Am 18. März 1990 - vor 30 Jahren - wurde das erste und letzte Mal die Volkskammer der DDR demokratisch gewählt. Der Beitrag setzt sich damit auseinander, wie das Land sich nur wenige Monate nach dem Mauerfall auf die Wahl vorbereitete. Parteien wurden neu gegründet, andere wandelten sich. Und zum ersten Mal wurden Wahlwerbespots in DDR-Fernsehen gezeigt. Was vermittelten sie? Ein Überblick.
Die Lage im Winter 1989/90
Die DDR befindet sich in Auflösung. Seit drei Monaten stehen Mauer und Grenze zum Westen offen. Tag für Tag verlassen gut 2 000 Menschen das Land. Die Mehrheit der Ostdeutschen will die schnelle Einheit. Auf den Montagsdemonstrationen in Leipzig machen ab Dezember 1989 neue Parolen die Runde: „Wir sind ein Volk!“, „Deutschland einig Vaterland“ und „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht gehen wir zu ihr!“ Anders die Bürgerbewegung. Sie fordert eine nachhaltige Demokratisierung des Landes in den Farben der DDR. Der Impuls der Reformkräfte lautet „Wir bleiben hier“ und „Bleibe im Lande und ändere es täglich!“
Die „führende Partei“ SED vor dem Offenbarungseid
Die Öffnung der Mauer sollte aus Sicht der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) politischen Druck ablassen. Doch sie hat Partei und Staat in eine Existenzkrise gestürzt. Zwar kann eine neue DDR-Regierung unter dem als Reformer bekannten Hans Modrow Mitte November 1989 die Macht zunächst sichern. Und die Partei wählt mit Gregor Gysi im Dezember 1989 einen neuen Parteivorsitzenden, der den „Apparatschik“ Egon Krenz ablöst. Die Selbstauflösung der SED und eine Neugründung der Partei werden aber abgelehnt, nicht zuletzt, um das Parteivermögen zu erhalten. Stattdessen gibt man sich einen neuen Namen: SED-PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus). Anfang Februar 1990 tilgt die Nachfolgerin die Tradition und nennt sich fortan nur noch PDS.
Doch der Zerfall der Partei ist nicht aufzuhalten. Die Zahl der Mitglieder sinkt zuletzt dramatisch. Hatte die SED im Oktober 1989 noch 2,3 Millionen Mitglieder, verliert sie im November knapp ein Prozent ihrer Mitgliedschaft. Bis zum Jahresende treten 500 000 Genossen aus der Partei aus. Ein Ende der Austrittswelle ist nicht abzusehen, im Gegenteil: Im Februar 1990 ist die PDS auf ein Drittel ihrer Mitgliederstärke vom Oktober 1989 abgeschmolzen. Bis zum Sommer 1990 beträgt der Mitgliederschwund 83 Prozent, sechs Monate später 88 Prozent. Ein Jahr später wird die PDS noch 170 000 Mitglieder haben.
Die Regierung Modrow verwaltet ein ökonomisch bankrottes Land. Die Produktivität der ostdeutschen Betriebe ist seit 1980 um 50 Prozent gesunken. Geheime Analysen geben der Parteiführung ungeschminkt Aufschluss über die Lage. Nur eine Senkung des Lebensstandards um 30 Prozent könnte 1990 eine weitere Verschuldung stoppen. Damit wäre die DDR unregierbar. Dass die DDR pleite ist, dringt im Herbst 1989 aber noch nicht an die Öffentlichkeit, weder im Osten noch im Westen. Der Bankrott sollte erst im Lauf des Jahres 1990 offenbar werden. Der Volkszorn richtet sich gegen den Luxus und Machtmissbrauch der „SED-Bonzen“, die nördlich von Berlin abgeschirmt von der Öffentlichkeit in der Waldsiedlung Wandlitz wohnen. Vor allem aber wandte sich die Wut gegen den Unterdrückungsapparat der Staatssicherheit. Am 15. Januar 1990 kommt es zum Sturm auf die Berliner Stasizentrale. Modrow kündigt die Auflösung der Geheimpolizei an. Auch seine Pläne platzen, stattdessen einen neuen Nachrichtendienst und einen Verfassungsschutz zu formen, ganz wie es sich für einen souveränen Staat gehört – aber mit dem Personal von gestern. Das war für viele ein Skandal.
Um die DDR zu retten, tritt Modrow im Februar die Flucht nach vorn an. Er formt eine Superkoalition. Neben den Vertretern der alten Blockparteien beruft er acht Oppositionelle in seine „Regierung der nationalen Verantwortung“. Sie bleiben aber Minister ohne Geschäftsbereich. Bonn schlägt er eine mehrjährige Vertragsgemeinschaft und Konföderation vor. Und er versucht, aus dem Westen eine Finanzspritze von 15 Milliarden D-Mark zu erhalten. Die Bundesregierung lehnt ab. Stattdessen bietet sie eine Währungsunion der beiden deutschen Staaten an. Und sie zieht es vor, das Ergebnis der Neuwahl der Volkskammer abzuwarten, um mit einer demokratisch legitimierten Regierung in Verhandlungen zu treten. Ende Januar 1990 hatte der Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) Michail Gorbatschow seine Haltung in der deutschen Frage revidiert und gegenüber Modrow erklärt, die Vereinigung der Deutschen werde von ihm nicht in Zweifel gezogen. Knapp zwei Wochen später gibt Gorbatschow im Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Kohl den Weg für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen frei.
Der Runde Tisch
Initiiert durch die Opposition und die Regierung Modrow ist Ende November 1989 ein Zentraler Runder Tisch einberufen worden, um eine Eskalation der Lage zu verhindern. Er ist nicht durch Wahlen legitimiert. Erstmals tagt er am 7. Dezember 1989, seine letzte Sitzung findet am 12. März 1990 statt. Er ist stets paritätisch besetzt mit Vertreter/innen der Bürgerbewegung sowie „alten“ und „neuen“ Parteien und Gruppierungen. Seine Mitglieder verstehen sich als politische Akteur/innen auf Zeit – bis der Weg zu demokratischen Wahlen in der DDR frei ist. Tatsächlich wird der Runde Tisch zu einer Art Vorparlament. Er will ein Organ der öffentlichen Kontrolle sein. Am Runden Tisch verpflichtet die Opposition die Regierung Modrow zur politischen Rechenschaft – ein für die DDR unerhörter Vorgang! Der Runde Tisch setzt die Auflösung der Staatssicherheit durch. Und er erarbeitet parteiübergreifend eine neue Verfassung der DDR. Zugleich gelingt es Modrow, die Vertreter der Opposition am Runden Tisch in die Regierung einzubinden.
Politik als Gründung von Freiräumen
Der Bürgerbewegung und neuen Opposition geht es um das Ende der SED-Alleinherrschaft, um die Abschaffung der Staatssicherheit, eine neue Verfassung, um Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit. Ihre Vordenker/innen und Protagonist/innen, die häufig aus dem protestantischen Milieu stammen, teilen bei schärfster Kritik an der SED die Hoffnung auf die Reformierbarkeit des Sozialismus. Ihre Sympathie für alternative Lebensformen ist unverkennbar. Vom Zustand der DDR-Ökonomie ist eher wenig die Rede. Den Generalstreik lehnen die Bürgerrechtler/innen ab, ebenso wie eine handstreichartige Machtübernahme. Sie üben sich in Abgrenzung zur Diktatur und in Selbstbeschränkung: „Keine politische Macht ohne demokratische Legitimation“ lautete die Devise, als im Winter 1990 die Macht gewissermaßen auf der Straße liegt. Die „Deutsche Einheit“ wird zum Reizthema. Viele Bürgerrechtler/innen fürchten den Ausverkauf der DDR. Für sie ist allenfalls eine künftige Föderation der beiden deutschen Staaten in einem europäischen Rahmen vorstellbar und nur „auf gleicher Augenhöhe“ wünschenswert.
Die westdeutschen Parteien
Erstaunlich spät gibt die SPD den langjährigen Dialog mit der SED und damit ihre „Politik der kleinen Schritte“ auf. Erst im Dezember 1989, als der DDR-Opposition keine Repressalien mehr drohen, setzt sie ganz auf die neu gegründete ostdeutsche Sozialdemokratische Partei (SDP). In der Frage der deutschen Einheit gerät sie in endlose Debatten und hinterlässt bei DDR-Bürger/innen einen zwiespältigen Eindruck. Für Irritationen sorgt vor allem Oskar Lafontaine. Der Kanzlerkandidat der SPD schlägt die Einführung von Zuzugsbeschränkungen für Übersiedler/innen vor. Anders als der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt kann Lafontaine im Osten nicht überzeugen.
Helmut Kohl dagegen wird bereits im Dezember 1989 in Dresden als „Kanzler der Einheit“ gefeiert. Vor 1989 pflegte die CDU nur spärliche Beziehungen zur SED oder zu den Blockparteien. Auch Kontakte zur kirchlich geprägten Opposition sind selten. Seit jeher beharrt die Union auf dem unvereinbaren Systemgegensatz zu den Kommunisten. Das hindert sie nicht an einer nüchternen Interessenpolitik. Erst als im Februar 1990 mit der „Allianz für Deutschland“ ein Wahlbündnis zwischen der CDU-Ost und den neuen oppositionellen Kräften Demokratischer Aufbruch (DA) und Deutsche Soziale Union (DSU) zustande kommt, hat die westdeutsche CDU ihren Partner gefunden.
Auf unbekanntem Terrain
Allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim: die Neuwahl der Volkskammer
Um dem drohenden Bankrott der DDR und dem wachsenden Druck der Straße zu begegnen, beschließt die „Regierung der nationalen Verantwortung“ unter Hans Modrow (SED-PDS) Ende Januar 1990 vorgezogene Neuwahlen zur Volkskammer der DDR für den 18. März. Es werden die ersten und letzten freien und demokratischen Wahlen in der DDR sein. Nur Monate später, am 3. Oktober 1990, wird es das Land nicht mehr geben.
Rückblende: Wahlen waren in der DDR bis 1990 eine zentral gelenkte, gleichgeschaltete Angelegenheit. Glückliche Menschen lächelten von Wahlplakaten und priesen die weise Politik der Regierung. In sogenannten Volksaussprachen verlasen die Kandidaten vorbereitete Erklärungen. Fragen mussten vorher schriftlich vorgelegt werden. Wie zuletzt noch bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 waren die DDR-Bürger/innen nur dazu aufgerufen, die von der SED aufgestellte Einheitsliste der Kandidaten zu bestätigen. Nicht Parteien oder Kandidaten, sondern die Wahlkreise konkurrierten um die höchste Zustimmungsrate. 99 Prozent sollten es am liebsten sein. Vor den Wahllokalen sangen Junge Pioniere ein Ständchen. Das Wahlvolk hatte nichts weiter zu tun, als zahlreich zu erscheinen und den Wahlschein säuberlich gefaltet in der Urne zu versenken. „Zettelfalten“ nannte der Volksmund diese Pseudowahlen. Vierzig Jahre lang sind Wahlen unter Walter Ulbricht und Erich Honecker eine Farce gewesen – fehlende Wahlkabinen und gefälschte Jubelergebnisse inklusive.
Der Wahlkampf
Ende Januar 1990 stellt sich die Frage: Wie organisiert man demokratische Wahlen und wie führt man eigentlich Wahlkampf? Materiell und personell bestens gerüstet ist die SED-PDS. Sie konnte die Enteignung ihres Vermögens durch Umbenennung statt Auflösung der Partei abwenden. Landesweit verfügt sie über eine dichte Organisation, ein Heer von hauptamtlichen Funktionär/innen und über ein Medien-Imperium: Ob bei ADN und Zentralbild, im Rundfunk und Fernsehen oder in Zeitungen, Verlagen und Druckereien – überall sitzen „gute Genossen“. Auch die ehemaligen Blockparteien können als Teil der alten Nationalen Front auf intakte, gewachsene Strukturen zurückgreifen. Den neuen Gruppierungen und der Bürgerrechtsbewegung aber fehlt es an allem. Geld ist rar. Eigene Zeitungen – Fehlanzeige! Büros mit Telefon, Kopierer und PC müssen erst eingerichtet werden. Selbst die führenden Köpfe der Opposition sind keine Vollzeit-Politiker/innen, und sie haben nur wenig Öffentlichkeitserfahrung. Auf der Suche nach ihrem Pendant im Osten leisten die westdeutschen Parteien umfassende Hilfe, allen voran die SPD. CDU und FDP folgen. Vom Infostand bis zum Wahlplakat kommt daher vieles aus dem Westen. Willy Brandt (SPD), Hans-Dietrich Genscher (FDP) und Helmut Kohl (CDU) treten auf Großveranstaltungen als „Wahlkampflokomotiven“ auf.
Das Dilemma der DDR-Opposition: Bewegung oder Partei?
Tief sitzt das Unbehagen bei der Opposition, Partei zu werden oder einer solchen beizutreten. Schließlich hat man gerade die Herrschaft einer übermächtigen stalinistischen Kaderpartei abgeschüttelt. Neues Forum (NF), Demokratie Jetzt (DJ) und Initiative Frieden und Menschrechte (IFM) verstehen sich als außerparlamentarische und basisdemokratische Bewegungen. Stark dezentral organisiert verständigen sich die Gruppen, die sich im Herbst 1989 gegründet haben, im Januar 1990 auf ihre durchaus ähnlichen Programme. Um nicht marginalisiert zu werden, schließen sie sich zum Bündnis 90 zusammen. Auch der konservative Demokratische Aufbruch (DA), ein konservatives Gewächs der Friedlichen Revolution, lehnt es zunächst ab, Partei zu werden. Als oppositionelle Gruppe innerhalb der evangelischen Kirche im Oktober 1989 gegründet, konstituiert er sich Mitte Dezember unter dem Vorsitz von Wolfgang Schnur und Rainer Eppelmann als Partei.
Andere aber wagen den Schritt: Den Anfang machen die Sozialdemokraten. Nur als Partei sehen sie eine Chance zur politischen Einflussnahme. Am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, gründet sich unter konspirativen Bedingungen und unter dem Schutz der Kirche in Schwante die SDP. Auf ihrem Leipziger Parteitag im Februar 1990 konstituiert sie sich als Ost-SPD. Junge Leute halten sie für eine ganz neue Partei. Den Gründern aber ist das Trauma von der Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD zur SED im Frühjahr 1946 allgegenwärtig. Aus der Tradition der Umweltbewegung wird bereits im November 1989 die Grüne Partei gegründet. In Chemnitz entsteht aus dem Neuen Forum im Januar 1990 die Deutsche Forumpartei (DFP). Unzufriedene Bürger/innen und Ex-Mitglieder der Blockpartei LDPD gründen im Februar die Ost-FDP. Als Neugründung ohne politische Wurzeln betritt die Deutsche Soziale Union (DSU) mit ihrem Spitzenkandidaten Hans Wilhelm Ebeling Ende Januar 1990 die politische Bühne. Sie vereint etliche kleine Gruppierungen und regionale Parteien und ist liberal-konservativ und christlich ausgerichtet.
Von den „Blockflöten“ zu eigenständigen Parteien: „Verwandlungen“
Vierzig Jahre hingen die Blockparteien am Gängelband der SED. Nun müssen sie ihre Unabhängigkeit unter Beweis stellen. In der Traditionspartei CDU (Ost) regt sich im September 1989 Unmut gegen die profillose Satellitenrolle als Blockpartei der Nationalen Front, die sie als erste verlässt. Bereits im November 1989 sagt sich die CDU unter ihrem neuen Vorsitzenden Lothar de Maizière vom Sozialismus los und verweist auf ihre unabhängige Gründung 1945. Im Dezember bekennt sich die Partei zur Marktwirtschaft, zur Einheit der Nation und setzt einen umfassenden Erneuerungsprozess in Gang: organisatorisch, programmatisch und personell. Sie bekennt sich zu einer Mitschuld an der stalinistischen Vergangenheit und distanziert sich von jeder Form von Sozialismus. Und sie sucht den Schulterschluss mit der West-CDU, doch im Konrad-Adenauer-Haus bleibt man zunächst skeptisch. Aber Anfang Februar 1990 gründen DA, DSU und CDU (Ost) in West-Berlin in Anwesenheit des Bundeskanzlers Helmut Kohl das Wahlkampfbündnis „Allianz für Deutschland“, um die nichtsozialistischen Kräfte zu bündeln.
Die LDPD unter Manfred Gerlach rettet sich staatstragend über die „Wende“, bekennt sich im Dezember ausdrücklich zur Regierung Modrow, bricht aber mit dem Sozialismus. Im Februar 1990 erneuern sich die Liberalen spät zur LDP und tauschen das alte Führungspersonal aus. Spitzenkandidat ist Rainer Ortleb. Ähnlich wie die westdeutsche CDU sympathisiert auch die westdeutsche FDP eigentlich mit den neuen, aber kleinen Oppositionsgruppen Deutsche Forumspartei (DFP) und F.D.P. Doch die ehemalige Blockpartei LDP verfügt über die bessere Organisation. Daher setzt man für den Wahlkampf auf ein Zweckbündnis der Liberalen Kräfte, den Bund Freier Demokraten, der im Februar 1990 gegründet wird. Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) und die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) – bislang politische Marionetten von Gnaden der SED – überwintern in der Regimekrise. Politisch positioniert man sich nichtssagend „in der Mitte“. Beide Parteien ziehen allein in den Wahlkampf. Dabei ist die DBD mit ihrem Spitzenkandidaten Günther Maleuda als Interessenvertretung der Landwirte nicht ohne Chancen.
Und die SED?
Sie vollführt in der Friedlichen Revolution den politischen Spagat und probt seit Dezember 1989 mit ihrem Parteivorsitzenden Gregor Gysi die Verwandlung. Denn sie hat den Beweis zu führen, dass sie zu Reformen fähig ist. Und sie muss zugleich vertraute Feindbilder pflegen. Weite Teile ihrer Mitglieder und viele Bürger/innen der DDR, die den Sozialismus nicht verloren geben wollen, erwarten zwei Dinge: eine Erneuerung der innerparteilichen Strukturen – also eine Absage an die Kaderpartei alten Typs und einen glaubhaften Beginn im Geiste eines demokratischen Sozialismus – und den Bruch mit der Nomenklatura von gestern, die unter dem Verdacht des Machtmissbrauchs und der Privilegienwirtschaft steht. Die neu gewendete PDS beharrt auf der Eigenstaatlichkeit der DDR. Sie übt sich in Dauerkritik am politischen und „kapitalistischen“ System der Bundesrepublik, und sie sieht ihre neue Aufgabe in einer konsequenten Klientelpolitik: Im sozialen und gesellschaftlichen Umbruch stilisiert sie sich mit dem Wahlkampf zur Volkskammerwahl zur vorgeblich einzigen und echten Sachwalterin ostdeutscher Interessen.
Programme zur Wahl
Kern- und Streitpunkte der Parteien und Gruppierungen sind ihre Haltung zur Deutschen Einheit inklusive Tempo und Ausgestaltung des Vereinigungsprozesses, die angestrebte Wirtschaftsform und die favorisierten Konzepte in der Sicherheitspolitik. Dabei zeigt sich, dass die Vorstellungen beträchtlich auseinanderliegen.
Das neue Medium: Wahlwerbespots im DDR-Fernsehen
Im Februar und März 1990 entstehen unter großem Zeitdruck erstmals Wahlwerbespots der Parteien, Gruppierungen und Wahlbündnisse zur Volkskammerwahl, die im DDR-Fernsehen ausgestrahlt werden. Es sind die ersten Gehversuche in der Mediendemokratie. Wahlplakate sind zur Genüge bekannt, Wahlwerbung als Film ist im Osten neu. Die Bewerber/innen um ein politisches Mandat, um die künftige Regierung oder eine wachsame Opposition setzen in der kurzen Zeit des Wahlkampfes ihre Themen, präsentieren ihre Spitzenkandidaten und bieten unterschiedliche Deutungen über die Vergangenheit, die Gegenwart der „Wende“ und die Zukunft an. Anders als in der Bundesrepublik, , in deren demokratischem System seit 1949 die Medien eine wichtige Rolle für die Meinungsbildung der Öffentlichkeit spielen und Wahlwerbung im Fernsehen seit vielen Jahren ein bekanntes Format ist, folgen viele der Wahlwerbespots zur DDR-Volkskammerwahl anderen Sehgewohnheiten der Entschleunigung. Manche erzählen eine Geschichte. Die Kurzfilme der politischen Werbung transportieren in Bild und Ton nicht allein politische Botschaften, sondern starke Emotionen. Sie bedienen sich durchweg sprechender Motive der politischen Ikonografie. Etliche Wahlwerbespots verzichten aus unterschiedlichen Gründen ganz auf Personen. Andere setzen prominent auf die neuen Gesichter und Spitzenkandidaten ihrer Parteien. Für viele von ihnen ist die neue Rolle einer öffentlichen Person noch recht ungewohnt.
Die Spots im Einzelnen
Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)
Zu sehen ist „ein Haus in Berlin, Hauptstadt der DDR“, das ehemalige ZK-Gebäude der SED – ein Arkanum der Macht, die den Kontakt zu den Massen längst verloren hatte. An der Fassade hing noch vor kurzem das berühmte Handschlag-Emblem der Partei. Bis die PDS in Partei und Staat den Neubeginn gewagt hat. Zur elegischen Musik streift ein kleines Mädchen mit seinem Stofftier im Arm durch die menschenleeren, notdürftig beleuchteten Gänge. In dem Bemühen, alles zu tilgen, was an ihre Vorgängerin erinnert, setzt die PDS ganz auf Zukunft. Dabei bedient sie sich eines altbewährten Topos: der Jugend. Doch anders als zu DDR-Zeiten werden Kinder nicht als Nachwuchs für den Sozialismus gezeigt, sondern als neugierige, unvoreingenommene Individuen, die im großen Sitzungssaal fröhlich spielen und musizieren. Ganz ohne politische Argumente und ohne führende Köpfe weicht der Wahlwerbespot ins Menschliche aus und präsentiert die SED-Nachfolgerin als reine Sympathieträgerin für alle, die an der DDR festhalten wollen. Im Finale erscheint zu dynamischer Musik der Parteiname PDS, mit dem Zusatz „Die Neue“. In schnellen Schnitten folgen Hammer und Zirkel, das Emblem der DDR, die Farben Schwarz-Rot-Gold zur DDR-Hymne und schließlich die neuen Parteifarben Rot und Blau.
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der PDS
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der PDS
In diesem Haus am Werderschen Markt in Berlin Mitte hatte die Sozialistische Einheitspartei Deutschland (SED) von 1959 bis Anfang 1990 ihren Sitz.
Das Logo der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die aus der SED hervorgegangen ist.
Bündnis 90 – Neues Forum
Das Wahlbündnis aus Neuem Forum (NF), Demokratie Jetzt (DJ) und Initiative Frieden und Menschrechte (IFM), das am 6. Februar 1990 zustande kam, erzählt eine allegorische Geschichte ausschließlich in Bildern und Tönen. Auf Dialoge und Texteinblendungen wird verzichtet. Ein Musikant am Straßenrand kann auf seinem Dudelsack die DDR-Hymne nur als Kakophonie aus falschen Tönen spielen, weil er von den vorbeifahrenden Limousinen ost- und westdeutscher „Bonzen“ mit Schlamm bespritzt wird. Allein eine sympathische junge Frau auf dem Fahrrad hält an, wendet sich ihm zu, wischt ihm den Schmutz aus dem Gesicht und nimmt ihn freundlich bei der Hand. Die wohlklingende Musik zum politischen Happy End stammt von den Beatles: All you need is love.
Standbilder aus dem Wahlwerbespot von Bündnis 90 – Neues Forum
Standbilder aus dem Wahlwerbespot von Bündnis 90 – Neues Forum
Eine junge Frau hilft dem Mann mit dem Dudelsack und wischt ihm den Matsch aus dem Gesicht.
Die Grünen
Der Wahlwerbespot versetzt die DDR-Bürger in ihre Kindheit, denn das Lied der Jungen Pioniere Ernst Thälmann, „Unsere Heimat“ (1951), eines der meistgesungenen Lieder der DDR, bildet den musikalischen Rahmen des Spots. Doch der Song verweist zugleich auf die Zensurpolitik der SED. Denn Angelika Weiz‘ Version des Liedes – neu arrangiert und mit einer zweiten kritischen Strophe versehen – war im Jahr 1989 verboten worden und hatte dazu geführt, dass die ganze LP „Heimat“ zurückgezogen werden musste. Zu sehen sind Flüsse und Ortschaften aus der Vogelperspektive und unberührte Landschaften. Doch die Heimat ist längst keine Idylle mehr, die allen gehört, sondern ausgebeutete und verschmutzte Umwelt. Die Landschaft ist zum Politikum geworden: Zerstörte und baufällige Gebäude, marode Industrien, die Braunkohle, Luftverpestung und Baumsterben setzen ihr und den Menschen zu. Das Gebot der Stunde ist es, das geschundene Land in ein ökologisches Gleichgewicht zu bringen, damit es wieder Heimat werde – mit der Partei „Die Grünen“.
Standbilder aus dem Wahlwerbespot von der Partei die Grünen
Standbilder aus dem Wahlwerbespot von der Partei die Grünen
Rauchende Schornsteine, die Dreck in die Luft blasen.
Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)
Nach einem dynamischen musikalischen Intro, wie man es von Politikmagazinen im westdeutschen Fernsehen kennt, wechselt der Spot ins Dokumentarische. Ein Zeitstrahl nennt wichtige Stationen der Unterdrückung im SED-Staat – Repressionen, die sich in der Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD zur SED (1946) auch gegen die Sozialdemokratie richteten. Doch sie ist wieder da. Die am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der DDR, unter konspirativen Bedingungen gegründete Sozialdemokratische Partei der DDR (SDP, seit Januar 1990 umbenannt in SPD) präsentiert sich als führende Kraft der demokratischen Reformbewegung und als legitime Erbin der deutschen Arbeiterbewegung. Die Gegnerschaft zur PDS ist fundamental. Einer der Protagonisten des Neubeginns, Markus Meckel, der Mitbegründer SDP, verliest in einem Wohnzimmer eine Pressemitteilung über die bevorstehende Parteigründung. Hauptthema aber ist der erste Parteitag der ostdeutschen SPD, der Ende Februar 1990 in Leipzig stattfindet. Fahnen flattern im Wind. Der neu gewählte Vorsitzende und Spitzenkandidat Ibrahim Böhme entwickelt in seiner Rede die Zukunftsvision eines wirtschaftlich florierenden, friedlichen und ökologisch sauberen Landes. Die Wahl Willy Brandts zum Ehrenvorsitzenden der Ost-SPD symbolisiert nicht nur den Schulterschluss mit der Schwesterpartei im Westen, sondern wird als Grundhaltung der SPD zur Ausgestaltung der deutschen Einheit interpretiert. Brandt sagt: „Wenn der Zug der Einheit rollt, dann kommt es darauf an, dass wenn irgend geht, niemand dabei unter die Räder kommt.“ Selbstbewusst beansprucht die SPD, die Zukunft gestalten zu wollen und dies auch zu können. Nach den Wahlen wird bekannt, dass Ibrahim Böhme Zuträger der Staatssicherheit gewesen ist, er muss zurücktreten.
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der SPD zur Volkskammerwahl der DDR im März 1990
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der SPD zur Volkskammerwahl der DDR im März 1990
Die Ost-SPD wählt Willy Brandt zu ihrem Ehrenvorsitzenden
Bund Freier Demokraten
Das spät gegründete Wahlbündnis der Liberalen setzt besonders deutlich auf die Kraft der Worte und die Farben der westdeutschen FDP, gelb und königsblau. Tafeln mit prägnanten Sprüchen und politischen Bonmots in serifenlos moderner Typografie setzen die Akzente zwischen den Ausschnitten aus Reden der Spitzenkandidaten Rainer Ortleb (LDP), Bruno Menzel (F.D.P.) und Jürgen Schmieder (DFP). Sie betonen, dass nur die Marktwirtschaft soziale Leistungen für alle sichern kann und bekennen sich zu einer Wirtschafts- und Währungsunion. Aus der Rolle eines Musterknaben der DDR im einstigen Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) leiten sie auch für die Zukunft eine hohe Leistungsbereitschaft der ostdeutschen Wirtschaft ab. Als Paten und Zeugen aus dem Westen bestätigen Otto Graf Lambsdorff und Hans-Dietrich Genscher die Bedeutung einer liberalen Zukunft für die Überwindung der wirtschaftlichen Misere der DDR. Markt, Wettbewerb und Leistung sowie die persönliche, politische und kulturelle Freiheit sind die Essentials. Den Rahmen des Spots bilden die Aussagen: „Links hatten Sie. Rechts wollen Sie nicht. Gut dass es jetzt die starke Mitte gibt.“ Und das Wortspiel „Leistung braucht Freiheit. Freiheit braucht Leistung. Freiheit i s t Leistung.“
Standbilder aus dem Wahlwerbespot des Bundes Freier Demokraten zur Volkskammerwahl 1990
Standbilder aus dem Wahlwerbespot des Bundes Freier Demokraten zur Volkskammerwahl 1990
Otto Graf Lambsdorff, der Bundesvorsitzende FDP (West)
Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD)
Der Spot der DBD ist gewollt progressiv in den ästhetischen Mitteln – grüne Fahnen, Hard Rock und schnelle Filmschnitte von Kulturlandschaften. Die Auswahl der Motive ist überraschend und manchmal ungewollt komisch. Bilder des Maroden sind ironisch unterlegt mit Louis Armstrongs „What a wonderful world“. Der sprachliche Duktus wirkt über weite Strecken steif bürokratisch. Die Selbstdarstellung der Landwirte und des Spitzenkandidaten Günther Maleuda, der habituell wie ein Protagonist des alten Regimes auftritt, mutet in der neuen medialen Welt des Jahres 1990 bereits sperrig an. Die DBD verspricht indes, die Umweltsünden der DDR-Landwirtschaft, die ausschließlich auf Ökonomie setzte, hinter sich zu lassen. Mit riskanten Formulierungen beansprucht sie Zukunftsfähigkeit: Ökologische und marktwirtschaftlich orientierte Landwirtschaft muss „kein Trauma“ und „kein Traum“, sondern kann Realität werden, wenn Bauernweisheit, wissenschaftliche Erkenntnisse und „cleveres“ Management zusammengehen.
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) zur Volkskammerwahl 1990
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) zur Volkskammerwahl 1990
Stetig hämmern die „Mauerspechte“ am Bollwerk der deutschen Teilung. Der Beton ist bereits so löchrig, dass Menschen durch die Öffnungen schlüpfen können. Wie in einem Tribunal zählt eine Stimme aus dem Off die Verirrungen einer Ideologie und Verfehlungen des alten Regimes auf: „Der Sozialismus hat Angst und Schrecken verbreitet.“ Dazu kommen die erzwungene Flucht vieler aus ihrer Heimat und der Betrug der Ostdeutschen um den Lohn ihrer Arbeit. Aus diesem Grund müssen SED, PDS und auch SPD bildlich ausgebremst werden. Nicht ganz passgenau erscheint die Meinung des Arbeiters, der sich über den Alltag in der DDR äußert: Man hatte sein Auskommen, sofern man arbeitete und „die Schnauze“ hielt. Das Wahlvolk ist aufgerufen, am 18. März die richtige Wahl für die Zukunft des Landes zu treffen. Der zweite Teil des Spots ist ganz auf Wolfgang Schnur, den Spitzenkandidat des DA, einer Partei ohne Vergangenheit, zugeschnitten. Der präsentiert sich als hemdsärmelig anpackender Politiker. Im Erzähltopos des „wir packen es an“ erläutert er seinem Gegenüber im Interview die Standpunkte der Partei. Einblendungen, die ihn im Straßenwahlkampf zeigen, signalisieren Volksnähe. Seine Rede von den „lebenszerstörenden Mißzuständen“ in Halle, Leipzig, Bitterfeld, Buna und Espenhain lassen stark vermuten, dass eine ökologische Wende einen hohen Preis kosten wird. Wenige Tage vor der Wahl wird Schnur als inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt. Auch er muss zurücktreten.
Standbilder aus dem Wahlwerbespot des Demokratischen Aufbruchs
Standbilder aus dem Wahlwerbespot des Demokratischen Aufbruchs
Wolfgang Schnur und Rainer Eppelmann bei einer Veranstaltung des Demokratischen Aufbruchs.
Deutsche Soziale Union (DSU)
In ihrem Wahlwerbespot betont die DSU zuallererst die kulturelle Einheit der Nation. Zur elegisch tönenden Hymne der Bundesrepublik präsentiert sie gesamtdeutsche Wahrzeichen vom Kölner Dom bis zum Denkmal für Goethe und Schiller in Weimar. Regionale Identitäten münden für sie direkt in föderale Strukturen und in die Wiederherstellung der alten Länder. Die Gegenwelt der SED-Diktatur – die Grenze durch Deutschland, marode Städte, die wirtschaftliche Misere – wird in harten Kontrasten dagegengesetzt. In hoffnungsfrohem Grün und mit einem fanfarenartigen Jingle unterlegt, werden die plakativen Aussagen der DSU eingeblendet. Die beiden Spitzenkandidaten, Hans Wilhelm Ebeling und Hansjoachim Walther, verbürgen sich für ein Ende aller „Sozialismen“. Sie stellen den Bürger/innen die schnelle deutsche Einheit in Aussicht, wenn sie sich nur richtig entscheiden.
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der Deutschen Sozialen Union (DSU)
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der Deutschen Sozialen Union (DSU)
Kundgebung der DSU während des Volkskammerwahlkampfes 1990 in der DDR.
Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU)
Aus der Vogelperspektive über die alten Länder – von Brandenburg bis Sachsen – sieht man die Schönheit des Landes und seiner Landschaften. Die Nahsicht aber offenbart die Verwüstungen und Wunden, die der Sozialismus geschlagen hat: eingesperrt und fast in den Ruin getrieben, 40 Jahre harte, aber fruchtlose Arbeit, allenthalben wirtschaftlicher Niedergang. Dem CDU-Vorsitzenden und Spitzenkandidaten Lothar de Maizière kommt die Rolle des vordergründig mutig entschlossenen Erneuerers zu, die er rhetorisch und habituell aber nur ansatzweise ausfüllt. Denn eigentlich ist er ein Verteidiger: Gegen die Bedenkenträger und Alarmisten von links, die politischen Gewinn aus der allgemeinen Verunsicherung der Menschen ziehen wollen, entwickelt er defensiv eine christdemokratische Agenda der sozialen Sicherheiten für Mieter, Bauern und Rentner. Als einzige „Altpartei“ thematisiert die CDU selbstkritisch ihre unrühmliche Rolle als Blockpartei, bevor sie sich im Finale als Teil der friedlichen Revolution darstellt. Seite an Seite mit ihren „Partnern“ im Westen steht sie für Freiheit, Einheit und dynamischen Wohlstand. Auch Lothar de Maizière gerät später in Stasi-Verdacht, so dass seine Karriere nicht lange währt.
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der CDU zur Volkskammerwahl 1990
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der CDU zur Volkskammerwahl 1990
Bundeskanzler Helmut Kohl auf einer Kundgebung in der DDR.
Allianz für Deutschland – Bündnis aus DA, DSU und CDU
Die Wahlwerbung der „Allianz für Deutschland“ zeigt am deutlichsten von allen Spots, dass Zeiten des Wahlkampfs Zeiten großer Versprechungen sind. Helmut Kohl wirft darin sein ganzes politisches Gewicht als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland in die Waagschale. Der Fall der Mauer wird umstandslos kurzgeschaltet mit dem Wunsch nach der deutschen Einheit. Die Dramaturgie folgt dem Topos „Was die Menschen in der DDR wirklich wollen“. Es geht um die soziale Marktwirtschaft und Wohlstand, wie er in der Bundesrepublik herrscht, und um die Einheit Deutschlands in einem freien geeinten Europa. Als verlässlicher Partner auf dem Weg dorthin, als solidarischer Unterstützer, Garant und Ehrenmann, der um das Vertrauen der „Allianz für Deutschland“ wirbt, wendet sich Helmut Kohl an die „lieben Landsleute“. Er unterstreicht mit dieser Wendung die gemeinsame Heimat und die Einheit des Landes. Als Bundeskanzler gibt er eine politische Garantie ab, alles zu tun, damit in diesem „sofort“-Verfahren niemand ins soziale Abseits gerät. Um sicherzustellen, dass es keine ungültigen Stimmen durch Mehrfach-Voten gibt, wird das Prozedere der Wahl erläutert, denn jede Stimme zählt.
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der Allianz für Deutschland zur Volkskammerwahl 1990
Standbilder aus dem Wahlwerbespot der Allianz für Deutschland zur Volkskammerwahl 1990
Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) ruft zur Wahl der Allianz für Deutschland auf und verspricht Wohlstand, Freiheit und soziale Sicherheit in einem
vereinten Deutschland.
Das Wahlergebnis
Noch Anfang März 1990 ist der Ausgang der Wahlen völlig ungewiss. Zwar geben in Umfragen vierzig Prozent der DDR-Bürger/innen der SPD den Vorzug, doch die Mehrheit ist unentschlossen. Am Ende erringt das Wahlbündnis der Konservativen, die „Allianz für Deutschland“, mit 48,0 Prozent beinahe die absolute Mehrheit. Ihre besten Ergebnisse feiern sie mit 59 Prozent und mehr in Gera, Dresden, Suhl, Erfurt und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz). Die SPD erhält nur 21,9 Prozent. Die PDS kommt auf erstaunliche 16,4 Prozent. Und Bündnis 90 wird mit 2,9 Prozent auf die hinteren Plätze verwiesen. Mit 93 Prozent ist die Wahlbeteiligung an der ersten und letzten freien Wahl zur Volkskammer der DDR überwältigend. Die große Mehrheit hat die Parteien gewählt, die unmissverständlich die D-Mark und die schnelle Einheit versprechen. Das Votum gegen weitere sozialistische Experimente, anspruchsvolle Debatten um eine neue gesamtdeutsche Verfassung (Art. 146 GG) und komplizierte Konföderationsmodelle ist eindeutig. Am 18. März fällt die Entscheidung für den Anschluss an ein erprobtes Politikmodell und an die soziale Marktwirtschaft der alten Bundesrepublik.
Hier können Sie sich die Tagesschau (20:00 Uhr) vom 18. März 1990 ansehen. Der Beitrag zur Volkskammerwahl ist direkt der erste.
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Was die Menschen im Frühling der Demokratie bewegt
Von den 400 Mitgliedern der neugewählten Volkskammer saßen nur elf Abgeordnete bereits zuvor im DDR-Parlament: fünf für die PDS, zwei für die CDU, zwei für die Bauernpartei sowie die beiden Abgeordneten der NDPD. Alle anderen sind „Neulinge“. Doch die politischen Skandale um die Spitzenkandidaten des Demokratischen Aufbruch (DA), Wolfgang Schnur und der SPD, Ibrahim Böhme, zeigen: Manche der neuen Gesichter haben eine problematische Vergangenheit: Sie waren zu DDR-Zeiten Spitzel der Staatssicherheit. Bündnis 90 und die Grüne Partei versuchen die Zeitgenossen noch einmal mobilisieren. Auf Großkundgebungen skandieren Demonstranten „Stasis raus aus der Volkskammer“. Nach der Devise Misstrauen ist gut, Überprüfung ist besser, wird eine Durchleuchtung aller Volksvertreter/innen, Staatsanwälte und Richter auf eine mögliche Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit gefordert.
Auch die neuen Gewerkschaften rufen zum Protest auf. Der inoffizielle Umtauschkurs von Mark zu D-Mark beträgt 4:1. Unter der Parole „Ohne 1:1 werden wir nicht eins“ gehen bis zu 100.000 Menschen auf die Straße. Sie wollen einen „gerechten“ Umtauschkurs für Löhne und Sparguthaben, Renten in Höhe von 70 Prozent des Nettolohns, und sie fordern ein Recht auf Arbeit in der Verfassung. Dabei offenbaren die Bilanzen der Volkseigenen Betriebe im Mai, dass zwei Drittel von ihnen wohl gar keinen Lohn mehr zahlen können, weil sie nicht überleben werden. Im Einigungsvertrag wird wenig später tatsächlich der geforderte Umtauschkurs für Löhne, Gehälter und Sparguthaben bis zu 4.000 Mark festgelegt werden. Und ein drittes Thema erregt die Gemüter der halben Nation: Der Paragraph 218, der Abtreibungen gesetzlich regelt, soll als „Errungenschaft“ der DDR-Sozialpolitik nicht der Einheit zum Opfer fallen. Abtreibungen sollen innerhalb der Dreimonatsfrist ohne Einschränkungen legal bleiben. Seit 1992 sind sie in ganz Deutschland straffrei aber rechtswidrig. Die Ausforschung und Vergiftung der DDR-Gesellschaft durch die Stasi, die Wucht der ökonomischen Verwerfungen nach 1990 und die Frage nach dem Bewahrenswerten aus der DDR bewegen die Menschen bis heute.
Der schnelle Weg in die Einheit
Die „Allianz für Deutschland“ und die westdeutsche Regierung müssen nun die hohen Erwartungen, die in sie gesetzt wurden, erfüllen: die Einführung der D-Mark, die Umstellung der Plan- auf Marktwirtschaft, gleiche soziale Verhältnisse in Ost und West und den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Das Übergangskabinett unter Lothar de Maizière (CDU) – eine große Koalition aus CDU, DA, DSU, SPD und FDP –, sieht vor allem eine Aufgabe: Als Konkursverwalterin des alten Regimes will sie die Bedingungen der Einheit entscheidend mitgestalten. Im Eiltempo muss die DDR anschlussfähig werden. Auf der Tagesordnung stehen die Wirtschafts- und Eigentumsreform, die Wiederherstellung der alten Länder und große Infrastrukturprojekte. Bündnis 90 und die PDS, die beiden Kontrahenten von einst, streiten in der Opposition erbittert für eine neue Verfassung und eine Sozialcharta. Im Westen bedienen DIE GRÜNEN antinationale Ressentiments, während die westdeutsche SPD tief gespalten ist. Ihr linker Flügel fordert ein rigoroses Nein zur Währungsunion. Sie befürchtet unkalkulierbare Kosten und soziale Verwerfungen. Damit steht sie im offenen Gegensatz zur Ost-SPD. Doch der Zug der Einheit rollt. Am 1. Juli 1990 tritt die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft. Am 3. Oktober 1990 schließlich erfolgt die nationale Einheit.
Zitierweise: "Die erste und letzte freie DDR-Volkskammerwahl“, Karin Hartewig, in: Deutschland Archiv, 10.3.2020, Link: www.bpb.de/305933
Literatur (Auswahl)
Ulrich von Alemann, Stefan Marschall (Hg.), Parteien in der Mediendemokratie, Wiesbaden 2002. Andreas H. Apelt, Robert Grünbaum (Hg.), Das letzte Jahr der DDR: Von der Volkskammerwahl zur Wiedervereinigung, Berlin 2015. Hannes Bahrmann, Christoph Links, Chronik der Wende. Die Ereignisse in der DDR zwischen 7. Oktober 1989 und 18. März 1990, Berlin 2009. Martin Gutzeit, Opposition und SED in der friedlichen Revolution: Organisationsgeschichte der alten und neuen politischen Gruppen 1989/1990, Düsseldorf 2011. Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009. Uwe Fleckner, Martin Warnke, Henrik Ziegler (Hg.): Handbuch der politischen Ikonografie. 2 Bde., München 2011. „Parolen & Polemik.“ Die Geschichte der deutschen Wahlwerbefilme. Ein Film von Wolfgang Dressler, Jutta Ackermann. DVD, Köln 2004. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009. Ed Stuhler, Die letzten Monate der DDR, Berlin 2010. Walter Süß, Der Untergang der Staatspartei, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009. Peter Weilemann, Friedhelm B. Meyer zu Natrup, Marcel Bulla, Wolfgang Pfeiler, Ulrich Schüller, Parteien im Aufbruch. Nichtkommunistische Parteien und politische Vereinigungen in der DDR vor der Volkskammerwahl am 18. März 1990, Melle 1990.
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Dr. phil.; ist freiberuflich als Historikerin tätig. Sie lebt in der Nähe einer kleinen deutschen Universitätsstadt.
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