Pünktlich zum 30. Jahrestag des Mauerfalls hielt im September 2019 auf Grund einer umfassenden Reform der französischen Oberstufe, dem Lycée, eine neue Lehrbuchgeneration für den Deutschunterricht in Frankreich Einzug in die Klassenzimmer. Das Mauerfall-Jubiläum war in der französischen Öffentlichkeit sehr präsent. Die neuen Lehrwerke thematisieren die Geschichte Deutschlands im Allgemeinen und die der Deutschen Demokratischen Republik (fortan DDR) eher am Rande. Die DDR wird als ein „verschwundenes Land“ dargestellt, auf dessen Spuren die Deutschlernenden dennoch hier und da treffen. Dies erinnert teilweise an das Vorgehen des französischen Historikers Nicolas Offenstadt in seinem gleichnamigen Werk über die Spuren der DDR im heutigen Ostdeutschland.
Von politischer Inexistenz zum „sozialistischen Paradies“
Bis Ende der 1950er Jahre, die Zeit der diplomatischen Nichtanerkennung der DDR seitens Frankreichs,
Die Teilung Deutschlands und die Existenz der DDR wurden den jungen Französinnen und Franzosen vorenthalten. Es dominierte das Deutschlandbild vom Beginn des 20. Jahrhunderts, das die nationale Mythologie als Ausdruck der „Kollektivseele“ des deutschen Volkes interpretierte. Dies war unter anderem der Betonung der sogenannten „klassischen“ Bildung in den Lehrplänen geschuldet.
Die Buchausgabe für die Abschlussklasse thematisierte politische Aspekte zur DDR und ihren gesellschaftlichen Realitäten. Dabei war ganz selbstverständlich von der „Deutschen Demokratischen Republik“ die Rede. Daraus ist zu schließen, dass die Autoren die DDR bereits vor der offiziellen Anerkennung seitens der Französischen Republik als selbstständigen Staat betrachteten. Chassard und Weil versuchten so, das mythische, kulturelle Deutschland mit den neuen Realitäten zusammenzubringen, und positionierten sich indirekt als Mitstreiter der ostdeutschen Anerkennungspolitik. Somit trugen sie zur Etablierung der DDR als staatliches Alternativmodell zur Bundesrepublik und zum Kapitalismus im französischen Diskurs bei. Ihr Lehrwerk war mehrere Jahrzehnte eine Referenz bei der zentralen Deutschlehrerprüfung und prägte das DDR-Bild mehrerer Lehrergenerationen.
In den 1970er Jahren wandelten sich die Darstellungen erneut und kamen einer Reise in ein „sozialistisches Paradies“ gleich. In Folge der diplomatischen Anerkennung der DDR 1973 erschien der Staat in den Schulbüchern nun gleichberechtigt neben der Bundesrepublik. Der Bau der Berliner Mauer im Jahr 1961 hatte die Wahrnehmung einer breiten französischen Öffentlichkeit für die Existenz des zweiten Deutschlands geschärft und der DDR einen flächendeckenden Einzug in die Lehrbücher ermöglicht. Die deutsche Teilung wurde jetzt in den Kapiteln zur Politik und Wirtschaft überwiegend als politisches Konstrukt erwähnt. Dabei entwarfen auffällig viele Texte aus offiziellen Regierungsbulletins der DDR ein positives und idealisiertes Bild des Landes ohne Kontextualisierung.
Auszüge aus dem Grundgesetz wurden kommentarlos Passagen aus der DDR-Verfassung gegenübergestellt und vermittelten so beispielsweise den Eindruck, die Presse- und Meinungsfreiheit sei auf beiden Seiten garantiert gewesen. Der diktatorische Charakter wurde – wenn überhaupt – beiläufig erwähnt, die DDR-Propaganda dagegen wortwörtlich übernommen. Dies war einerseits das Resultat einer gezielten Imagekampagne der DDR in Frankreich. Auf der anderen Seite hatte die DDR einen anderen Stellenwert an den Universitäten. Denn die französische Germanistik hatte 1966 die gegenwartsbezogene Landeskunde als offiziellen dritten Lehrbereich in dem Fach eingeführt. Zudem sahen kommunistisch geprägte Historiker oder Germanisten wie Gilbert Badia und Georges Castellan in der DDR „eine Utopie, ein Gegenbild zur Bundesrepublik“.
Von der gescheiterten Utopie zum Unrechtsstaat?
Quantitativ wie in der Differenziertheit der Darstellung nahm die DDR in den Lehrbüchern der 1980er Jahre die gleiche Stellung wie die Bundesrepublik ein. Diese breitere Perspektive entsprach den veränderten Beziehungen zwischen der DDR und Frankreich nach der Unterzeichnung des Kulturabkommens am 16. Juni 1980 einerseits und den Beschwerden des bundesdeutschen Auswärtigen Amtes andererseits. Letzteres war bezüglich einer aus seiner Sicht zu DDR-freundlichen Darstellung im französischen Schul- und Hochschulunterricht besorgt und forderte ein korrigiertes und aktualisiertes Deutschlandbild ein.
Daher wurden nun auch in der Bundesrepublik rezipierte „Vorzeigeautoren“ aus der DDR wie Christa Wolf, Anna Seghers oder Christoph Hein aufgenommen und Themen wie „Republikflucht“ angesprochen.
Ende der 1980er Jahre verstärkte sich die Tendenz zum kritischen Blick auf beide deutsche Staaten. In dem Schulbuch mit dem Titel „Ja, aber...“ fanden sich wiederholt Ausschnitte aus Isolde Heynes Jugendbuch „Treffpunkt Weltzeituhr“ (1984). Die 1979 in die Bundesrepublik übergesiedelte Autorin verarbeitete darin ihre Flucht. Über die Romanfigur Inka blickten die französischen Schülerinnen und Schüler nun mit den Augen einer Ostdeutschen auf den Westen. Inka hatte die DDR verlassen und war zunächst mit dieser „neuen“ Welt überfordert.
Ein Artikel aus dem bundesrepublikanischen Jugendmagazin „Scala“ gab einen Einblick aus westdeutscher Perspektive in die Lebensrealität eines jungen ostdeutschen Pärchens zwischen Wohnungsknappheit und Überwachungsstaat. Das Lehrbuch präsentierte somit über die Auswahl der literarischen und journalistischen Texte ein wesentlich realistischeres DDR-Bild als seine Vorgängergenerationen und vermittelte so die unterschiedlichen Lebenswelten der Deutschen. Die völlige Idealisierung wurde auf Grund der allmählichen Öffnung der DDR gegenüber dem Westen aufgegeben. Auch wenn die Darstellung tendenziell positiv blieb, entstand nun das Bild einer gescheiterten Utopie. Nach dem Abschluss des Kulturabkommens konnten die zukünftigen Lehrkräfte im Rahmen von Universitätspartnerschaften in die DDR reisen oder an dem Programm „séjours travail-loisirs“ teilnehmen und bei solchen Arbeits- und Freizeitaufenthalten ihre Sprachkenntnisse verbessern.
Bei der Betrachtung der Lehrbücher nach der „Wende“ ab 1990 ist zunächst festzuhalten, dass die mit der umfassenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche einhergehende Umstellung von Input- zu Output- und Kompetenzorientierung in der Schulbildung auch in den französischen Deutschbüchern zu beobachten ist. Die Aufgabe der traditionellen Bildungsziele und eine deutlich stärkere Kommunikationsorientierung lassen sich aus allen Lehrwerken ab 1990 ablesen.
Hinzu kommt das Narrativ des „Unrechtsstaats“ und die Darstellung des Lebens in einer Diktatur, womit erneut ein deutlicher Wandel feststellbar ist. Die innerdeutsche Grenze wurde an Einzelschicksalen erfahrbar und die DDR zum Beispiel anhand eines Interviews mit einem ehemaligen Stasihäftling als Unrechtsstaat dargestellt, in dem keine Art von Rebellion zugelassen war.
Die DDR als kulturelles Erbe – Aktuelle Tendenzen der DDR-Darstellung
Seit 2018/19 fordert der neue Sprachlehrplan in Frankreich eine stärkere Einbindung von kulturellem Wissen über das jeweilige Zielland und sieht im Spracherwerb nicht nur einen Weg zur erweiterten Kommunikationsmöglichkeit mit anderen Kulturen, sondern auch ein Mittel, die Welt besser zu verstehen. Die Schülerinnen und Schüler sollen über den Spracherwerb zu „Mittlern“ zwischen den Kulturen werden. Aus diesem Grund sind die neuen Lehrbücher wieder stärker landeskundlich ausgelegt, allerdings nicht thematisch, sondern stets an einer problematisierenden Fragestellung ausgerichtet. Dabei spielt konkretes historisches Orientierungswissen eine untergeordnete Rolle, und die Textart „Romanauszug“ wird weiter von audiovisuellen und digitalen Medien verdrängt.
Die DDR wird in der neuen Schulbuchgeneration unter anderem als thematischer Strang für die Erklärung einer geteilten Gesellschaft beschrieben. Das Lehrwerk „Fantastisch“ beschäftigt sich mit der Frage „Zweimal Deutschland – Welches Gefühl der Zusammengehörigkeit gab und gibt es in Deutschland?“ Das Thema wird in fünf Unterkapiteln behandelt und präsentiert eine in Ost und West gespaltene Gesellschaft. Nach einer kurzen Einführung zur Teilung Deutschlands folgt ein Auszug zur Ernährungssituation in der DDR, der von der Internetplattform Planet Wissen stammt.
Eine weitere Tendenz ist die Behandlung von beispielhaften Einzelaspekten. So wird die Zensur im Bereich der Musik unter dem Aspekt „Kunst und Macht“ (art et pouvoir) behandelt und die Überwachung durch das Ministerium für Staatssicherheit den Schülerinnen und Schülern anhand einer Auseinandersetzung mit dem Film „Das Leben der Anderen“ vermittelt. Letzteres dient der Problematisierung des Zusammenspiels von privatem und öffentlichem Raum (espace privé et espace public).
Fazit
Die Analyse zeigt, dass die DDR seit 60 Jahren permanenter Bestandteil des französischen Deutschlandbilds in den dortigen Lehrwerken ist und dessen Darstellung stets ein Spiegel der sich wandelnden kulturpolitischen Rahmenbedingungen war. Mit wachsender zeitlicher Distanz nimmt die Präsenz der DDR ab, so dass mittlerweile nur noch ein vages DDR-Bild in den Deutschlehrbüchern entworfen wird. Dieses ist an einzelnen Orten oder Symbolen wie der Mauer, dem Westpaket oder dem Ampelmännchen ausgerichtet. Den Lehrwerken geht es dabei um eine Sensibilisierung für das kulturelle Erbe im deutschsprachigen Raum.
Auch die aktuellen nationalen Prüfungsthemen zeigen, dass die DDR beziehungsweise deren Erbe in der Bundesrepublik trotz rückläufiger Tendenzen weiterhin einen festen Platz im französischen Deutschunterricht hat. So thematisierten zwei von acht Vorschlägen für die Prüfungen, die 2019 beispielhaft auf der offiziellen Internetseite des Erziehungsministeriums veröffentlicht wurden, die Erinnerung an die Berliner Mauer. Einmal geht es um die aktuelle Diskussion zur East-Site-Gallery und das andere Mal um die Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße. Dazu wurde jeweils ein kurzes Video gezeigt.
Zitierweise: "Vom sozialistischen Paradies zum Erinnerungsort? Sechzig Jahre DDR in französischen Deutschbüchern“, Franziska Flucke, in: Deutschland Archiv, 24.3.2020, Link: www.bpb.de/306870