Deutschland einig Vaterland
Ungehaltene Reden von ehemaligen Parlamentariern und Parlamentarierinnen der letzten Volkskammer der DDR (I)
Richard Schröder
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Der Stand der Deutschen Einheit ist besser als ihr Ruf. Die Bereitschaft, Unterschiede unverzerrt wahrzunehmen ohne auszurasten, sei "jedoch noch ausbaufähig", ist die Sicht von Richard Schröder, der damals für die in der DDR neu gegründete SPD ins letzte DDR-Parlament einzog.
Gäbe es heute, 30 Jahre nach der kurzen Amtszeit der DDR-Volkskammer, der ich vom 5. April 1990 bis zum 2. Oktober 1990 angehören durfte, noch einmal die Möglichkeit für mich, in einer Parlamentsrede Rückschau zu halten, dann wäre dies mein Text zur Entwicklung der Deutschen Einheit und zur „Lage der Nation":
Im vergangenen Jahr 2019 sollte eigentlich des dreißigjährigen Jubiläums der Herbstrevolution in der DDR und der unverhofften Maueröffnung gedacht werden. Doch stattdessen wurde der Stand der Deutschen Einheit – nicht etwa gründlich diskutiert, sondern scharf kritisiert und bejammert. Sie sei ein einziges Desaster, befand beispielsweise ein Kolumnist des Spiegel. Die Ostdeutschen seien gedemütigt, ihre Lebensleistungen vernichtet und ihre Biographien entwertet worden. AfD und die Linke forderten sogar einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Treuhandanstalt, denn sie vor allem habe die Ostdeutschen traumatisiert. Es muss demnach um die Deutsche Einheit schlimm stehen. Jener Kolumnist weiß gar, dass es „womöglich hundert andere Varianten“ gegeben habe, es besser zu machen.
Betrachten wir die Deutsche Einheit im europäischen Vergleich. Nachdem die Tschechen und Slowaken ihre Freiheit erlangt hatten, haben sie sich getrennt. Nach blutigen Kämpfen im Baltikum haben sich auch die Länder der Sowjetunion friedlich getrennt. In Jugoslawien führte die Trennung zu einem brutalen Bürgerkrieg. Nur die Deutschen haben sich vereinigt und niemand stellt das in Frage, obwohl diese Vereinigung über den tiefen Graben zwischen West und Ost hinweg erfolgte, die sich angeblich unvereinbar wie Feuer und Wasser gegenüberstanden. Separatistische Tendenzen gibt es in Spanien, Italien, Frankreich, Belgien und Großbritannien, bloß nicht in Deutschland. Es gibt keine Partei, die die Wiederherstellung der Zweistaatlichkeit fordert, es gibt nicht einmal eine reine Ost- oder reine West-Partei – von der CSU abgesehen. Mir ist bisher kein einziger separatistischer Zeitungsartikel begegnet.
Es liegen reichlich Befragungen aus dem Jahr 2019 zur Beurteilung der deutschen Einheit vor, mit etwa denselben Ergebnissen. Auf einer Skala von 1 bis 10 wird die persönliche Lebenszufriedenheit im Osten durchschnittlich mit 7,35 und im Westen mit 7,6 bewertet, ermittelte beispielsweise die German Socio-Economic Panel Study (SOEP). Und Allensbach stellte fest, die deutsche Vereinigung sei für 59 Prozent der Westdeutschen und 63 Prozent der Ostdeutschen eher Anlass zur Freue als zur Sorge. 83 Prozent der Ostdeutschen und 90 Prozent der Westdeutschen halten die Demokratie für eine gute Regierungsform, ergab eine Studie der Bertelsmann-Stiftung.
Wie auch immer Ostdeutsche ihre Erfahrungen aus den neunziger Jahren beurteilen – sicher sehr verschieden – , die heutige Zufriedenheit mit ihrer heutigen Lebenslage ist offenkundig beachtlich. Allein in den ersten zehn Jahren der deutschen Vereinigung ist übrigens die Suizidrate in Ostdeutschland um 72 Prozent auf das westdeutsche Niveau (=100 Prozent) gesunken und die Lebenserwartung um drei Jahre gestiegen.
„Bei jeder Revolution kommt es zu Brüchen"
Seit 1990 bin ich ungezählte Male nach dem Stand der Deutschen Einheit befragt worden. Die zweite, wenn nicht gar erste Frage lautete: was ist falsch gemacht worden – und nicht: sind grobe Fehler gemacht worden? Die werden stillschweigend vorausgesetzt. Denn es ist im Zuge der Vereinigung zweifellos für viele Ostdeutsche zu schmerzlichen Überraschungen („so habe ich mir die Einheit nicht vorgestellt“) und zu biographischen Brüchen gekommen und wenn so etwas passiert, muss ein Fehler vorliegen. Vorausgesetzt ist: die richtige Politik kann alles Unangenehme vermeiden – eine verchromte realitätsferne Annahme, die das Tragische nicht mehr kennt.
Bei jeder Revolution kommt es unvermeidlich zu biographischen Brüchen, zum Teil zu Recht. Die bisherigen Machthaber müssen abtreten. Wenn ein Stasioffizier oder Dozent für Marxismus-Leninismus 1990 arbeitslos wurde, hält sich mein Bedauern in Grenzen. Sie sind zudem oft auf die Füße gefallen. Aber viele wurden 1990 und danach arbeitslos, die weder Stützen noch Nutznießer der Diktatur waren. Von denen haben manche sofort ihren Neustart betrieben, oft erfolgreich, aber andere, zumal Ältere, haben den Neustart nicht geschafft und verstanden sich zum Teil als unverschuldete Verlierer der Revolution, die sie begrüßt hatten. Nichts davon darf geleugnet werden. Aber beruhten solche Schicksale tatsächlich auf Fehlern?
Übrigens war den führenden Wirtschaftsfunktionären der DDR klar, dass dringend überflüssige Arbeitsplätze in der DDR-Wirtschaft, namentlich ihrer Verwaltung, abgebaut werden müssen, um den Rückstand gegenüber der Bundesrepublik bei der Arbeitsproduktivität zu reduzieren, wie aus dem sog. Schürer-Gutachten vom 30. Oktober 1989 hervorgeht. Arbeitslosigkeit hätte es auch ohne die deutsche Vereinigung gegeben, wie übrigens in allen ehemals sozialistischen Ländern.
Was ein Rechtschreibfehler ist, lässt sich leicht feststellen. Es gibt ja den Duden, da steht, wie ein Wort richtig geschrieben wird. Für die deutsche Einheit gab es keinen Duden. Vom Kapitalismus zum Sozialismus, dafür gab es ganze Bibliotheken, für den umgekehrten Weg aber so gut wie nichts. Da war learning by doing angesagt, und dies bei einer gehörigen Portion von unvermeidbarem Nichtwissen. In jeder einzigartigen Situation können wir nicht „wie üblich“ und aufgrund bewährter Erfahrungen handeln. Wir müssen Risiken eingehen, weil wir vieles nicht wissen und manches gar nicht wissen können, etwa wie die anderen Akteure reagieren werden.
Jeder Beipackzettel eines Medikaments warnt vor Nebenwirkungen, die nur zum Teil vermeidbar sind. Der Haarausfall bei der Chemotherapie gilt nicht als Fehler, sondern als das kleinere Übel, das in Kauf genommen wird. Darüber streitet niemand. Aber in der Politik wird stillschweigend vorausgesetzt: die Politiker hätten alles vorhersehen können, und wenn etwas anders ausgeht als erwartet, haben sie etwas falsch gemacht – oder gar finstere Absichten verfolgt. Hier setzen Verschwörungstheorien an, die nicht nur Rechtsaußen gepflegt werden.
Mit jeder Entscheidung fallen einige Optionen unter den Tisch, nämlich die verworfenen. „Wer A sagt, muss auch B sagen“, oder nach Goethe: „Im ersten sind wir frei, im zweiten sind wir Knechte“, nämlich unserer vorigen Entscheidungen. Wer heiratet, ist danach verheiratet, verwitwet oder geschieden, aber nie wieder ledig.
„Schnell" forderte seinen Preis
Mit dem Mauerfall bekamen die Deutschen die Einheit unerwartet als Sonderangebot, aber mit einigen abträglichen Sonderbedingungen, die man sich nach Lehrbuch nicht ausgesucht hätte, nämlich: sofort, unvorbereitet und unaufhebbar verwoben mit dem Ausstieg der DDR aus Diktatur und Planwirtschaft, der postrevolutionären Transformation. Und außerdem war das Sonderangebot auf unbestimmte Weise zeitlich befristet: nur so lange sich der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow an der Macht hält. Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse hat Mitte 1990 signalisiert, wir sollten uns mit der Einheit beeilen. Die Alternative hieß also: schnell oder womöglich gar nicht. Und „schnell“ forderte seinen Preis.
Eine Bemerkung zu: „unvorbereitet“: In der Bundesrepublik, heißt es, gab es ein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, aber offenbar keines für gesamtdeutsche Antworten. Das ist pfiffig formuliert, aber wenn ein bundesdeutsches Ministerium die Vereinigung vorgeplant hätte, wäre sie allein deshalb schon nicht zustande gekommen. Man konnte nicht gleichzeitig Entspannungspolitik betreiben und Pläne schmieden, die das Verschwinden des Vertragspartners voraussetzen. Was in Bonn acht wissen, steht auch in der Zeitung, wurde uns damals gesagt. Und wir wissen doch, wie so etwas damals tituliert worden wäre, und zwar nicht nur von der SED: Revanchismus, die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges, roll back usw. Der Ruf nach der Deutschen Einheit musste aus dem Osten kommen.
Ich bin öfter gefragt worden: wie konntet ihr in die Währungsunion einwilligen, wenn sie doch erkennbar viele DDR-Betriebe in größte Schwierigkeiten stürzen musste? Ich habe mir gesagt: lieber mit ruinierter Wirtschaft in die Deutsche Einheit gehen als mit ruinierter Wirtschaft allein dastehen. Denn Gorbatschow hatte erklärt, die Sowjetunion könne der DDR aus ihren wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht heraushelfen, sie habe selbst allergrößte Devisenprobleme.
Es stimmt zwar, dass mit der Währungsunion der Westexport zusammenbrach und der Ostexport einbrach. Aber ohne Währungsunion wären fast dieselben Probleme ein halbes Jahr später entstanden, denn bereits Anfang 1990 hatte der „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW, COMECON) beschlossen, den Transferrubel ab 1. Januar 1991 abzuschaffen und den Handel im RGW auf Devisen umzustellen. Die Ungarn hatten danach zu entscheiden, ob sie für Devisen einen Trabant oder einen kleinen Japaner kaufen. Durch Kaufverweigerung wurde das Trabantwerk in den Ruin getrieben und durch nichts sonst. Dass der Trabant unter Weltmarktbedingungen unverkäuflich wurde, dafür trug allein das Politbüro der SED die Verantwortung und nicht Arbeiter oder Ingenieure. Die hatten nämlich zweimal attraktive Prototypen entwickelt, die nicht in die Produktion gehen durften.
Die Angst vor den Ostdeutschen im westdeutschen Sozialsystem
Drei weitere Faktoren haben den Weg zur deutschen Einheit präformiert. Die bundesdeutsche Rechtsordnung sah nur eine deutsche Staatsbürgerschaft vor. Alle DDR-Bürger, die bundesdeutsches Gebiet betraten, genossen ohne Visum sofort Niederlassungsfreiheit und alle bundesdeutschen Sozialleistungen. Sie konnten nicht zurückgewiesen werden. Deshalb ist die Losung der Montagsdemonstration vom 12. Februar 1990: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr“ in Bonn zutreffend als Drohung verstanden worden. Oskar Lafontaine erklärte, es gehe nicht an, dass immer mehr Ostdeutsche in die westlichen Sozialsysteme einwandern. Das schaffe im Westen böses Blut und stärke die Republikaner. Damals haben 80 Prozent der Westdeutschen den massiven Flüchtlingsstrom aus dem Osten sehr kritisch gesehen. Die Willkommensstimmung war gekippt.
Die Sozialhilfe betrug 1989/90 im Westen ungefähr 700 D-Mark. Bei einem Kurs von 1:7 (in Wahrheit lag er am 10. November 1989 bei 1:12 und ging sogar noch tiefer) hatten also Ostdeutsche die Wahl, als West-Arbeitslose mit Scheinadresse 700 D-Mark in 4.900 Ost-Mark „umzurubeln“, oder für 1.100 Ost_Mark (Durchschnittslohn Ost) im Osten jeden Morgen auf der Arbeitsstelle zu erscheinen. Das wäre ein harter Test auf ostdeutsches Pflichtbewusstsein geworden und nicht lange durchzuhalten gewesen. Ohne Währungsunion wäre es in der DDR zur Ostmark-Inflation gekommen mit der D-Mark als heimlicher Leitwährung – für Rentner, den öffentlichen Dienst und die Sparguthaben eine Katastrophe, für Schwarzhändler ein Eldorado und für Westdeutsche ein Billigland ohnegleichen vor der Haustür: tanken für Pfennige pro Liter, worauf natürlich bald der DDR das Benzin ausgegangen wäre.
Das war ein Szenario ohne Währungsunion. Nun behaupten manche, der Umtauschkurs von 1:1 bei Einkommen und 1:2 bei Guthaben und Schulden sei falsch gewesen und hätte die DDR-Wirtschaft ruiniert. Für den richtigen Umtauschkurs konnte man entweder die Verkäuflichkeit ostdeutscher Waren oder die Auskömmlichkeit ostdeutscher Einkommen zum Maßstab nehmen – mit entgegengesetzten Ergebnissen. Das Durchschnittseinkommen Ost lag, 1:1 gerechnet, bei 30 Prozent West, bei Facharbeitern bei 48 Prozent West. Selbst bei einem Umtauschkurs von 1:2 wäre das ostdeutsche Durchschnittseinkommen unter Sozialhilfeniveau gefallen und das Weglaufen erst richtig losgegangen.
Zurück zum Jahresanfang 1990
Zurück zum Jahresanfang 1990. Nachdem DDR-Ministerpräsident Hans Modrow (SED) bei einem Treffen in Davos Helmut Kohl am 2. Februar 1990 erklärt hatte, es sei möglich, dass die D-Mark die einzige Währung der DDR werde, bot die Bundesregierung Modrow bei seinem Bonn-Besuch am 13. Februar die baldige Währungsunion an. Zur Vorbereitung wurde eine gemeinsame Expertengruppe unter dem Co-Vorsitz von Bundesfinanzminister Minister Theo Waigel (BRD) und dem Minister ohne Geschäftsbereich Walter Romberg (DDR) eingesetzt. Der Runde Tisch hatte Modrow einen Wunschzettel mitgegeben, der folgendes verlangte: Hochwertige Kleidung und Lederwaren für eine Milliarde D-Mark; PKWs und Ersatzteile für eine Milliarde D-Mark; Audio-, Videogeräte, Kühl-, Geschirrspül- und Waschmaschinen für eine Milliarde D-Mark und nicht alltägliche Nahrungs- und Genussmittel für 500 Millionen D-Mark – ein ahnungsloser Wunschzettel für den Weihnachtsmann – peinlich.
Modrows Forderung nach einem Überbrückungskredit von 15 Milliarden D-Mark wurde abgelehnt, da das Geld bei den derzeitigen brüchigen Strukturen versickern werde. Es seien aber 30 Milliarden D-Mark im Bundeshaushalt für die Kosten der Währungsunion und weitere fünf Milliarden für dringende Soforthilfen wie medizinische Geräte bereitgestellt.
Mit der Ankündigung der Währungsunion sank die Zahl der Übersiedler von Ost nach West um 86 Prozent. Und der Kurs der Ost-Mark erholte sich, weil die Ostdeutschen nun hofften, ihr Ostgeld bald 1:1 umtauschen zu können. Ich erwähne das so ausführlich, weil nun einige behaupten, der Westen habe der DDR die „Schuldenlüge“ eingeredet, dann die Währungsunion aufgedrängt und mittels der Treuhand ihre Wirtschaft ruiniert.
Hätte man die Öffnung der Mauer umsichtig geplant, wäre zunächst nur der freie Verkehr für Personen eröffnet worden, nicht aber für Waren und Geld. Danach hätten Wirtschaftsreformen in der DDR stattfinden müssen, um die Unternehmen fit zu machen für den Weltmarkt. Und man hätte die Konvertibilität der Ostmark vorbereiten müssen. Solche Szenarien rechneten mit fünf Jahren Vorbereitung für eine Währungsunion. Für eine Übergangszeit hätten Ostwaren vor den attraktiveren Westwaren durch Zölle geschützt werden können, wie das unsere östlichen Nachbarn getan haben.
Maueröffnung machte alle Planspiele zunichte
Durch die unvorbereitete Maueröffnung für Personen, Geld und Waren waren alle Optionen für einen langsamen Weg zur Währungs- und Wirtschaftsunion hinfällig. Niemand wollte nach dem Fall der Mauer eine innerdeutsche Zollgrenze errichten. Es wäre ja auch die Spitze der Absurdität gewesen, zum Schutz der Ostwaren und der Ost-Mark (einer reinen Binnenwährung, die nur bei Umtausch- und Exportverbot funktionieren konnte) die gefallene Mauer als Zollmauer wieder zu errichten und die Zahl der Übergänge zu reduzieren.
Es war ganz richtig, dass das kaum jemand wollte. Aber diese Art von Grenzöffnung hatte unvermeidlich sehr abträgliche Konsequenzen für die DDR-Wirtschaft. Den meisten Ostdeutschen ist wohl nicht bewusst, dass ihre Forderung: die D-Mark sofort und 1:1 sehr viele ostdeutsche Arbeitsplätze kosten musste, unabhängig von der Frage, ob die Treuhand ihre Arbeit gut oder schlecht gemacht hat. Aber Ostwaren produzieren und Westwaren konsumieren, das konnte auf Dauer nicht funktionieren.
Der erste Schritt zur Deutschen Einheit, die Währungs- Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990, kam als Sturzgeburt, nämlich aus guten politischen Gründen zu früh. Und sie kam als Steißgeburt, nämlich verkehrt herum mit dem letzten Schritt zuerst, zur Welt. Und niemand konnte das verhindern, nachdem die Mauer so gefallen war, wie sie gefallen ist: vollkommen unvorbereitet. Es ist eine unausrottbare Unart der Geschichte, sich nicht nach unseren Wünschen zu richten.
Eine asymmetrische Vereinigung
Zudem war die deutsche Vereinigung unaufhebbar asymmetrisch: Ein Fünftel kam zu vier Fünfteln, ein postrevolutionärer Staat in Auflösung kam zu einem stabilen und wohlgeordneten. Ein verschuldeter Staat kam zu einem finanziell gefestigten. Und weil alles schnell gehen musste, gab es keine Zeit für eine breite gesamtdeutsche Diskussion über eine neue Verfassung, die übrigens keinem einzigen Ostdeutschen den Arbeitsplatzverlust versüßt hätte. Für Verfassungsfragen interessierte sich in der DDR 1990 nur eine intellektuelle Minderheit. Die weit überwiegende Mehrheit hatte dafür gar nicht den Kopf frei, weil sie in der ersten Jahreshälfte von der Eigentumsfrage, dem Wechselkurs und der Zukunft ihrer Sparguthaben sowie Stasi-Enthüllungen umgetrieben wurde, danach von der Sorge um ihren Arbeitsplatz.
Die DDR trat der Bundesrepublik bei, allerdings – anders als beim Beitritt des Saarlands – mit ausgehandelten Verträgen und mit dem Vorhaben einer Überarbeitung des Grundgesetzes. Der DDR-Wirtschaft fehlten vor allem Kapital und Knowhow für weltmarktfähige Produkte. Technologisch war sie gegenüber der Bundesrepublik wohl mindestens zehn Jahre im Rückstand, weil sie die Elektronisierung verpasst hatte. Die ostdeutschen Kameras Exacta und Practica waren vor dem Mauerbau im Westen begehrt.Aber als die Japaner mit Autofocus usw. auftraten, wurden sie im Westen unverkäuflich. Immer lauter wurde 1990 der Ruf nach westdeutschen Investoren. Und für den Neuaufbau von Justiz und Verwaltung waren westdeutsche Aufbauhelfer willkommen, um die Zeit des „wilden Ostens“ zu reduzieren.
„Ostdeutsche haben freiwillig Westdeutsche gewählt"
Heute wird beklagt, dass im Osten auf so vielen Chefsesseln Westdeutsche sitzen. Aber wer damals mit 30 kam, hat nun mal noch sechs Jahre bis zur Rente. Und wer hat denn Westdeutsche zu Ministerpräsidenten, Richtern oberster Landesgerichte oder Bischöfen gewählt? Ostdeutsche haben freiwillig Westdeutsche gewählt. Wo ist da der Skandal? Keine Verfassungsrichter aus dem Osten und kaum Generäle – ja habt ihr denn die Herbstrevolution völlig vergessen? SED-Juristen im Verfassungsgericht – nein danke. NVA-Generäle wollten und durften nicht in die Bundeswehr übernommen werden. Ich warte noch auf die Forderung, der letzte SED-Generalsekretär Egon Krenz hätte eigentlich Vizekanzler des vereinigten Deutschland werden müssen.
Und welche Ostdeutschen würden wohl heute auf Chefsesseln sitzen, wenn es nicht zur Vereinigung gekommen wäre? In vielen ehemals sozialistischen Ländern haben Altkader auf neuen Chefsesseln Platz genommen, was die Rechtsstaatlichkeit beeinträchtigt und die Korruption durch „Seilschaften“ befördert hat. Ist es denn wirklich ein Nachteil, dass keine ostdeutschen Oligarchen entstanden sind, die sich illegal am „Volkseigentum“ bereichert haben wie in Russland?
Die These: mit Ostdeutschen auf Ost-Chefsesseln wäre alles besser, nenne ich Ost-Rassismus. Herkunft, Begabung und Charakter bedingen einander nicht. Wenn jemand seine Arbeit vorzüglich macht, ist doch egal, ob seine Eltern aus Teheran, Köln oder Leipzig kommen. Übrigens: Das Verhältnis zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen beträgt 1:5. Auf jeden interessanten ostdeutschen Posten werden sich also statistisch gesehen fünf Westdeutsche und ein Ostdeutscher bewerben. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Ostdeutsche der Geeignetste ist, liegt also unter 20 Prozent. Und mancher Westdeutsche ist obendrein ostdeutsch geprägt - weil in siebzig Jahren über sieben Millionen Ostdeutsche in den Westen gegangen sind und dort den Aufbau West seit 1945 befördert haben.
Ändern lässt sich daran nichts mehr. Das Problem wird verschwinden, wenn kein Hahn mehr danach kräht. Man kann es aber auch über Jahre noch aufblasen wie andere unabänderliche, aber für die Lebenszufriedenheit unerheblichen Unterschiede: es wird weniger vererbt, es gibt weniger Millionäre und gar keine Milliardäre (russisch: Oligarchen) im Osten. Das wird regelmäßig aufgelistet, aber welcher Ostdeutsche leidet eigentlich darunter?
Die erste Treuhandanstalt war ja noch unter Hans Modrow als DDR-Ministerpräsident gegründet worden und hat bis zum 1. Juli 1990 amtiert. Sie bestand ausschließlich aus Wirtschaftsfunktionären der DDR-Planwirtschaft. Es gibt einen Bericht des Leiters der Erfurter Niederlassung. Er fuhr dreimal wöchentlich nach Berlin zu acht Stunden Vorlesungen über die Marktwirtschaft. Das war „wie der Beginn des Erlernens einer Fremdsprache.“ Und er beklagt sich über die Betriebe, weil die keinerlei Vorschläge gemacht haben, wie sie in der Marktwirtschaft bestehen wollen.
Es gab ja zwei sehr verschiedene Treuhandgesetze. Die Treuhand nach dem Gesetz der Modrow-Regierung hatte lediglich die Aufgabe, die Unternehmen in GmbHs oder in Aktiengesellschaften in Staatsbesitz umzuwandeln, also aus dem Staatshaushalt auszugliedern. Das war schon schwierig genug. Es bedeutete nämlich die Rückverlagerung der Rentabilitätsrechnung aus den zentralen Planungsbehörden in die Unternehmen. Weitergehende Eingriffe in die Unternehmen waren nicht vorgesehen – mit der traurigen Konsequenz, dass weitgehend nichts Zukunftsweisendes geschah. Man kann nicht von (planwirtschaftlichen) U-Boot-Kapitänen erwarten, dass sie morgen als Flugzeugkapitäne taugen.
Erst die durch das Volkskammergesetz vom 17. Juni 1990 konstituierte Treuhand hatte die Befugnis, in die Unternehmen einzugreifen und die Privatisierung zu betreiben. Rund 8.500 DDR-Unternehmen wurde auferlegt, zum 1. Juli 1990, also zum Datum der Währungsunion, eine D-Mark-Eröffnungsbilanz vorzulegen. Manche Unternehmen haben sie erst nach zwei Jahren vorlegen können. Aus diesen Bilanzen ergab sich, dass die meisten DDR-Unternehmen nach der Währungsunion defizitär arbeiteten. Beim Kamerawerk Pentacon betrug das tägliche Defizit eine halbe Million D-Mark, bei Carl Zeiss Jena und der Interflug gar eine Million. Die Treuhand als Eigentümerin musste zahlen. Diese Zahlen erklären aber auch, warum manche Unternehmen sehr schnell stillgelegt werden mussten. Eine langsamere Gangart war oft schlicht unbezahlbar.
Den Aufbau des Sozialismus als „Lebensleistung" anerkennen?
Landauf landab heißt es neuerdings, die Lebensleistung Ostdeutscher sei nicht genügend gewürdigt oder gar vernichtet worden, und dies offenbar schuldhaft durch Westdeutsche. Wer im Aufbau des Sozialismus seine Lebensleistung gesehen hat, dem ist mit dem Ende der SED-Herrschaft allerdings der bisherige Lebenssinn abhandengekommen. Die überwiegende Mehrheit der Ostdeutschen gehört nicht zu dieser Gruppe. Ostdeutsche Facharbeiterinnen und Facharbeiter, Ingenieurinnen und Ingenieure, Ärztinnen und Ärzte sind überall in Deutschland anerkannt. Vor allem ihre Berufserfahrung ist ihre Lebensleistung.
Ostdeutsche können zudem stolz sein auf das, was sie in Familie und Beruf unter den erschwerenden Bedingungen von Diktatur und Mangelwirtschaft geleistet haben, aber bitte nicht stolz sein wollen auf die erschwerenden Bedingungen, die wir nie gewählt haben. Das Verhältnis der Beschäftigten zu ihrem Betrieb war einerseits eng, das Arbeitskollektiv war wichtiger als im Westen. Es war aber anderseits ambivalent, Hassliebe sozusagen. Mal fehlten Materialien, mal Ersatzteile, aber der Plan musste erfüllt werden – also wurde getrickst. Der Stolz bestand doch vor allem darin, trotzdem den Laden am Laufen gehalten zu haben. Denn über die Hälfte der Industrieanlagen war verschlissen und hätte eigentlich erneuert werden müssen.
Wenn ein Betrieb, der auf dem Weltmarkt nicht bestehen konnte, liquidiert wurde, war das doch keine Demütigung der Beschäftigten. Sie sind ja auch, wie beim Trabantwerk in Zwickau oder beim Wartburgwerk in Eisenach in neu erbaute Werke von VW bzw. Opel übernommen worden. Allerdings kann man weiter behaupten, die Treuhand hätte in beiden Fällen ca. 8.000 Arbeitsplätze vernichtet. Denn jene neuen Arbeitsplätze hat ja nicht die Treuhand, sondern VW und Opel haben sie geschaffen.
So kann man mit richtigen Zahlen in die Irre führen, was auf diesem Felde fortlaufend geschieht. Seit etwa zehn Jahren ist aber die Beschäftigungsquote in Ost und West ungefähr gleich hoch, bei beachtlichen Unterschieden innerhalb des Westens und innerhalb des Ostens. Bei anderen Großbetrieben, wie beim „Braunkohlenveredelungswerk Schwarze Pumpe“ in der Lausitz konnte allerdings kein Ersatzwerk nebenan errichtet werden, da der Ersatz, die Petrochemie, bereits in Schwedt etabliert war.
Das Gerede von vernichteten Lebensleistungen ist Unsinn. Was viele Westdeutsche nicht genügend würdigen, sind die gewaltigen Umstellungsleistungen, die allen Ostdeutschen beim Ausstieg aus Diktatur und Planwirtschaft abverlangt wurden, während sich für Westdeutsche zunächst kaum etwas änderte.
Ost und West vergleichen sich gegenseitig. Das ist unvermeidlich so, aber doch nicht selbstverständlich. Die wirtschaftlichen Parameter Westdeutschlands liegen über denen Frankreichs, Italiens, Spaniens, deren Niveau Ostdeutschland zum Teil schon erreicht hat. Vergleicht man aber Ostdeutschland mit den anderen ehemals sozialistischen Ländern, so ist Ostdeutschland bei allen Parametern mit Abstand Spitzenreiter – außer bei „Forschung und Entwicklung“. Und die Härten der Umstellungen mussten sie alle ertragen, wenn auch zeitlich gestreckt.
Der Osten rechtsextrem?
Die neueren Ost-West-Kontroversen werden stark genährt von den hohen Wahlerfolgen der AfD im Osten. Da wird nicht selten der Eindruck erweckt, der Osten sei rechtsextrem. Dabei wird allerdings völlig übersehen, dass fast die gesamte Führungsriege der AfD aus dem Westen stammt. Im Osten findet sie mehr Wähler als im Westen. Aber im südlichen Westen kommt sie auf zehn Prozent. Zehn Prozent in Bayern geht in Ordnung, aber zwanzig Prozent im Osten ist ein Skandal?
Übrigens war das in den Hochzeiten der tatsächlich rechtsextremen Parteien NPD und DVU auch schon so: da kamen aus dem Westen die Köpfe, aus dem Osten das Wahlvolk. Was ist mit dem Westen los, dass er hier immer die Köpfe liefert? Man kann es auch so sehen: nach 70 Jahren Demokratie, überwiegend verbunden mit Wohlstandszuwachs, wählen in Bayern 10 Prozent AfD, während im Osten nach nur 30 Jahren Demokratie, verbunden mit einem wirtschaftlichen Zusammenbruch, lediglich 20 Prozent AfD wählen, und also die weit überwiegende Mehrheit die AfD nicht wählt. Sondern demokratische Parteien. Genug der Zahlenspielerei. Die AfD ist ein gesamtdeutsches Problem und der Rechtspopulismus ein gesamteuropäisches, ja globales Problem. Als Hauptunterschied zwischen Ost und West taugt sie schlecht.
Es gibt, scheint mir, auf diesem Feld auch ein deutsch-deutsches Missverständnis, das mit dem Verhältnis von Patriotismus und Nationalismus zu tun hat. Patriotismus ist die Liebe zum eigenen Vaterland, so wie andere das ihre lieben. Nationalismus ist der Wahn von der Überlegenheit des eigenen Volkes über andere. Im Westen halten nicht wenige, zumal unter den Meinungsmachern, bereits den Patriotismus für Nationalismus.
In Ostdeutschland war das Bekenntnis zur Einheit der Nation seit Honeckers Machtantritt von Staats wegen unterdrückt, zugunsten des sozialistischen Internationalismus, der allerdings nur behauptet und nicht gelebt wurde. Der Text der DDR-Nationalhymne wurde erst im Februar 1990 wieder zugelassen, weil es dort hieß: „Deutschland einig Vaterland“. Es war durchaus aufmüpfig, als Leipziger Montagsdemonstranten am 6. November 1989 diese drei Worte skandierten. Weit verbreitet ist im Osten eine unbefangene Art, sich als Deutscher im Sinne des Patriotismus zu verstehen. Aber es gibt auch nicht selten das Unvermögen oder auch die Unwilligkeit, zwischen Patriotismus und Nationalismus gehörig zu unterscheiden.
Und nun kommt ein weiteres ärgerliches Missverständnis. Manche Westdeutsche, aber auch Antifa-Gruppen im Osten, sind aus meiner Sicht allzu freigiebig mit dem Vorwurf „Nazi“ oder „Rassist“. Wer im Osten angesichts der zunächst ungebremsten außereuropäischen Zuwanderung nach Deutschland 2014 und 2015 Sorgen vor Überfremdung bekam, dem wurden nicht beruhigende Argumente angeboten, sondern es traf ihn der Bannstrahl: Nazi, Rassist! Worauf der so Geächtete zu sagen pflegte: ich sage gar nichts mehr. Durch dieses voreilige Aburteilen ist aus meiner Sicht im Osten ein vermeidbarer Vertrauensverlust gegenüber Presse und Regierung entstanden, den die AfD auf ihre Mühlen leiten kann. Sie hat auf diese Weise inzwischen die Linke als Protestpartei überholt, auch, weil sie eine ausgeprägte Fremdenangst instrumentalisieren konnte.
Unterschätzte Dimension der Fremdenangst
Es wird immer wieder eingewendet, dass es doch im Osten kaum Ausländer gab. Der Einwand ist ahnungslos. Es gab in der DDR zwar nicht den Ausländer, der nebenan wohnte und in derselben Fabrik arbeitete. Gastarbeiter gab es, aber sie waren kaserniert und isoliert und arbeiteten zumeist in geschlossenen Betriebsabteilungen. Bis zur Wiedervereinigung. Seitdem wurden sie sichtbarer und neue Zuwanderer kamen hinzu. Die Gewöhnung daran ist für viele Ostdeutsche nur ein allmählicher Prozess.
Niemanden erregt das, was er gewohnt ist, wohl aber erregen unerwartete Veränderungen, wie in den ersten Monaten und Jahren nach dem 3. Oktober 1990. Und mit diesen Veränderungen verbinden sich besonders oft Befürchtungen, auch übertriebene, die dann bis zu Verschwörungstheorien auswuchern können („Umvolkung“ heißt die perfideste unter ihnen, wie sie von Neonazis gerne verbreitet wird). Aber es gibt auch viele, die sagen, bitte nicht zu schnell zu viele auf einmal und bitte nicht ohne rechtsstaatliche Verfahren. Wird diese Sorge nicht ernst genommen, sorgt das überall auf der Welt schnell für Verärgerung und ist Wasser auf den Mühlen von Feinden der Demokratie.
Dennoch: der Stand der Deutschen Einheit ist besser als ihr Ruf. Die Bereitschaft, Unterschiede unverzerrt wahrzunehmen ohne auszurasten, ist jedoch noch ausbaufähig. Dies ist meine Sicht.
Zitierweise: "Deutschland einig Vaterland“, Richard Schröder, in: Deutschland Archiv, 18.3.2020, Link: www.bpb.de/306594
Weitere "Ungehaltene Reden" ehemaliger Parlamentarier und Parlamentarierinnen aus der ehemaligen DDR-Volkskammer werden nach und nach folgen. Eine öffentliche Diskussion darüber ist im Lauf des Jahres 2021 geplant. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Jahrgang 1943, Theologe, Philosoph, Publizist und langjähriger Professor an der Evangelischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität. Im April 1990 wurde er Fraktionsvorsitzender der neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der am 18. März 1990 frei gewählten Volkskammer der DDR, später SPD-Bundestagabgeordneter und von 2003 bis 2018 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Nationalstiftung. In der bpb erschien von ihm 2014 der Band „Irrtümer der Deutschen Einheit“ (Schriftenreihe 1451).
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