Über Jahrzehnte gründete das bundesdeutsche Selbstverständnis nicht so sehr auf Kontinuität, sondern auf Abgrenzung. Für die NS-Zeit verstand sich dies von selbst, aber auch die Weimarer Republik bildete in Ost wie in West eine Art Negativfolie, um sich ihrer demokratischen Stabilität zu versichern.
Im Jahr der Jubiläen. Die ungewisse Republik
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Kommt die Aufarbeitung der Vergangenheit an ihr Ende, und erleben wir eine neue Fragilität des Demokratiebewusstseins? Eine Reflexion des Potsdamer Historikers Martin Sabrow über den Wandel des deutschen Selbstverständnisses 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Er plädiert für eine „Neubefragung statt Routineantworten“. Denn wie anders könne sich das seit Oktober 1990 wiedervereinigte Deutschland „einer Zukunft öffnen, die mehr sein will als bloße Verlängerung der Gegenwart“?
Vom demokratischen Neubeginn nach 1945 an dominierte in beiden deutschen Staaten ein teleologisches Weimarbild, das vom verheißungsvollen Anfang 1918/19 nicht reden konnte, ohne das unrühmliche Ende 1933 im Blick zu haben. Welche Chancen die Weimarer Republik verpasst hatte, welche Lehren aus ihrem Scheitern zu ziehen waren, solcher Art waren die Fragen, die sich von bundesdeutscher Warte an das vierzehnjährige Zwischenspiel der Demokratie richteten und in die titelgebende Formel des 1956 erschienenen Buchs von Fritz René Allemann mündeten „Bonn ist nicht Weimar“!
Mit wachsendem Abstand und besonders mit dem Auslaufen der Sonderwegsdebatte über Deutschlands belastete Ankunft in der Moderne aber verlor die Frage nach den verpassten Chancen und nachwirkenden Defiziten der ersten deutschen Republik ihre Bedeutung. Für dreißig Jahre lang wirkte die Weimarer Republik wie aus der Zeitgeschichte herausgefallen und wurden ihr ihre zukunftsweisenden Errungenschaften eher undeutlich zugerechnet. Dass sie, kaum ausgerufen, noch in den Tagen der Novemberrevolution eine wegweisende Tarifpartnerschaft begründete und unter Finanzminister Matthias Erzberger (Zentrum) die umfangreichste Reform der deutschen Finanzgeschichte zuwege brachte, auf der die deutsche Steuergesetzgebung noch heute fußt: dass sie mit der deutsch-französischen Verständigung und mit der Ausbildung des Europagedankens supranationale Handlungsräume öffnete, die noch unser heutiges Denken bestimmen; dass die Weimarer Verfassung mit der Kodifizierung von Grundrechten auch das Selbstverständnis der Bundesrepublik begründete, all das ist im öffentlichen Geschichtsbewusstsein kaum noch präsent.
Das zeithistorische Interesse in Deutschland richtet sich auf die Aufarbeitung der Diktaturvergangenheit; nicht aber auf die Selbstbehauptungskämpfe der ersten deutschen Demokratie: Wie wenig die Versailler Friedensverhandlungen von 1919 bloßes Siegerdiktat waren, wie nah das Attentat auf Walther Rathenau 1922 das Land an den Rand des Bürgerkriegs, aber auch zu einer historisch unerhörten und sich nie wiederholenden Aktionseinheit der drei Arbeiterparteien führte, wie sehr schon 1924 der Barmat-Skandal und 1929 der Sklarek-Skandal die Republik um ihren Kredit brachten, wie weitgehend nicht Brünings Sparpolitik, sondern Dawes- und Young-Plan die Krise der Weltwirtschaft unbeherrschbar machten. All diese einst leidenschaftlich debattierten Vorgänge haben keine dauerhafte Historisierung erfahren, die ihnen einen festen Platz im nationalen Gedächtnis angewiesen hätte. Sie bilden eine Lücke im gesellschaftlichen Gedächtnis, kondensiert zu kurzen und überdies sachlich oft unhaltbaren Formeln, nach denen etwa der Versailler Vertrag die Republik ruinierte, der Rathenaumord antisemitisch motiviert war, das Personal der Weimarer Politik sich als korrupt und unfähig erwies, die Härte der Wirtschaftskrise durch Brünings Sparpolitik verursacht wurde und die Weimarer Demokratie an der Unreife ihrer Bürger scheiterte.
So blieb die vergessene Weimarer Republik weitgehend ortlos, und dieser Zustand hat sich auch in den letzten Jahren nur zögernd gewandelt – etwa mit der Gründung eines Vereins „Orte der Demokratiegeschichte“ oder der Eröffnung des „Hauses der Weimarer Republik — Forum für Demokratie“ in Weimar zum 100. Jahrestag der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung in diesem Jahr. Immer noch aber ist die bundesdeutsche Geschichtspolitik auf Identität durch Abgrenzung gegründet; in der 1999 verabschiedeten und 2008 fortgeschriebenen Gedenkstättenkonzeption heißt es: „Der Bund fördert aufgrund von Beschlüssen des Deutschen Bundestages Gedenkstätten und zukünftig auch Erinnerungsorte zur nationalsozialistischen Herrschaft und zur SED-Diktatur.“ Als herausragendes Förderkriterium gilt „die Exemplarität für einen Aspekt der Verfolgungsgeschichte der NS-Terrorherrschaft oder der SED-Diktatur“. Orte der Weimarer oder Bonner Demokratie sind bislang nicht Gegenstand der Förderung.
Vergewisserung durch Aufarbeitung
Neben der Vergewisserung durch Abgrenzung, die die ersten Jahrzehnte bestimmte, hat die Bundesrepublik einen zweiten Pfeiler seiner historischen Selbstverständigung geschaffen: die Vergewisserung durch Aufarbeitung. Der Begriff Aufarbeitung verbindet sich vor allem mit Theodor Adorno, der „die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit“ in seinem berühmten Vortrag von 1959 noch eher widerstrebend musterte, weil sie „sich während der letzten Jahre als Schlagwort höchst verdächtig gemacht hat.“ Denn: „Mit Aufarbeitung der Vergangenheit ist in jenem Sprachgebrauch nicht gemeint, daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewusstsein. Sondern man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen.“
Gegen diese tradierte Auffassung des Aufarbeitens als einer aus der Handwerkssprache entlehnten Metapher der auffrischenden Instandsetzung einer abgenutzten Sache setzte Adorno eine Neudefinition der Aufarbeitung, die sich gegen das Nachleben des Nationalsozialismus in der Gegenwart richtete. Seither hat der Begriff eine semantische Karriere ohnegleichen gemacht. Seine Anlehnung an Sigmund Freuds tiefenpsychologisches Konzept des erinnernden Durcharbeitens formulierte einen durchschlagskräftigen Appell zur Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, der die Abschüttelung der Vergangenheit als „Unfähigkeit zu trauern“ mit gefährlichen politischen Konsequenzen zu lesen erlaubte.
Vergangenheitsvergegenwärtigung als Weg zur Gesundung – aus dieser erfolgreichen Einbettung des Umgangs mit der jüngsten Geschichte in einen sozialen wie politischen Krankheitsdiskurs erklärt sich der Erfolg des Begriffs Aufarbeitung, der andere Formen der Vergangenheitsüberwindung etwa durch Vergessen und Tabuisierung in den diagnostischen Rahmen von Störung und Verdrängung stellte. Dabei machte der Begriff Aufarbeitung allerdings eine bemerkenswerte Verschiebung durch. In der Tiefenpsychologie gilt das erinnernde Durcharbeiten bekanntlich als Schritt zur endgültigen Heilung mit dem Ziel des psychischen Überwindens und Loslassens. Im gesellschaftlichen Aufarbeitungsdiskurs hingegen ist nicht loslassendes Vergessen das Ziel, als dauerhafter Auftrag zur Erinnerung.
Ihren eigentlichen Durchbruch erzielte die Vergangenheitsaufarbeitung erst nach dem Ende des zweiten großen europäischen Diktatursystems und insbesondere im Zuge der Auseinandersetzung um den Umgang mit den Stasi-Unterlagen. Sie hatte lange mit der Konkurrenz des übermächtigen Gegenbegriffs der Vergangenheitsbewältigung zu kämpfen. Auch dann noch galt vielen Historikern die „emotionale Wirksamkeit“ des Terminus „Bewältigung“ gegenüber der technisch-kalten Aufarbeitung für schützenswert: „Benutzt man ‚bewältigen‘“, schrieb Bert Pampel noch 1995, „so fühlt man geradezu die Last des Problems, mit der man fertig werden muß. ‚Bewältigung‘ wirkt sprachlich persönlicher und belastender als das nüchterne und distanzierte ‚Aufarbeiten‘. Aus dieser Perspektive heraus erscheint es keineswegs mehr zufällig, daß die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit das Prädikat ‚bewältigen‘ verlangte, während man die DDR-Geschichte mehrheitlich ‚nur‘ ‚aufarbeiten‘ will.“
Entsprechend lesen sich die programmatischen Bekenntnisse heutiger Bundesregierungen. „Ohne Erinnerung keine Zukunft – zum demokratischen Grundkonsens in Deutschland gehören die Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft und der SED-Diktatur, der deutschen Kolonialgeschichte, aber auch positive Momente unserer Demokratiegeschichte“, heißt es etwa im Koalitionsvertrag der 19. Legislaturperiode.
Mittlerweile gilt die Behördenprüfung auf ihren NS-Umgang hin als eine Art Gütesiegel, um das alle Ministerien mit einer Leidenschaft konkurrieren, die binnen zehn Jahren zu einem eigentümlichen Rollentausch geführt hat: 2009 noch standen Teile des Auswärtigen Amtes den bohrenden Fragen der Historiker in kritischer Abwehr gegenüber; heute drängen oberste Verfassungsorgane mit Macht darauf, den Grad ihrer postfaschistischen Belastung prüfen zu lassen, und halten den zögernden Historikern die braunen Flecken auf ihrer Behördenweste entgegen, um die Plausibilität ihres Anliegens zu unterstreichen.
In der Aufarbeitung zeigt uns die verpfuschte Vergangenheit, wie es in Zukunft besser zu machen ist. Das Bewusstsein, aus der Vergangenheit gelernt zu haben, hat die absurde Annahme, dass Geschichte Lehren bereithalte, die man beherzigen müsse, um vor Wiederholung gefeit zu sein, zu einem quasireligiösen Glaubensartikel gemacht, der parteiübergreifend der Politik unserer Zeit ihre wertbezogene Letztbegründung verleiht.
In diesem Sinne forderte Bärbel Bohley nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990, dass die neugewählten Abgeordneten auf eine frühere MfS-Zusammenarbeit überprüft würden, um nicht zum Opfer der politischen Erpressung durch geheimdienstliche Seilschaften der alten DDR-Eliten zu werden: „Wenn die Geschichte jetzt nicht aufgearbeitet wird, dann wiederholt sich bei uns, was nach 1945 in Westdeutschland mit dem Überleben der alten Nazis im Staatsapparat — und nicht nur da — verbunden ist. Wir wollen auf unser 68 nicht zwanzig Jahre warten wie ihr.“ Im selben Denkmuster begründete das Bundesministerium für Bildung und Forschung Ende 2018 eine Ausschreibung zur DDR-Aufarbeitung mit dem programmatischen Leitsatz: „Wer seine Vergangenheit kennt, kann Zukunft gestalten.“
Im Glauben, durch Abgrenzung von der eigenen unheilvollen Vergangenheit und ihrer Aufarbeitung vor dem historischen Rückfall gefeit zu sein, fußt mit dem Selbstverständnis der geläuterten Nation auch der Geltungsanspruch Deutschlands als einer soft power, die eine wertgebundene Außenpolitik für sich in Anspruch nimmt, deren oberste Norm die Menschenrechte und nicht das Nationalinteresse seien: „Ein souveränes Europa, die transatlantische Partnerschaft, das Engagement für Frieden und Sicherheit, die Förderung von Demokratie und Menschenrechten sowie der Einsatz für den Multilateralismus — das sind die Leitplanken deutscher Außenpolitik.”
Als ein halbes Jahrzehnt zuvor Altkanzler Helmut Schmidt kühl erklärte, dass gute Außenpolitik „ nicht wertegebunden sein (soll), sondern sie soll am Frieden orientiert sein“, trieb ihn sein Gesprächspartner Giovanni di Lorenzo mit einer einzigen Frage in die Enge: „Kann es denn allen Ernstes eine vernünftige Außenpolitik geben, in der die Menschenrechte überhaupt keine Rolle spielen?“
Abgrenzung und Aufarbeitung bilden seit über drei Jahrzehnten Leitkategorien des bundesdeutschen Selbstverständnisses. Ein prägnantes Beispiel bieten die von Jahrfünft zu Jahrfünft sich steigernde Feierkult um den Jahrestag des Mauerfalls 1989. Das zeithistorische Erfolgsnarrativ schreibt den Herbst 1989 in die großen Traditionen der deutschen Freiheitsgeschichte ein: „Was 1848 noch scheiterte (und 1953 blutig niedergeschlagen wurde), fand 1989 ein glückliches, erfolgreiches Ende.“
Die Rückkehr der Ungewissheit
Fünf Jahre später scheint alles anders. „Die stetige Erosion der demokratischen Kultur setzt sich an diesem Wahlsonntag ungebremst fort“, kommentierte die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, das Ergebnis der Thüringer Landtagswahlen am 27. Oktober 2019, bei der die AfD von 10,6 auf knapp 24 Prozent hochgeschnellt ist, während CDU und SPD zusammen nur noch 30 Prozent der Wählerschaft zu binden vermochten.
Der polarisierende Umgang mit der Massenflucht nach Europa, der Aufstieg des Rechtspopulismus, die schrankenlose Verfügbarkeit der sozialen Medien haben die politische Kultur der Bundesrepublik erschüttert. Auch in Bezug auf die Vergangenheit ist alter Gewissheit neue Ungewissheit gewichen, wie sich am Umgang mit dem 100jährigen Jubiläum der Weimarer Republik ebenso offenbart wie mit dem 30. Jahrestag des Mauerfalls.
Der Befund einer vergessenen Republik gilt nicht mehr. Weimar hat in den letzten zwei oder drei Jahren im Gegenteil eine erstaunliche Renaissance erfahren und ist zu einem allgegenwärtigen Bezugspunkt von Feuilletondebatten, Jubiläumsausstellungen und Gedenkveranstaltungen aufgestiegen.
Wie aktuell die Sorge vor der Wiederkehr Weimars in der öffentlichen Diskussion unserer Zeit ist, lehrt die 2019 gezeigte Ausstellung „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ im Deutschen Historischen Museum Berlin, die ihre Besucher mit einer Eingangstafel empfing: „Die liberale Demokratie ist heute nicht mehr selbstverständlich, sondern wieder in Gefahr.“ Diese Deutung fügt sich in ein zeithistorisches Erzählmuster, das die Wiederkehr unheilvoller Tendenzen aus der Weimarer Republik beschwört und in den letzten drei, vier Jahren überraschend an Zugkraft gewonnen hat.
So wie die Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP schon seit den Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920 keine Reichstagsmehrheit mehr besaß, hat auch die Große Koalition der Bonn-Berliner Republik ihre Mehrheit mittlerweile verloren. Insbesondere der atemberaubende Niedergang der SPD ruft Parallelen zur Weimarer Republik in Erinnerung, als die SPD zwischen den Maiwahlen 1924 und den Novemberwahlen 1932 von 29,8 Prozent auf 20,4 Prozent sank und ihr ewiges Spannungsverhältnis zwischen visionärer Programmatik und staatspolitischer Pragmatik 1930 unter Reichskanzler Müller nicht anders diskutierte als heute: Wieder geht es um die Differenz von Wahlversprechen und Handlungszwängen und es scheint – 2019 wie 1930 – besonders der Parteibasis die Glaubwürdigkeit der Partei nur durch den Abschied von der Macht wiederherstellbar zu sein.
Das zweite Zeichen einer alarmierenden Parallelität liegt im schockierenden Anwachsen des Rechtspopulismus, der mittlerweile zu einer förmlichen neuen Ost-West-Spaltung geführt hat und in Sachsen und Thüringen, aber auch in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg breite Zonen der sozialen Einschüchterung geschaffen hat. Voller Furcht schaute das politische Berlin auf die ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst 2019, bei denen die AfD zwar doch nicht zur führenden Kraft im Osten aufsteigen konnte, aber doch die übrigen Parteien in Zweckbündnisse zwingt, die wenig programmatische Schnittstellen haben.
„Von den "Weimarer Verhältnissen" orakelte die Presse vor dem Urnengang in Thüringen, und dies nicht nur wegen des Umstands, dass jeder vierte Wähler in einem Land, in dem die NSDAP 1930 ihre erste Regierungsbeteiligung erreichte, seine Stimme einer Partei gab, deren dezidiert rechtsextrem auftretender Spitzenkandidat ungeniert mit seiner politischen Nähe zum Nationalsozialismus kokettiert. Der sorgenvolle Weimar-Vergleich reicht weiter: „Aber in Thüringen nun scheinen tatsächlich Weimarer Verhältnisse auf - die Situation nämlich, die in der ersten deutschen Republik zur Politikblockade geführt hatte: Zwei Parteien, eine links, die andere weit rechts, die koalitionspolitisch nichts voneinander wissen wollen, sind zusammen stärker als die Parteien dazwischen, also die breite Mitte.“
Der Weimar-Bezug hat zudem seine Abgrenzungskraft verloren. Das in die Krise geratene Selbstverständnis der Bundesrepublik zeigt sich auch darin, dass sie wieder einen legitimen Platz für Weimar, um sich der unvermuteten Erfahrung der eigenen Zukunftsoffenheit historisch zu versichern. Sie kompensiert den erschütterten Glauben an den Bruch mit der Diktaturvergangenheit durch neue Kontinuitätslinien, die die Novemberrevolution als Beginn unserer Demokratie (Wolfgang Niess) beleuchten und Weimar als unterschätztes Modell liberaler Demokratie (Jens Hacke) diskutieren.
Die erste deutsche Republik dient nunmehr als zeithistorischer Spiegel, um den Paradigmenwechsel von der Gewissheit zur Fragilität zu beglaubigen, der sich als neue demokratische Großerzählung abzeichnet. Exemplarisch die alarmierte Kommentierung der Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2017 in der politischen Publizistik: „Zum ersten Mal in der 70jährigen Geschichte der Bundesrepublik sind die gewählten Politiker und Parteien nicht in der Lage, nach einer Bundestagswahl eine Koalition auf normalem Wege und in überschaubarer Zeit zustande zu bringen. Das ist beileibe noch keine Staatskrise, Berlin ist noch lange nicht Weimar, aber immerhin haben wir es mit einer echten Krise der demokratischen Regierungsbildung zu tun.“
Ins Wanken geraten ist auch der Glaube an die Kraft der Aufarbeitung. In Bezug auf den Nationalsozialismus ist der alle politischen Lager übergreifende Erinnerungskonsens der Gegenwart durch das Aufkommen des Rechtspopulismus und seine partielle Verschmelzung mit dem Extremismus der Alten Rechten mit verstörender Wucht gesprengt worden. Seither mehrt sich öffentlich geäußerter Zweifel, ob der Glaube an die Geltungsmacht der Aufarbeitung nicht womöglich ein naiver Selbstbetrug gewesen sei.
DDR-Aufarbeitung in einer Parallelwelt?
Auch für den DDR-Fall stellt sich die Frage nach einem möglichen Versagen der Aufarbeitung. Das sich besonders in Ostdeutschland immer weiter ausbreitende Klima von Intoleranz und Menschenverachtung befördert das harsche Verdikt, dass die Aufarbeitung „ihre Aufgabe, Demokratie zu befördern, verfehlt“ habe.
Das Urteil einer zumindest im Osten Deutschlands weitgehend gescheiterten Vergangenheitsaufarbeitung kann sich auf eine jüngste Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach stützen, der zufolge nur 42 Prozent der Ostdeutschen gegenüber 77 Prozent der Westdeutschen die in Deutschland gelebte Demokratie für die beste Staatsform halten. Viele Ostdeutsche fühlten sich „immer noch fremd im eigenen Haus“, interpretierte die Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie in Allensbach, Renate Köcher, das Umfrageergebnis
In der Tat findet die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nach übereinstimmender Feststellung vieler Beobachter „in einer Parallelwelt statt“, die die breite Öffentlichkeit wenig interessiert und in starkem Maße selbstreferentielle Züge trägt.
Die nicht zuletzt von der Sorge vor einer zweiten Vergangenheitsverdrängung getriebene Gleichsetzung beider deutscher Diktaturen, die Hubertus Knabe über das MfS-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen als einem „Dachau des Kommunismus“
In der Folge dieser geschichtspolitischen Normierung zeitgenössischer Erfahrung traten öffentliches und privates Gedächtnis weit auseinander. Unter den Auspizien der Aufarbeitung entwickelte sich ein aus der Gegnerschaft zum SED-Staat erwachsenes Diktaturgedächtnis, das die DDR als historischen Unrechtsstaat konturiert und ihre Geschichte aus dem fundamentalen Unterschied von Freiheit und Unfreiheit, von Gesetzlichkeit und Willkür, von Zwangsherrschaft und Demokratie erzählt. Das Diktaturgedächtnis beherrscht den Raum der öffentlichen Erinnerung, aber es deckt sich nicht mit dem Erfahrungshorizont jenes großen Teils der DDR-Bevölkerung, der vom Umbruch 1989 mehr passiv erfasst wurde als dass er aktiv auf ihn hingearbeitet hätte, und der neben dem Gewinn auch die Kosten des Zusammenwachsens von Ost und West bilanzierte.
Neben der Diktaturerinnerung und vielfach in direkter Opposition zu ihr entfaltete sich nach 1989 ein lebensgeschichtliches Deutungsmuster, das den Umbruch von 1989 nicht in den heroischen Narrativen der mutigen Machtüberwindung fasst, sondern vor allem als unvermuteten Einbruch in die vertraute Lebenswelt.
Dieses Arrangementgedächtnis beharrt auf der Idee eines richtigen Lebens auch unter den falschen Umständen und erzählt die Geschichte der DDR weder allein vom guten Aufbauwillen noch vom restlosen Scheitern her, sondern von den Ambivalenzen eines sozialistischen Systems, in dem Hoffnung und Enttäuschung, offene Mitmachbereitschaft und versteckte Verweigerung, Integration und Ausgrenzung nahe beieinander wohnten und das gerade darin seine eigene sinnweltliche Normalität geschaffen hatte. Die Krise der Aufarbeitung beruht entscheidend auf dem Umstand, dass diese beiden Gedächtnisse nicht nur weitgehend unverbunden nebeneinander bestehen, sondern sich wechselseitig die Existenzberechtigung absprechen.
Wer die DDR-Aufarbeitung als „Endlosabrechnung“ schmäht, die ihrem „Wesen nach SED-Propaganda mit umgekehrten Vorzeichen“ sei
Der fachliche wie öffentliche Rückblick auf „1989“ hat sich zunehmend von einer isolierten Jubliäumsperspektive zu lösen begonnen und um eine diachrone Dimension erweitert, die die Vor- und Nachgeschichte des Umbruchs von 1989 hervorhebt und den kritischen Anschluss an die sozialwissenschaftliche Transformationsforschung sucht.
Zunehmend sehen sich die dramatischen Ereignisse des revolutionären Herbstes in eine „lange Geschichte der ‚Wende‘“ eingebettet
Mit dem Ruf nach Freiheit auf den Leipziger Montagsdemonstrationen im Oktober und November 1989 trat auch Pegida ins Leben, und im Umschwung von „Wir sind das Volk“ zu „Wir sind ein Volk“ steckt die Forderung nach Zugehörigkeit ebenso wie nach Ausgrenzung, die in den Worten Thomas Hertfelders der revolutionären Romanze von 1989 ihre „beunruhigende Zweideutigkeit“ verleiht.
Verlorene Abgrenzung von Weimar, desillusionierte Aufarbeitung von NS-Herrschaft und SED-Diktatur — in beiden Entwicklungen offenbart sich ein Zerfall der Gewissheiten, die die Bundesrepublik eine Generation lang und seit ihrer Fundamentalliberalisierung begleitet und stabilisiert haben. An ihre Stelle ist eine neue Fragilität getreten, die mit der allenthalben beschworenen Krise und Vertrauenskrise der Demokratie und ihrer „seit zwanzig Jahren dominanten Meistererzählung“
Das muss im 30. Jahr nach der Wiedervereinigung und eines gesamtdeutschen demokratischen Neuanfangs kein schlechtes Zeichen sein. Dass Demokratie weder selbstverständlich ist noch selbstgefällig werden darf und dass sie neben wohlgeordneten auch ruppige und schmutzige Verhältnisse kennt, zählt zu ihrem Wesen, wie Paul Nolte mit Recht betont.
Krisen sind auch Chancen, und für die Geschichtsschreibung eröffnen sie die Möglichkeit, die Weimarer Republik nicht mehr nur auf 1933 hin zu erzählen, sondern über 1945 hinaus bis zur Gegenwart zur verfolgen, und den Untergang der DDR nicht mehr nur als politischen Sieg über die Unfreiheit zu verstehen, sondern auch als kulturellen Umbruch mit langfristigen Folgen.
Neubefragung statt Routineantworten – wie anders sollte das Land sich einer Zukunft öffnen, die mehr sein will als bloße Verlängerung der Gegenwart?
Zitierweise: "Im Jahr der Jubiläen. Die ungewisse Republik“, Martin Sabrow, in: Deutschland Archiv, 6.1.2020, Update vom 1.12.2020. Link: www.bpb.de/302850
Der Historiker Prof. Dr. Martin Sabrow leitet das Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und lehrt Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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