Ein emotional aufgeladenes Parlament
Ungehaltene Reden von ehemaligen Parlamentariern und Parlamentarierinnen der letzten Volkskammer der DDR
Sabine Bergmann-Pohl
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Kein Historiker "wird jemals den physischen und psychischen Druck nachempfinden können, den wir alle täglich erlebten", bilanziert Sabine Bergmann-Pohl ihre Volkskammerarbeit 1990. Sie war damals für die CDU ins letzte DDR-Parlament eingezogen und wurde zu dessen Präsidentin gewählt: "Ich bin sicher, dass die Jahre 1989/90 einen besonderen historischen Stellenwert bekommen werden, denn es ging nicht um weniger als die Verwirklichung lebendiger Demokratie in der DDR".
In der Erinnerung an die frei und demokratisch gewählte Volkskammer haben alle Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die auch hier in dieser Serie "Ungehaltener Reden" des Deutschland Archivs vertreten sind, sicher sehr viel zu erzählen.
Diese turbulente und ereignisreiche Zeit und das, was sich seitdem ereignet und entwickelt hat, in einem knappen Text zu würdigen, bringt mich in große Bedrängnis. Denn die großartigen Leistungen vieler engagierter Menschen aus der ehemaligen DDR und vieler helfender Hände aus der Bundesrepublik kommen viel zu kurz, darunter auch die wichtiger Persönlichkeiten. Das betrifft beispielsweise die Leistungen von Bundeskanzler Helmut Kohl, dem "Kanzler der Einheit", seine Bundesregierung und gleichermaßen die Regierung unter der Leitung des damaligen Ministerpräsidenten Lothar de Maizière sowie alle Abgeordneten dieser zehnten und ersten frei gewählten Volkskammer, die nur 173 Tage bis zum 2. Oktober 1990 im Amt war. . Deshalb möchte ich mich auf einige persönliche Erinnerungen beschränken.
In den Tagen vor dem 18. März 1990, also vor 30 Jahren stand ich, auch mit der Unterstützung von Freunden der Westberliner CDU beim Wahlkampf auf der Straße und glaubte entgegen aller Prognosen der Wahlforscher an den Sieg der "Allianz für Deutschland“, der damals die CDU, die Deutsche Soziale Union (DSU) und der Demokratischer Aufbruch (DA) angehörten. Auf diese Allianz entfielen damals rund 48 Prozent der Stimmen. Das Ergebnis dieser ersten freien Volkskammerwahl war ein eindeutiges Bekenntnis der Bürger der DDR zur anzustrebenden Deutschen Einheit.
Nach vielen Jahren Praxis als Lungenfachärztin, aber ohne jede Erfahrung als Politikerin, war ich nach reiflicher Überlegung und so mancher Überredungskünste bereit, für ein Abgeordnetenmandat zu kandidieren. So wie mir ging es sicher vielen Volkskammerabgeordneten, die von heute auf morgen ihre Arbeitsplätze verließen, um politische Verantwortung zu übernehmen. Der 10. und frei gewählten Volkskammer gehörten nur drei Prozent von 409 Abgeordneten an, die auch in der 9. Volkskammer vertreten waren. Sie war in Bezug auf die erlernten Berufe ein Parlament der Ingenieure, Pädagogen, Ärzte und Naturwissenschaftler und die Theologen waren mit 7,1 Prozent ebenfalls zahlreich vertreten. Die wenigsten waren auf die verantwortungsvolle Arbeit vorbereitet. Das betraf auch mich.
Von der Lungenfachärztin zur Volkskammerpräsidentin
Am 4. April 1990 saß ich noch in der von mir geleiteten Bezirksstelle für Lungenkrankheiten und Tuberkulose in Ostberlin mit einigen Bedenken, ob ich das Vertrauen der CDU-Fraktion auch nicht enttäusche, die gegen den Willen des designierten Ministerpräsidenten mich für das Amt der Volkskammerpräsidentin vorgeschlagen hatten, Es kam aber noch "schlimmer“. Am gleichen Abend, vor der konstituierenden Sitzung der Volkskammer wurde ich in den Ostberliner Bezirksvorstand der CDU bestellt. Dort erläuterte mir der damalige Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Friedrich Bohl als "Gesandter“ von Helmut Kohl, dass mir bei meiner Wahl als Volkskammerpräsidentin aufgrund einer beabsichtigten Verfassungsänderung auch geschäftsführend die Funktion eines Staatsoberhauptes übertragen werde. Nach einer schlaflosen Nacht stellte ich mich mutig den Anforderungen.
Wir Abgeordneten waren uns durchaus der Verantwortung bewusst, den Weg aus einer unglückseligen Vergangenheit in eine, demokratische und zufriedenstellende Zukunft zu gestalten. Es gab für uns keine 100 Tage Schonzeit zur Einarbeitung. Mit 164 Gesetzen, 3 Staatsverträgen und 93 Beschlüssen war der Umfang der Arbeit gewaltig. Und die Zahl der Probleme auch. Wenn wir zunächst glaubten, wir seien diejenigen, die vorangingen, so mussten wir bald den Eindruck gewinnen, dass wir in Wirklichkeit die Getriebenen waren. Die hohen Erwartungen der Bevölkerung aber auch die außenpolitischen Bedingungen erforderten von uns schnelles Handeln.
Der Beginn der parlamentarischen Arbeit war zunächst geprägt von den unzureichenden Rahmenbedingungen. Es gab keine Abgeordnetenbüros, keine Wohnräume, keine Telefone oder andere technische Hilfsmittel, keine Autos, kurz gesagt, es fehlte an allem.
Deshalb waren wir sehr dankbar, dass der Deutsche Bundestag und seine Präsidentin Rita Süssmuth uns damals unbürokratisch mit Rat und Tat unterstützten. So erhielten wir zum beispiel schnell von der Deutschen Post moderne schnurlose Telefone. Wir beauftragten einen Vizepräsidenten, Herrn Dr. Stefan Gottschall von der DSU ("Deutsche Soziale Union"), sich vorrangig um akzeptable Arbeitsbedingungen zu kümmern, was er mit großer Energie und auch Erfolg erledigte.
Um meine Arbeit als Volkskammerpräsidentin und amtierendes Staatsoberhaupt überhaupt bewältigen zu können, habe ich zunächst mit meinem Vizepräsidenten Reinhard Höppner von der SPD, der leider viel zu früh 2014 verstorben ist, eine Zusammenarbeit abgesprochen. Er hatte durch seine langjährige Synodalarbeit in der Evangelischen Kirche Erfahrungen mit Gremien, deren Tätigkeit der parlamentarischen durchaus ähnlich ist. Außerdem war er an der Ausarbeitung der Geschäftsordnung maßgeblich beteiligt.
Ein Parlament des fairen Miteinanders
Als sich die Volkskammer konstituierte, waren bereits seit mehr als einem halben Jahr wesentliche Schritte der praktischen wie formalen Ablösung der DDR-Verfassung durch neue grundsätzliche Bestimmungen in Richtung Demokratie, bürgerliche Grundrechte und soziale Marktwirtschaft gegangen worden. Deshalb konnten wir an eine vorher geleistete Arbeit anknüpfen. Wir waren keine parlamentarischen Routiniers, waren uns aber der Verantwortung für unser Land bewusst.
Obwohl sich die politischen Ziele der Fraktionen durchaus sehr unterschieden, auf der einen Seite das Ziel einer "demokratischeren DDR“ mit einer neuen Verfassung und auf der anderen Seite das klare Ziel eines wiedervereinigten Deutschlands auf der Grundlage des über viele Jahrzehnte bewährten Grundgesetzes, gab es ein faires Miteinander auch über die Fraktionsgrenzen hinweg.
Die Basis unseres gemeinsamen Handelns war die Erfahrung einer friedlichen Revolution, in der die Menschen sich von einer erzwungenen Diktatur eines Unrechtsstaates befreiten. Denn letzten Endes leben die Freiheit und die Rechte auf ein menschenwürdiges Dasein auf Gerechtigkeit und Demokratie von dem, was wir selbst daraus machen.
Die Herausforderungen für uns waren riesig. Der Prozess der Wiedervereinigung erforderte von uns klares, zielgerichtetes und auch schnelles Handeln. Nur so war die gewaltige Aufgabe zu meistern
Sehr schnell kam auch die Erkenntnis, dass wir nicht vier Jahre, sondern viel weniger Zeit haben würden. Im Gegenteil, wir sollten neben den wichtigen und notwendigen Gesetzgebungen als Voraussetzung für die Deutsche Einheit dafür sorgen, uns baldmöglichst überflüssig zu machen und für unsere Selbstauflösung sorgen.
"Der Begriff Laienspieler traf teilweise zu"
Es war ein emotional aufgeladenes Parlament mit einer Debattenkultur, die mit Spannung in Ost und West verfolgt wurde und sowohl für Lob als auch Tadel sorgte. Insofern traf der Begriff der "Laienspieler“, den man uns damals "verlieh“, auch teilweise zu. Wir kamen aus der Unfreiheit. Wir wollten Demokratie einüben. Kein Wunder, dass wir dabei auch oft über das Ziel hinaus schossen und von dem Recht auf Redefreiheit manchmal zu ausgiebig Gebrauch machten.
Ich möchte nun einige wesentliche Höhepunkte unserer parlamentarischen Arbeit heraus stellen. Bereits in der zweiten Sitzung bekannten sich die Abgeordneten zur Verantwortung und Schuld der Deutschen in der DDR für ihre Geschichte, die besonders in Israel mir für einen Staatsbesuch gemeinsam mit Frau Süssmuth im Juni 1990 den Weg ebnete.
Die parlamentarische Begleitung der Staatsverträge und die Gestaltung der Einheit wurden im Mai 1990 durch die Bildung eines Ausschuss Deutsche Einheit mit der Leitung durch die beiden Vorsitzenden Frau Süssmuth und mich gewährleistet. Um das Tempo unserer Arbeit zu verdeutlichen: Im Mai konstituierten sich am gleichen Tag zu gleicher Stunde insgesamt 26 Ausschüsse der Volkskammer.
Am 17. Juni, nach einer gemeinsamen Feierstunde des Bundestages und der Volkskammer im Konzerthaus am Gendarmenmarkt verabschiedeten wir die Verfassungsgrundsätze mit der Formulierung: "Die DDR ist ein freiheitlicher, demokratischer, föderativer, sozialer und ökologisch orientierter Rechtsstaat.“
Diese Tagung bleibt mir in ewiger Erinnerung, denn unter den Augen unserer Gäste Bundeskanzler Helmut Kohl und anderen führenden Regierungsvertretern und der Bundestagspräsidentin stürzte uns die Fraktion der DSU mit einem Antrag zum sofortigen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland in erhebliche Turbulenzen.
Am 21. Juni wurde die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion verabschiedet und eine Erklärung zur Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze verabschiedet. Weitere wichtige Gesetzgebungen für die Bildung der Länder und die Vorbereitung der gesamtdeutschen Wahlen, der Übergang von einer Plan- in eine Soziale Marktwirtschaft und die Grundlagen für rechtsstaatliches Handeln sind nur einzelne Bespiele der parlamentarischen Arbeit.
Ziel Einheit. Die Kontroverse Parlamentsnacht vom 22. zum 23. August 1990
Zusätzlich standen wir unter dem Druck der alltäglichen Sorgen der Bevölkerung. Der Abbau von Arbeitsplätzen oder wegbrechende Handelsbeziehungen zum ehemaligen Ostblock, aber auch die Abwanderung von Tausenden gut ausgebildeten Bürgern, die die DDR in Richtung Westen verließen, waren die Probleme, mit denen wir uns auseinandersetzen mussten. Eine spannende und kräftezehrende Sitzung fand in der Nacht vom 22. zum 23. August statt. Ministerpräsident Lothar de Maizière beantragte nach einer regulären Sitzung der Volkskammer eine Sondersitzung zur Klärung des Beitrittstermins der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23.
Nach heftigen und kontroversen Diskussionen einigten wir uns auf den 3: Oktober. Diese Tagung endete um 3.00 Uhr morgens. Jeder, der in dieser entscheidenden Nacht in der Volkskammer oder über die Medien dabei war, wird sich auch an die Wortmeldung des PDS-Vorsitzenden Gregor Gysi nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses erinnern, als er wörtlich sagte: "Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der DDR zum 3. Oktober beschlossen.“
Dass diese Wortmeldung in jubelndem Beifall unterging und die einzige frei gewählte Volkskammer damit auch ihre eigene Abschaffung bejubelte, ist ein Beweis dafür, dass das Parlament in dieser Nacht den Mehrheitswillen seiner Wähler vom 18. März 1990 umsetzte.
Sehr oft beschäftigte sich die Volkskammer auch mit den Folgen für die Menschen in einem Überwachungsstaat durch die Staatssicherheit und dem Umgang mit der beispiellosen Dokumentation von Unrecht und Unterdrückung. Wir setzten uns mit dem Verbleib der Akten in einer zu bildenden Stasiunterlagen-Behörde mit Zweigstellen in den Neuen Bundesländern (NBL) gegen den Willen der Bundesregierung durch, die eine Archivierung der Staatsicherheitsakten im Bundesarchiv favorisierte. Aber auch die Überprüfung der Abgeordneten der Volkskammer auf eine mögliche Mitarbeit bei der Stasi war ein wichtiger Bestandteil der Bewältigung unserer eigenen Vergangenheit.
1000 Seiten Einigungsvertrag
Hervorheben möchte ich noch die Erarbeitung des Einigungsvertrages unter der Leitung von Wolfgang Schäuble und Günter Krause. Mit ca. 1000 Seiten war er die Grundlage für den Übergang einer 40-jährigen sozialistischen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft und einen Rechtsstaat. Unsere Arbeit wurde begleitet von vielen langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Volkskammer, die trotz des gesellschaftlichen Wandels und einer ungewissen Zukunft uns auch oft bis in die Nachtstunden unterstützten. Leider war der mir von der Ost-CDU zur Verfügung gestellte Direktor ein informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit, und er war nicht der einzige, der mir als IM "untergeschoben" wurde. Zusätzlich unterstützten uns zeitweilig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Bundesministerien und des Deutschen Bundestages
Sicher werden irgendwann einmal Historiker über die frei gewählte Volkskammer urteilen. Aber keiner von ihnen wird jemals den physischen und psychischen Druck nachempfinden können, den wir alle täglich erlebten. Ich bin sicher, dass die Jahre 1989/90 einen besonderen historischen Stellenwert bekommen werden, denn es ging nicht um weniger als die Verwirklichung lebendiger Demokratie in der DDR.
Die Bürger und ihre frei gewählten Abgeordneten haben mit ihrem Verhalten, mit Geduld und Besonnenheit, mit drängender Friedfertigkeit und vielleicht auch mit etwas Glück einen Staat aus den Angeln gehoben und bald überwunden, der seit 40 Jahren als nicht antastbar galt.
Die deutsche Geschichte ist arm an Ereignissen, in denen Volksbewegungen den Lauf der Geschichte positiv gestaltet haben. Insofern blicke ich auch mit ein wenig Stolz auf die Arbeit der frei gewählten Volkskammer zurück. Als wir am 2.Oktober 1990 unsere Arbeit beendeten, sagte ich u.a. folgendes in meiner Rede: "Viel Geduld und Einfühlungsvermögen auf beiden Seiten werden notwendig sein, damit keine Seite Schaden nimmt, damit alte Gräben zugeschüttet werden und neue nicht entstehen können.“
Und heute 30 Jahre später muss ich leider feststellen, dass wir nach wie vor über Ost und West reden anstatt die Aufbauleistungen der Menschen nach 1990 ausreichend zu würdigen..Deutschland ist ein regional vielfältiges Land, das ist auch das Resümee einer Studie der Konrad Adenauer Stiftung (KAS) aus dem Jahr 2019, ob in Deutschlands Süden, Westen, Norden, Osten.
Obwohl große Teile der Bevölkerung in Ost und West mit ihrem Leben zufrieden sind, gibt es regionale Unterschiede bei der Demokratiezufriedenheit, der Zufriedenheit mit der Wirtschaftslage und auch bei der Verbreitung rechts-populistischer Einstellungen nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch innerhalb der alten Bundesrepublik und innerhalb der neuen Länder.
Konzentrieren wir uns in der Zukunft auf unsere Gemeinsamkeiten und Stärken, denn Globalisierung, Digitalisierung, Rassismus und Hass in den sozialen Medien und eine fragile Umwelt sind neben dem Erhalt unserer demokratischen Grundordnung die gemeinsamen Herausforderungen, so wie es gegenwärtig das Coronavirus ist, dass Deutschland als Ganzes angeht und versucht in den Griff zu bekommen. In bemerkenswerter Einigkeit.
Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Die Lungenfachärztin Dr. Sabine Bergmann-Pohl war von April bis Oktober 1990 Präsidentin der am 18. März 1989 ersten frei gewählten Volkskammer der DDR und – da die Funktion des Staatsrates auf die Volkskammerpräsidentin übertragen wurde – damit das letzte Staatsoberhaupt der DDR. Sie gehörte seit 1981 der Ost-CDU an. Nach der Wiedervereinigung war sie zunächst Bundesministerin für besondere Aufgaben und von 1991 bis 1998 Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit.
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