Unter dem Titel „Anna Seghers, die wiedergefundene Freundin“ widmete die französische Tageszeitung Le Monde im Januar 2020 in ihrer Literaturbeilage zwei komplette Seiten der neuen französischen Übersetzung ihres Buches Das Siebte Kreuz – 73 Jahre nach dessen Erstveröffentlichung auf Französisch.
Seghers ist kein Einzelfall: Erstaunlich viele DDR-Autorinnen und Autoren stießen in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg auf Interesse und wurden hier oft unvoreingenommener rezipiert als in der Bundesrepublik. Wenngleich sich die Begeisterung in der Folgezeit relativierte, erschien vielen „fortschrittlichen“ Intellektuellen der politischen Linken in den Nachkriegsjahren die DDR nicht nur als interessantes politisches Experiment, sondern auch als das bessere Deutschland, das radikal mit seiner faschistischen Vergangenheit gebrochen hatte. Während Widerstandskämpfer und heimkehrende Exilanten in der Bundesrepublik nicht selten Misstrauen entgegenschlug, arbeitete man in der DDR an der Konstruktion eines positiven Widerstandsnarratives mit Helden, die sich als entschiedene Antifaschisten den Nationalsozialisten entgegengestellt hatten. Diese Bemühungen weisen durchaus Ähnlichkeiten mit der französischen Aufarbeitung der Kriegsjahre auf, in der ebenfalls zunächst die Resistance im Fokus des allgemeinen Interesses stand. Der im Konzentrationslager Buchenwald spielende Roman Nackt unter Wölfen (1958), in dem Bruno Apitz in Zusammenarbeit mit dem Komitee Antifaschistischer Widerstandskämpfer diesen Helden ein literarisches Denkmal setzt, wurde bereit 1961 auf Französisch veröffentlicht.
Allerdings muss in diesem Kontext darauf hingewiesen werden, dass der positiv zu bewertende offensive Kampf gegen das Vergessen der Nazi-Verbrechen in der DDR auch zu Mythenbildung und Schwarzweißmalerei einlud: So wurde die propagandistische Behauptung, dass sich die DDR von all ihren historischen Verbrechen befreit habe und Faschisten und Alt-Nazis ausschließlich in der Bundesrepublik zu finden seien, unter französischen Intellektuellen in Frankreich lange Zeit unkritisch verteidigt.
Exil und Widerstand als gemeinsame Orientierungspunkte
Das Interesse französischer Intellektueller an der DDR-Kultur basierte zunächst wesentlich auf einer explizit antifaschistischen Haltung und ist ebenso eng verwoben mit der französischen Resistance- wie der deutschen Exilgeschichte. Es überrascht nicht, dass die Rezeption der DDR-Literatur vor allem von den Kommunisten vorangetrieben wurde – so beispielsweise von Louis Aragon im Verlag Les éditeurs français réunis (EFR), in dem auch Apitz’ Roman veröffentlicht wurde.
Anders als in der Bundesrepublik besaß die kommunistische Partei in Frankreich, der Parti Communiste Français (PCF), nach dem Krieg mit 28,3 Prozent (1946) bzw. 25,9 Prozent (1956) der Wählerstimmen einen bedeutenden Einfluss und war nicht nur in der Kommunalpolitik, sondern auch im kulturellen und universitären Milieu überaus aktiv. So wurde im Feuilleton der Tageszeitung L’Humanité, die bis 1994 als das offizielle Organ des PCF galt, gerne und ausführlich über die Theater- und Literaturszene der DDR berichtet. Auch die Literaturzeitschrift Les lettres françaises, die von 1953 bis 1972 von Louis Aragon geleitet wurde, vertrat einen dezidiert kommunistischen Standpunkt; gleiches gilt für La Nouvelle Critique, die bereits 1956 einen ersten großen Überblick über die DDR-Literatur veröffentlichte.
Vorauszuschicken ist, dass der Literatur- und Theatertransfer zwischen Frankreich und der DDR, wie überhaupt jeder Kulturaustausch, einer Vielzahl an Mittlern zu verdanken ist. Insofern kann die Geschichte dieser Beziehung nicht erzählt werden, ohne an diejenigen zu erinnern, die zumeist im Schatten der großen Namen der Autorinnen und Künstlerinnen stehen: Neben Übersetzerinnen, Literaturagentinnen, Verlegerinnen und Kritikerinnen dürfen hier auch die Germanistinnen in Frankreich und die Romanistinnen in der DDR nicht vergessen werden. Da diese den Nachwuchs in allen genannten Bereichen ausbildeten und mit Informationen versorgten, kam ihnen nicht nur eine Rolle als Mittler, sondern auch als Multiplikatoren zu.
Als ein typischer Vertreter der ersten Mittlergeneration nach dem Krieg kann Pierre Abraham bezeichnet werden, der von 1949 bis zu seinem Tod 1974 die Literaturzeitschrift Europe leitete. Er hatte bereits in den 1930er Jahren als einer der ersten Theaterstücke von Bertolt Brecht ins Französische übersetzt. Das Beispiel Europe zeigt, dass Zeitschriften für den Kulturtransfer mit Blick auf die Netzwerkbildung die wichtige Funktion zukommt, Kontinuitäten in Umbruchsituationen zu garantieren: So gehörte die Literaturzeitschrift bis 1939 zu den wichtigen Publikationsorganen der Exilautoren. Neben Brecht wurden hier auch Texte von Thomas und Heinrich Mann, Walter Benjamin und Anna Seghers veröffentlicht.
Eine herausragende Stellung unter den Multiplikatoren dieser ersten Generation, der über eine Vielzahl an Kontakten aus dem Resistance- und Exilmilieu verfügte, nahm auch der Germanist Gilbert Badia (1916-2004) ein. Badia war Mitglied des PCF, hatte sich während des Krieges in der Resistance engagiert und arbeitete in den 1950er Jahren als Journalist und Übersetzer, unter anderem der Werke von Karl Marx und Bertolt Brecht. Er unterhielt vielfältigste enge Kontakte zur DDR auf kultureller, universitärer und politischer Ebene. Mit Publikationen über die DDR und seinem Einsatz für einen kulturellen und zivilgesellschaftlichen Austausch mit dem anderen Deutschland verfolgte er auch konkrete politische Ziele. Der 1958 gegründete Verein Échanges franco-allemands (EFA, Französisch-Deutscher Austausch), in dem sich Badia intensiv engagierte, warb offensiv für die diplomatische Anerkennung des Landes durch die französische Regierung.
Wie das Beispiel Badia zeigt, sind die Bereiche Kultur und Politik im Literatur- und Theatertransfer zwischen Frankreich und der DDR untrennbar miteinander verwoben und können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Die Möglichkeiten und Bedingungen des Kulturaustausches zwischen der DDR und Frankreich wurden zwangsläufig maßgeblich von den geopolitischen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges sowie den spezifischen (kultur-)politischen Entwicklungen in beiden Ländern beeinflusst.
1954: Stunde Null des deutsch-französischen Theatertransfers
Während der Literaturtransfer zwischen Frankreich und der DDR zum Teil auf den bereits bestehenden Netzwerken der Resistance-Kämpfer und Exilanten aufbaute, lässt sich hinsichtlich der Entwicklung im Theaterfeld eine grundlegende Neuorientierung nach dem Zweiten Weltkrieg konstatieren. Der Autor, dem in diesem Kontext eine Schlüsselfunktion zukommt, ist Bertolt Brecht. Er hatte zwar schon während des Exils Kontakte nach Frankreich aufgebaut, zu einer wirklichen Entdeckung seines Werkes war es jedoch nicht gekommen. In der vor 1945 wesentlich auf Paris konzentrierten französischen Theaterlandschaft, die fast ausschließlich aus bürgerlichen Privattheatern bestand, war kein Platz für ein sozialkritisches, formal anspruchsvolles Theater. Insofern war die Begeisterung, die das Berliner Ensemble (BE) 1954 mit seinem ersten Gastspiel in Paris auf dem Festival des Nations hervorrief, alles andere als zu erwarten.
Zwar reagierten Teile des französischen Publikums verhalten auf die von Helene Weigel in deutscher Sprache gespielte Mutter Courage, im intellektuellen Milieu löste die Inszenierung jedoch ein regelrechtes Erdbeben aus. Entscheidend verantwortlich für diese Euphorie war Roland Barthes, der in der damals tonangebenden Theaterzeitschrift Théâtre Populaire von einer Revolution sprach und in den kommenden Jahren mit seinen Artikeln und Analysen für eine erfolgreiche Verbreitung des Brecht’schen Theaters in Frankreich sorgte.
Darüber hinaus wurde die Rezeption Brechts durch grundlegende strukturelle Veränderungen der französischen Bühnenlandschaft unterstützt. Grund hierfür war die sogenannte décentralisation culturelle, das politische Programm einer kulturellen Dezentralisierung, welches das Ziel hatte, mithilfe staatlicher Subventionen der bis dahin vorherrschenden einseitigen Konzentration des französischen Kulturlebens auf Paris entgegenzuwirken. Im Rahmen dieser décentralisation, die auf kommunaler Ebene auch vom PCF aktiv unterstützt wurde, entstand ab Ende der 1940er Jahre ein öffentlicher, staatlich subventionierter Theatersektor. Dabei wurden die Leitungsposten der neuen Theater mit zumeist jungen Regisseuren besetzt, denen kurioser Weise oft drei Eigenschaften gemein waren: Sie sprachen in der Regel sehr gut Deutsch, vertraten politisch einen linken, oft kommunistischen Standpunkt und teilten, dem Zeitgeist folgend, eine uneingeschränkte Begeisterung für Bertolt Brecht.
Ein typisches Beispiel für einen solchen Mittler der zweiten Generation ist der aus einer jüdischen Familie stammende Regisseur Bernard Sobel (*1936). Er war als Kind 1942 in Paris der Deportation entkommen und hatte den Krieg im Versteck überlebt. In den 1950er-Jahren begann Sobel ein Germanistikstudium an der Pariser Universität Sorbonne. Mit der kommunistischen Studentenvereinigung Union des étudiants communistes besuchte er 1957 Ost-Berlin, wo er das Berliner Ensemble (BE) entdeckte und begann als Regieassistent zu arbeiten. 1961 kehrte er nach Paris zurück, um zwei Jahre später in Gennevilliers, einer im Nordwesten von Paris gelegenen Arbeitervorstadt, nach dem Vorbild des BE das Ensemble de Gennevilliers zu gründen, das er bis 2007 über 40 Jahre leitete. Dem (auch heute noch) überzeugten Kommunisten Sobel ging es nicht allein um die Stücke von Brecht, sondern vor allem auch um die Arbeits- und Organisationformen des Theaters, die er aus der DDR importierte. Das betraf konkret vor allem die Einführung der im französischen Bühnensystem bis dahin unbekannten Funktion des Dramaturgen, aber auch die in Frankreich – mit Ausnahme der Comédie-Française – unübliche Arbeit im Ensemble.
Das Theater in Gennevilliers stellte indes keine Ausnahme dar, sondern war Teil einer überaus pointierten Kulturpolitik des PCF. Ausgehend vom Ziel, ein breites, für alle Schichten zugängliches Kulturangebot bereitzustellen, investierte man in den kommunistischen Vororten von Paris, in Aubervilliers, Nanterre, Bobigny, Saint Denis oder Ivry, viel Geld in Theater als kulturelle Zentren und populäre Begegnungsorte. Auf diese Weise entwickelte sich der so genannte „rote Gürtel“ von Paris in den 1960er Jahren zu einem regelrechten Theaterlabor, in dem die Begeisterung für Brecht und das Epische Theater auch strukturell eine nachhaltige Wirkung entfaltete.
Kulturelle Konkurrenz
Trotz des großen Interesses an Brecht, hatten es andere DDR-Dramatiker schwer wahrgenommen zu werden. Die Brechtomanie beförderte zwar das allgemeine Interesse an deutschem Theater; die klassische DDR-Dramatik, die sich an den Vorgaben des sozialistischen Realismus als offizieller Kunstform orientierte, blieb hingegen so gut wie unbekannt. Auch im Bereich der Prosa war die Wahrnehmung der DDR-Literatur – gerade im Vergleich zum ungeheuren Erfolg Brechts – eher schwach ausgeprägt und beschränkte sich auf einzelne Personen wie die neben Anna Seghers sicherlich bekannteste DDR-Autorin, Christa Wolf: Bereits 1964 wurde die französische Übersetzung von Ein Geteilter Himmel veröffentlicht; 1972 erschien Nachdenken über Christa T. (aus dem Jahr 1968).
Hatte der Mauerbau 1961 den kulturellen Austausch erschwert, intensivierte sich der Transfer 1973 nach der Anerkennung der DDR durch Frankreich, wobei sich die Systemkonkurrenz zwischen Ost- und Westdeutschland gleichzeitig verschärfte. 1983 wurde als Pendant zum westdeutschen Goethe-Institut das DDR-Kulturzentrum am Boulevard Saint-Germain in Paris eröffnet, das zu Lesungen von Autoren wie Christa Wolf oder Stephan Hermlin einlud. Bis dahin hatten verschiedene deutsche Buchhandlungen in Paris diese Rolle übernommen,
Obwohl die Bundesrepublik als offiziell privilegierter Partner Frankreichs galt, ging man nicht immer als Gewinner aus dem deutschen-deutschen Wettbewerb hervor. Dies zeigt beispielhaft die Buchmesse für ausländische Literatur Les Belles Etrangères, die sich 1987 der DDR-Literatur widmete und zahlreiche Autorinnen und Autoren wie Helga Schütz, Helga Schubert, Helga Königsdorf, Uwe Kolbe, Christoph Hein, Fritz-Rudolf Fries, Hermann Kant und Stephan Hermlin einlud. Erst zwei Jahre später, 1989, stand die Literatur der Bundesrepublik auf dem Programm.
Netzwerke: der Fall Müller
Wie die verspätete Entdeckung von Bertolt Brecht in Frankreich belegt, ist Kulturtransfer in der Regel abhängig von direkten Begegnungen und benötigt, um dauerhafte Effekte zu erzielen, zugleich dichte Netzwerke. Das Zusammenspiel dieser beiden Elemente lässt sich exemplarisch anhand der französischen Rezeption von Heiner Müller darstellen. Eingeleitet wurde der Prozess von Bernard Sobel, der 1970 Müllers Philoktet in Gennevilliers inszenierte; seinen wirklichen Durchbruch erlebte der Autor jedoch – ähnlich wie Brecht 1954 in Paris – erst nach einem deutschen Gastspiel. Dessen Vorgeschichte begann in der Spielzeit 1970/71: Aus Anlass des 100. Jahrestages der Pariser Kommune wurde das BE zu einem Gastspiel in verschiedene Theater des „roten Gürtels“ von Paris eingeladen. Die Initiative ging vom stellvertretenden Bürgermeister von Aubervilliers und späteren Gesundheits- bzw. Arbeitsminister Jack Ralite (PCF) sowie vom Direktor des Théâtre de la Commune in Aubervilliers, Gabriel Garran, aus. Organisiert wurde die Tournee von Garrans Dramaturgen Michel Bataillon (*1939), einem Germanisten, der Anfang der 1960er Jahre als Fremdsprachenlektor an der Karl-Marx-Universität in Leipzig gearbeitet hatte und sich in den kommenden Jahrzehnten zu einem der wichtigsten Mittler im deutsch-französischen Theaterfeld entwickelte. Auf dem Programm standen zwei Brecht-Stücke: Die Mutter mit Helene Weigel in der Hauptrolle sowie Der Brotladen unter der Regie von Manfred Karge und Matthias Langhoff.
Die persönliche Begegnung des aufstrebenden DDR-Regieduos Karge/Langhoff mit dem jungen Bataillon bildete den Auftakt einer engen Freundschaft und vieler gemeinsamer Projekte. 1976 lud Bataillon Karge/Langhoff schließlich mit Die Schlacht des bis dahin weitgehend unbekannten Heiner Müllers auf die Fête de l’Humanité ein. Das Gastspiel war ein durchschlagender Erfolg. Die Inszenierung wurde im folgenden Jahr noch an verschiedene andere französische Bühnen eingeladen und bildete zweifellos den Grundstein der Bekanntheit von Müller in Frankreich.
Mehr Kontinuitäten als Brüche
Der Fall der Mauer und die Wiedervereinigung haben das Interesse an Künstlerinnen und Künstlern, denen das „DDR-Label“ anhaftet, in Frankreich nicht zum Erliegen gebracht – im Gegenteil. Wie die beachtliche Zahl an wissenschaftlichen Kolloquien, Publikationen sowie Doktorarbeiten und Habilitationsschriften belegt, sind die Literatur, das Theater und der Film aus der DDR heute in der französischen Germanistik ein etabliertes Forschungsfeld. Darüber hinaus stoßen auch sogenannte Nachwendeautoren wie Ingo Schulze, Uwe Tellkamp, Jakob Hein, Eugen Ruge oder Jenny Erpenbeck auf Aufmerksamkeit in der Wissenschaft sowie bei einem breiteren Publikum. Gleiches gilt für die Werke früherer DDR-Autoren wie Christoph Hein, Christa Wolf oder Volker Braun, die sich implizit oder explizit mit der ostdeutschen Realität nach der Wende und ihren Folgen beschäftigen.
Die Intensität der aktuellen Auseinandersetzungen mit der DDR-Kultur spiegelt sich beispielhaft in der eingangs erwähnten Neuübersetzung des Siebten Kreuz’ von Anna Seghers. Die Anregung hierzu kam von Nicole Bary (*1939),
Einer von Barys engsten Arbeitspartnern ist Alain Lance (*1939), Schriftsteller und Übersetzer von Autoren wie Volker Braun, Ingo Schulze, Christa Wolff und Christoph Hein. Rückblickend beschreibt Nicole Bary Lances Erfahrungen mit jenem anderen Deutschland, in das ihn 1956 sein Germanistikstudium an der Sorbonne verschlug, als zwiespältig: So glaubte Lance zunächst, „[e]nttäuscht von der lähmenden Atmosphäre der Adenauer-Jahre in Westdeutschland, […] dort ‚sein’ Deutschland gefunden zu haben.“
Ein dritter Raum?
Die hier von Bary beschriebene Relativierung und Korrektur jener Utopie eines besseren Deutschlands durch die DDR-Autorinnen und Autoren selbst dürfte in gewisser Weise exemplarisch für eine ganze Reihe von französischen Mittlerinnen und Mittlern sein. Insofern führte das große Interesse der französischen Intellektuellen an der DDR nicht notwendigerweise zu einer einseitigen ideologischen Verblendung. Aufgrund ihrer engen persönlichen Kontakte und langjährigen Freundschaften zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Theatermacherinnen und Theatermachern war sich die französische Seite in der Regel über die politischen Untiefen des DDR-Systems bewusst und neigte keinesfalls zu oberflächlichen Kurzschlüssen. Da ihre Sympathie zumeist den kritischen ostdeutschen Autorinnen und Autoren galt, erhielten sie nicht nur spezifische Einblicke in die Kulturlandschaft, sondern auch in die alltäglichen (Über)-Lebensstrategien in Ostdeutschland. Umgekehrt stellte Frankreich für eine gewisse Gruppe an DDR-Vorzeigekünstlerinnen und Künstlern wie Heiner Müller, Christa Wolf oder Karge/Langhoff, die als (durchaus kritische) Ausnahme-Bürger über (relativ) freie Reisemöglichkeiten verfügten, eine Art „dritten Raum“ dar, der andere Freiheiten bot als Westdeutschland.
Aus dieser Perspektive betrachtet lässt sich in Frankreich aufgrund der größeren Distanz ein insgesamt unverkrampfteres Verhältnis zur DDR-Kultur konstatieren als in der Bundesrepublik; die französischen Mittlerinnen und Mittler fühlten sich offenbar weniger verpflichtet eindeutig Stellung zu beziehen. Aus diesem Grund stellt die französische Literatur- und Theatergeschichte der DDR, die sich in diesem „dritten Raum“ erstaunlich frei und zugleich produktiv entwickeln konnte, heute einen nicht nur ergänzenden, sondern unverzichtbaren Baustein zu einem besseren Verständnis von DDR-Kultur dar.
Zitierweise: "Utopie eines anderen Deutschlands: Theater- und Literaturtransfer zwischen Frankreich und der DDR“, Nicole Colin, in: Deutschland Archiv, 19.3.2020, Link: www.bpb.de/306702
Weitere Beiträge aus unserer Reihe zu den Beziehungen zwischen Frankreich und der DDR:
Ulrich Pfeil:
Constance Knitter:
Franziska Flucke:
Marie Müller-Zetzsche: