern und „grauen“ Publikationen in die Hand, die ich umgehend zu annotieren und rezensieren hatte. „Und um halb eins gibt es Mittagessen. Wir kochen reihum.“
Kartoffelschälen neben gebundenen Jahresbänden „Neues Deutschland“, Kaffeetrinken unter Ulbrichts mehrbändiger „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ und der gesammelten „Einheit“, dem SED-Ideologieorgan: was für ein Arbeitsklima, dachte ich. Und dazu monatlich ein Klebeumbruch des neuen Heftes, schwielige Scherenfinger, schwarze Prittstiftdaumen, eilig gefaxte Autorinnenkorrekturen, hastig in die elektrische Schreibmaschine gehauene Ergänzungen, die Büroluft tippexschwer – was für eine Zeit, noch ganz ohne Handys oder gar Computer.
Gisela traute mir – wie sich selbst – schon bald alles zu. Anders hätten wir auch gar nicht arbeiten können. Feste Arbeitszeiten gab es nicht, wir arbeiteten immer und überall. Und gefeiert haben wir, gerne und oft, in der Adventszeit traditionell mit illustren Gästen. Ilse und Gisela kannten sie alle, waren befreundet mit ihnen, stellten sie mir vor: Wolfgang Leonhard und Erich Loest, Manfred Jäger und Maria Haendcke-Hoppe-Arndt, Carola Stern und Karl Wilhelm Fricke, Gerda und Hermann Weber, Sabine Brandt und Peter Jochen Winters, die Liesers, Fritz Schenk und Peter Bender. Als die Redaktion schon bald in die Keltenstraße im schönen Rodenkirchen zog, waren wir ein echtes Team. Die DDR-Forschung boomte nach der Öffnung der Archive im Osten. 1995 übernahm Gisela Helwig die verantwortliche Redaktionsleitung, als meine verehrte Chefin Ilse Spittmann den Ruhestand antrat.
Heute besteht das „Deutschland Archiv“ noch immer, längst als multimediales Onlineportal der bpb, mit einem Jahresband in der „Schriftenreihe“, gedruckt wie digital, wie es sich gehört. Mein Kontakt zu meiner Kollegin und späteren Chefin Gisela Helwig blieb eng, als ich Anfang 2003 in die Bundeszentrale für politische Bildung wechselte. Und Gisela blieb dem DA jahrelang als Beirätin erhalten.
Im letzten Lebensjahrzehnt führte sie den Kampf gegen eine schwere Krankheit. Gewinnen konnte sie ihn nicht. Danke, liebe Gisela, für alles. Ich habe unendlich viel von Dir gelernt.
Hans-Georg Golz
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