Vor über 30 Jahren endete nicht nur die Geschichte der DDR und der Zweiteilung Deutschlands, sondern auch die des Kalten Kriegs. Beginnt jetzt ein neuer? Der Historiker Bernd Greiner gibt einen Überblick, welche Gesichtspunkte dazu gehören, von denen einige Faktoren bis in die Gegenwart wirken. Dazu zählen auch die Mechanismen, die entwickelt wurden, Spannungen wieder abzubauen und den Kalten Krieg zu entschärfen – zumindest temporär.
Was war das - der Kalte Krieg?
Der Kalte Krieg kann aus unterschiedlichen Gründen als eigenständige Epoche beschrieben werden: Nie zuvor wurde ein Streit um unvereinbare Weltanschauungen – in diesem Fall der Streit zwischen Staatssozialismus und Parteidiktatur auf der einen Seite, freier Marktwirtschaft und repräsentativer Demokratie auf der anderen – mittels der Drohung beiderseitiger Vernichtung ausgetragen, genauer gesagt mit Waffensystemen, deren Einsatz das Überleben der gesamten Menschheit in Frage gestellt hätte. Auch in Deutschland Ost und West hielten beide Bündnissysteme entsprechend umfangreiche Waffenarsenale in Bereitschaft, aber nicht nur hier.
Nie zuvor machten ganze Bündnissysteme ihre Sicherheit von der globalen Multiplikation des eigenen und einem gleichzeitigen Bankrott des konkurrierenden Gesellschaftsmodells abhängig, nie zuvor versuchten sie den jeweils anderen noch aus dem hintersten Winkel der Erde zu vertreiben. Nie zuvor investierten moderne Gesellschaften derart viele Ressourcen in Militär, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Wissenschaft, Propaganda und Kultur um eines einzigen Zieles willen – zur Demonstration ihrer Überlegenheit in einem überzüchteten Wettbewerb der Systeme.
Kurz: Nie zuvor benahmen sich Weltmächte und ihre Verbündeten jahrzehntelang so, als befänden sie sich im Krieg, ohne unmittelbar gegeneinander Krieg zu führen. Deshalb ist die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts einzigartig.
Der „historische Ort“ des Kalten Krieges
Aber nicht alles, was weltweit während des Kalten Krieges geschah, passierte wegen des Kalten Krieges. Dekolonialisierung, Globalisierung und Modernisierung wären auch unter anderen Vorzeichen zum Zuge gekommen, in veränderter Form wahrscheinlich, aber nicht minder wuchtig. Und die während des Zweiten Weltkrieges gemachten Gewalterfahrungen samt der damit verbundenen Traumatisierung und Angst waren in das kollektive Gedächtnis zahlreicher Gesellschaften ohnehin eingeschrieben.
Viele der nach 1945 geführten Kriege hingen allenfalls indirekt mit der machtpolitischen Konkurrenz der Supermächte zusammen, gleiches gilt für innenpolitische Wendepunkte wie die Bürgerrechtsbewegung in den USA, den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika oder das Aufbegehren der „68er Generation“ in Asien, den USA und Europa – von den weltweiten Umweltschutzkampagnen ganz zu schweigen, die auch ohne die Querverbindungen zu Friedensaktivisten und anderen Kritikern des Kalten Krieges die etablierte Politik unter Druck gesetzt hätten.
Die Rolle von Nuklearwaffen als „Treibstoff“ des Kalten Krieges: Aufrüstung, Rüstungskontrolle und Abrüstung
Als die UdSSR im August 1949 ihre erste Atomwaffe testete und damit das amerikanische Monopol durchbrach, trat das Wesentliche des Kalten Krieges zutage: Der Streit um unvereinbare Weltanschauungen wurde ab sofort mittels der Drohung beiderseitiger Vernichtung ausgetragen – ein welthistorisches Novum. Zudem setzte sich ein fataler Gedanke durch: Atomwaffen sind politische Waffen, wer als Großmacht glaubwürdig sein will, kann auf sie nicht verzichten. Die Nachricht von der sowjetischen Atombombe beschleunigte in den USA den Bau einer thermonuklearen Superwaffe, die ihre Energie nicht durch Kernspaltung, sondern durch Kernfusion freisetzt. Eine im Frühjahr 1954 getestete Wasserstoffbombe übertraf mit 15 Megatonnen die Sprengkraft ihres gegen Hiroshima eingesetzten Vorgängers um das 750fache. Sieben Jahre später brachte es die von der UdSSR erprobte „Zar-Bombe“ auf 50 Megatonnen und einen auf 64 Kilometer Höhe aufgetürmten Atompilz. Bis Mitte der 1980er Jahre wuchsen die Arsenale beider Supermächte auf über 60.000 Sprengköpfe, genug, um den gesamten Globus und mit ihm die Menschheit gleich mehrmals zu vernichten.
Dennoch stellte sich keine politische Ernüchterung ein. Im Gegenteil. Immer mehr Staaten strebten nach dem Besitz von Nuklearwaffen. Frankreich, Großbritannien, die VR China und Israel waren bis Ende der 1960er Jahre ebenfalls Atommächte, später folgten Indien, Pakistan und Nordkorea. Verlässliche Haushaltsdaten fehlen auf allen Seiten. Angeblich gaben allein die USA während des Kalten Krieges fünf Billionen Dollar für Weltuntergangswaffen aus. Davon abgesehen, kann die psychologische Bedeutung von Atomwaffen gar nicht hoch genug veranschlagt werden: Sie schürten das beiderseitige Misstrauen, nährten Bedrohungsängste und verfestigten Feindbilder. Auch und gerade deshalb sollten sie als der wichtigste „Treibstoff“ des Kalten Krieges gesehen werden.
“Heiße Kriege“ in der Dritten Welt
Nach 1945 wurden in der Dritten Welt in rund 150 Kriegen vermutlich 22 Millionen Menschen getötet. Diese Bilanz geht nicht allein auf die Rivalität der Supermächte zurück. In vielen Fällen gaben regionale Machtkämpfe, Bürgerkriege und Stammesfehden den Ausschlag – oder die Befreiung von kolonialer Herrschaft. Aber Ost wie West ergriffen in der Mehrzahl der Fälle politisch Partei, unterstützen ihre Günstlinge mit Geld und Waffen, entsandten Militärberater, Söldner und bisweilen auch eigene Truppen. Weil beide Blöcke in der Dritten Welt politisch, wirtschaftlich und militärisch Fuß fassen wollten, wurden lokale Konflikte intensiviert und künstlich in die Länge gezogen. Das Engagement der Supermächte eröffnete den Empfängern oft ungeahnte Handlungsspielräume. Allein die Drohung, ins gegnerische Lager zu wechseln, hielt die jeweilige Schutzmacht bei der Stange und trieb den Preis des Krieges weiter nach oben. Die Hinterlassenschaften heißer Kriege im Kalten Krieg werden auf unabsehbare Zeit spürbar bleiben: Umweltgifte und Beschädigungen des Erbguts (Vietnam), großflächig versteckte Landminen (Angola), Bevölkerungsverluste (Kambodscha, Nicaragua, El Salvador, Guatemala) oder politische Radikalisierung (Afghanistan).
Eskalation und De-Eskalation von Krisen im Kalten Krieg
20 von gut 40 Jahren des Kalten Krieges standen im Zeichen akuter politischer und militärischer Krisen. Regelmäßig wurden Truppen mobilisiert, Atombomber, Interkontinentalraketen oder Unterseeboote in Alarmbereitschaft versetzt und Eskalationsszenarien durchgespielt, um die Gegenseite unter Druck zu setzen, zu verunsichern oder gar mit unabwägbaren Risiken zu konfrontieren. In manchen Fällen gaben die Hegemonialmächte USA und UdSSR den Anstoß, bisweilen drängten „kleine Akteure“ wie Nord- und Südkorea oder Kuba in den Mittelpunkt, und mitunter griffen Auseinandersetzungen zwischen Bündnispartnern über die geographischen und politischen Grenzen der west-östlichen Paktsysteme hinaus.
Teilweise wurden die Konflikte an der europäischen „Zentralfront“ des Kalten Krieges ausgetragen, teilweise im Nahen Osten, in Asien, Afrika und Lateinamerika. So unterschiedlich die Beteiligten und die Schauplätze, so verschieden waren auch die Ursachen und Anlässe. Zeittypische, der internationalen Konstellation nach 1945 geschuldete Faktoren vermengten sich mit Impulsen aus anderen Epochen.
Trotz des unbestreitbaren Gewichts der Supermächte sollte der Blick über Washington und Moskau hinausgehen. Dass Mao den Krieg in Korea eskalierte; dass er am Ussuri 1969 einen Grenzkrieg mit der UdSSR anzettelte; dass Nordkorea die treibende Kraft beim Überfall auf den Süden des Landes war und Ende der 1960er Jahre erneut einen Vereinigungskrieg lostreten wollte; dass Fidel Castro während der Kuba-Krise keine Gelegenheit ausließ, um eine diplomatische Beilegung des Konflikts zu sabotieren, dass er für den Fall einer amerikanischen Invasion der Insel Chruschtschow gar zu einem nuklearen Erstschlag gegen die USA riet und dass er 25 Jahre später in Angola erneut die Konfrontation suchte – all dies zeigt die Grenzen der amerikanisch-sowjetischen Abschreckungspolitik auf.
In der Erwartung formuliert, es stets mit einem kalkulierbaren und im Zweifel erpressbaren Gegner zu tun zu haben, sah sie man sich allzu Akteuren gegenüber, die sich nicht einschüchtern und schon gar nicht demütigen lassen wollten, die sich also den Rationalitätserwartungen der Abschreckungsdoktrin entzogen. Insofern gibt die Politik der „Kleinen“ Auskunft über die Möglichkeiten und Grenzen einer Bändigung des Streits zwischen den „Großen“.
Auch die Beziehungen der Hegemonialmächte zu ihren wichtigsten Verbündeten waren überraschend konfliktträchtig. Zu korrigieren ist vor allem die These, dass die sowjetische Führung internationale Spannungen und Krisen durchweg als Instrument zur bündnispolitischen Disziplinierung einsetzen konnte. In vielen Fällen waren es ausgerechnet die Hintersassen in Osteuropa, vor allem die DDR, die eine Annäherung Moskaus an die Klassenfeinde im Westen als Gefährdung ihrer innenpolitischen Ordnung sahen und folglich hintertrieben.
Ebenso wenig konnten sich die USA der Disziplin ihrer politischen Freunde gewiss sein. Die Alleingänge Großbritanniens und Frankreichs sind hinlänglich bekannt, nicht zuletzt ihr Beitrag zum „kleinen Tauwetter“ Mitte der 1950er Jahre. Aber auch Kanada und die skandinavischen NATO-Mitglieder drängten in internen Konsultationen wiederholt auf Alternativen zur „Politik der Stärke“. Wie auch immer: Ob Krisen und Konflikte angeheizt oder eingedämmt wurden, hing von volatilen, in ihrer Stoßrichtung kaum berechenbaren Konstellationen und Interessen ab.
Mikrokosmen des Kalten Krieges
In jüngster Zeit nimmt das Interesse an einer Mikroperspektive auf den Kalten Krieg zu. „De-Centralizing the Cold War“, so der forschungsleitende Begriff, steht im Grunde für den Versuch, neben der Diplomatie- und Militärgeschichte – genauer gesagt: ergänzend zu ihr – die Gesellschaftsgeschichte zu Wort kommen zu lassen. Gefragt wird nach sozialen Praxen, kulturellen Gewohnheiten und wirtschaftlichen Beziehungen unterhalb des Radars der „großen Politik“.
Wollte man einen gemeinsamen Nenner dieser diversifizierten Ansätze benennen, so ließe sich von einer Thematisierung „verflochtener Parallelwelten“ sprechen – von Sphären also, die sich wechselseitig beeinflussen und zugleich auf merkwürdige Weise ihr Eigenleben behalten. „Top-down“ oder „bottom-up“-Analysen sind dabei methodisch nur von begrenztem Wert, man muss vielmehr auf Prozesse gegenseitiger Aneignung und Transformation achten.
Im Grunde geht es um Anpassungsleistungen, um eine „Übersetzung“ politisch-ideologischer „Rahmenrichtlinien“ in den Alltag, um die daraus resultierenden Reibungsverluste und Neuorientierungen. Dem entspricht die Bandbreite einschlägiger Untersuchungen: Studien zur Geschichte der geteilten Stadt Berlin stehen neben Analysen von hochgeheimen Forschungszentren in Ost und West, die einerseits auf extreme Abschottung bedacht waren und dennoch auf vielfältige Weise mit ihren zivilen Umfeldern verbunden blieben, Betrachtungen zum Alltag in Städten mit hohem Anteil ausländischer Truppen werden ergänzt um Studien zum Zivilschutz und staatlich-privaten Bunkerbau. Nicht zuletzt geht es um die Produktion und Zirkulation von Wissen und um Imaginationen von Gegenwart und Zukunft.
Ende und Erbe des Kalten Krieges
Erstaunlich ist nicht nur, wie unerwartet und wie schnell der Kalte Krieg zu Ende ging. Erstaunlich ist vor allem, dass die Umwälzung in den meisten Fällen mit friedlichen Mitteln erfolgte. Das gilt für Polen und Ungarn, die den Reformeifer Gorbatschows seit 1988 noch übertrafen, ebenso wie für die DDR. Zwar schloss die dortige Führung eine „chinesische Lösung“ – die gewaltsame Unterdrückung von Protesten wie auf dem Tiananmen-Platz in Peking Anfang Juni 1989 – nicht aus. Weil aber die Rückendeckung aus Moskau fehlte und die Massenproteste von Tag zu Tag anschwollen, schreckte man zurück.
In Rumänien hingegen erschoss die Armee tausende Demonstranten, ehe das alte Regime abtreten musste. Selbst Michael Gorbatschow setzte gegen den Zerfall der UdSSR 1990 Militär ein: in Aserbaidschan, Litauen und Lettland. Vergeblich. Am 31. Dezember 1991 hörte die Sowjetunion auf zu bestehen, zehn Monate nach der Auflösung des Warschauer Pakts und nicht mit einem „big bang“, sondern still und leise.
Gleichwohl blieb der Kalte Krieg – in Ost und West – auf unterschiedliche Weise präsent. Denkgewohnheiten, Unsicherheitswahrnehmungen, Feindbilder und Stereotype verschwinden ebenso wenig über Nacht wie die Institutionen, die zum Zwecke des Kalten Krieges aufgebaut worden waren und denselben fast ein halbes Jahrhundert lang am Laufen hielten – wobei die bürokratischen Eigeninteressen und das Beharrungsvermögen von Militärapparaten und Geheimdiensten besonders ins Gewicht fallen.
Ob man dieses komplexe Beziehungsgeflecht als „Staatlichkeit im Wandel“ oder „deep state“ bezeichnet, ist letztlich egal. Es kommt darauf an, der Frage nachzugehen, wie anpassungsfähig diese Institutionen sind oder inwieweit sie versuchen, eigene Interessen und Deutungsmacht in einem geänderten Umfeld weiterhin durchzusetzen.
Erinnerungsorte und Mythen
Die Erinnerung an den Kalten Krieg wird museal aufbereitet an den Orten des Geschehens, in Museen oder Ausstellungen. Die Interpretationen sind so vielfältig wie die ehemals Beteiligten, sie spiegeln nationale Sichtweisen oder politische Vorgaben. In Vietnam stehen die von US-Truppen verübten Kriegsverbrechen im Mittelpunkt. Südkorea schreibt eine seit den 1950er Jahren gültige Erzählung von unschuldiger Opferschaft und heldenhafter Gegenwehr fort – derweil in Ostmitteleuropa die Zeit nach 1945 vor allem als sowjetische Fremdbestimmung beschrieben wird.
In den USA und Großbritannien wird der Kalte Krieg primär als Wettlauf um die besten Flugzeuge, Panzer und Schiffe inszeniert, teilweise auch als Nervenkitzel an ausrangierten Abschussanlagen für Raketen. Museen der Teilstreitkräfte und virtuelle Orte im Internet halten die Erinnerung in Russland wach. In Deutschland sind Atombunker, Überbleibsel an der deutsch-deutschen Grenze und für die Flucht aus dem Osten gebaute Tunnelanlagen zu besichtigen, mehrheitlich aber Relikte staatlicher Überwachung und Haft in der DDR. Insgesamt ist ein Defizit besonders auffällig: Nirgendwo wird der Kalte Krieg bisher als weltumspannende Geschichte erzählt.
Gedanklich überlebt hat der Kalte Krieg auch in Gestalt seiner taktgebenden Mythen. Mythen stehen – egal zu welcher Zeit und an welchem Ort – unter anderem für den mehr oder weniger zielführenden Versuch, das Unverstandene und nicht Verstehbare zu bändigen. Konsequenterweise avancierte der Spion in Ost und West zum mythologischen Prototypus seiner Zeit. Seinem geheimnisumwitterten Treiben konnte man alles und jedes zuschreiben: den Ausbruch von Kriegen, technologische Rückschläge, innenpolitische Unruhen.
Zugleich nährte die Jagd auf Spione auch die Illusion, das verdinglichte Böse buchstäblich aus der Welt schaffen zu können. Andererseits setzte der Kampf gegen das Geheimnisvolle strikte Geheimhaltung voraus. Genauer gesagt den Aufbau von Apparaten und Institutionen, die für das Versprechen von Sicherheit einen vertrackten Preis forderten: Abschottung, Intransparenz, Exklusion.
Damit aber schließt sich der Kreis. Wird gesichertes Wissen rar, schlägt die Stunde politischer Spekulanten und all jener, die Fiktives zum Faktischen erklären und umgekehrt. Im Verfertigen von Verschwörungstheorien haben sie ihre Beschäftigung und eine bis heute stetig wachsende Kundschaft gefunden – denn nichts bedient die Erwartung an Teilhabe, Offenbarung und Wissen besser als die Skandalisierung des Arkanums und der Diskurs über mythenumrankte Verschwörungen in Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft. Selbstverständlich hat es dergleichen auch vor 1945 gegeben; aber für Verschwörungstheorien wirkte der Kalte Krieg wie politisches Doping.
Wie hängt der Kalte Krieg mit unserer Gegenwart zusammen?
Eine weithin unterschätzte Grundfrage ist, welchen Beitrag geschichtliches Wissen über den Kalten Krieg für eine politische Zeitdiagnose leisten kann? Einen erheblichen - unter mehreren Gesichtspunkten:
Konfliktmoderation
Wer den Kalten Krieg hauptsächlich als Epoche von Krisen und Kriegsgefahr beschreibt, erzählt eine unvollständige Geschichte. Nicht minder relevant – und mit Blick auf aktuelle Verwerfungen ebenso aufschlussreich – sind die Versuche zur Moderation und Eindämmung dieses Konflikts. Sie markieren Knotenpunkte, an denen scheinbar eingefrorene Denk- und Handlungsmuster verflüssigt und Grenzen des Sag- und Machbaren getestet, umgangen oder gar außer Kraft gesetzt wurden.
Für Historiker ist dieses Kapitel des Kalten Krieges wegen zahlreicher Forschungs- und Wissenslücken eine fachwissenschaftliche Herausforderung. Vor dem Hintergrund der sich seit Jahren eintrübenden internationalen Beziehungen dürfte es aber auch für die politische Bildung und die öffentliche Diskussion im Allgemeinen von Interesse sein. Ertragreicher als die vordergründige Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen alten Eskalationsmustern und einem „neuen Kalten Krieg“ erscheint eine derartige Herangehensweise in jedem Fall.
Auf der nördlichen Halbkugel wird die zwischenstaatliche Moderation von Krisen und Konflikten als Entspannungspolitik oder Detente bezeichnet. Seit den späten 1960er Jahren forciert, setzte sie klassische Prinzipien der Diplomatie wieder in ihr Recht: Unterschiedliche Wertvorstellungen und scheinbar unvereinbare Interessen sollen kein Hemmnis für Verhandlungen sein, auch hartnäckige Feindbilder können durch persönliche Gespräche abgebaut werden, regelmäßige Kontakte bringen in ruhigen Zeiten Bewegung in die Politik und beruhigen sie, sobald schwere Wetter aufziehen.
Es ging also um die Produktivität von Entschleunigung und um Kommunikation als Wert an sich. Wer der Versuchung des schnellen Urteils widersteht, kühlt Emotionen ab, gibt allen Beteiligten die Chance zur Selbstkorrektur und öffnet Spielräume. Und bewertet Interessenausgleich, Kompromiss und den Respekt vor legitimen Sicherheitsinteressen der anderen Seite höher als ideologische Diskreditierung und politische Bloßstellung.
Die Rede ist also vom Goldstandard bilateraler wie multilateraler Beziehungen – von Vertrauen. Bestand die klassische Politik des Kalten Krieges darin, den Gegner über die eigenen Absichten im Unklaren zu lassen und mit fortgesetzten Nadelstichen zu verunsichern, also mit Vorsatz Misstrauen zu säen, so bezeichnet Entspannungspolitik den beiderseitigen Verzicht auf derlei psychologische Abnutzungsstrategien. Das neue Credo fußte auf dem altbekannten Leitmotiv: Sobald Kontrahenten weniger übereinander und stattdessen mehr miteinander reden, versetzen sie sich in die Lage, Strittiges nicht allein vom eigenen Standpunkt, sondern auch aus der Perspektive des Gegenübers zu beurteilen.
Angestoßen wurde ein Lernprozess mit ungewissem Ausgang, gepolstert vom Willen zur ideologischen Entgiftung. In jedem Fall wurden Berechenbarkeit und Verlässlichkeit wieder zu politischen Primärtugenden. Und Empathie galt nicht länger als Zeichen von Schwäche, sondern von aufgeklärter Souveränität.
Grenzen, Grenzüberschreitungen und Grenzgänger
Die angeblich hermetisch voneinander abgeschotteten Lager des Kalten Krieges erweisen sich bei näherer Betrachtung als überraschend porös – nicht, weil die Protagonisten es so wollten, sondern weil sie nicht immer Herr über die von ihnen angestoßenen Entwicklungen waren. Auf Grundlage dieser Hypothese erschließt die zeithistorische Forschung neuerdings Themenfelder, die lange Zeit ignoriert worden waren: Wann, wo, unter welchen Umständen und von wem wurden die Grenzen des Sag- und Machbaren getestet, umgangen oder gar außer Kraft gesetzt? Wann und wo wurde der „Eiserne Vorhang“ durchlässig? Welche blockübergreifenden Austauschprozesse – in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur – kamen in Gang? Welche Hürden konnten genommen werden, welche erwiesen sich als unüberwindlich oder gar irreversibel?
Gegenläufiges, Beharrendes und Öffnendes während des Kalten Krieges zu thematisieren, schärft den Blick für Eigendynamiken und nicht intendierte Konsequenzen, kurz: für die Bruchstellen in scheinbar festgefügten Ordnungen.
Damit treten zugleich „Grenzgänger“ in den Blick, Akteure aus nahezu allen politischen und gesellschaftlichen Milieus, die sich mit der zeittypischen Abschottung, Exklusion und Sprachlosigkeit nicht abfinden wollten und im Rahmen ihrer Möglichkeiten die fixe Idee des Unvereinbaren und Unverhandelbaren in Frage stellten. Die Rede ist von Unternehmern, Bankern und Wissenschaftlern, Vertretern von Parteien und Kirchen, von Umweltschützern, Abrüstungsexperten und Juristen, von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionellen und Dissidenten, kurz: von global vernetzten Privatleuten, Nicht-Regierungsorganisationen oder politikberatenden „Think Tanks“, die eine Paralleldiplomatie unterhalb der staatlichen Ebene betrieben.
Obwohl „Grenzgänger“ im Osten unter ungleich schwierigeren Bedingungen als ihre westlichen Ansprechpartner agierten und sich im Unterschied zu diesen nicht auf den Rückhalt politisierter Zivilgesellschaften verlassen konnten, ist eine aus beider Perspektive erzählte Geschichte des Kalten Krieges dennoch sinnvoll. Sie kann Begegnungen, wechselseitige Beeinflussung oder Entfremdungsprozesse sichtbar machen und vor allem verdeutlichen, wie durchlässig die Grenzen tatsächlich waren.
Mit den „Grenzgängern“ des Kalten Krieges betrat ein neuer Typus politischer Aktivisten die Bühne: Experten für Abrüstung, Menschenrechte, Umwelt und Völkerrecht. Jenseits des etablierten Politikbetriebs arbeiteten sie in Bürgerkomitees oder berieten transnationale Friedensinitiativen von Ärzten und Naturwissenschaftlern. So wurde Außen- und Militärpolitik seit den 1970er Jahren immer mehr zu einem zivilgesellschaftlichen Anliegen.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass in den Debatten über Friedens-, Menschenrechts- und Umweltfragen nicht nur fallbezogenes Expertenwissen ausgetauscht wurde. Verhandelt wurden in erster Linie alternative Politikentwürfe und Zukunftsvisionen jenseits des Kalten Krieges – sei es in Gestalt kooperativer, aus dem Korsett militärischen Denkens gelöster Sicherheitsarchitekturen, sei es in Form demokratischer Partizipationsmodelle, die sich nicht der Logik eines systemkonformen Blockdenkens fügten.
Vor diesem Hintergrund sollte es möglich sein, eine seit Jahr und Tag virulente Debatte auf einer belastbaren Grundlage weiterzuführen: Ob und in welchem Maße grenzgängerische Gegenexperten tatsächlich zu einer Auflockerung erstarrter Fronten beitragen konnten und welchen Anteil sie an der Überwindung des Kalten Krieges hatten.
Blockfreie und Neutrale
Grundsätzlich sollte der Kalte Krieg als globale Verflechtungsgeschichte analysiert und beschrieben werden. So wichtig die Hauptakteure des Konflikts – die USA und die Sowjetunion – waren, so überholt ist die Vorstellung einer in Zentrum und Peripherie aufgeteilten Welt samt der Annahme, dass Hegemonialmächte je nach Gusto und Gelegenheit andere wie Schachfiguren hätten bewegen können. Vielmehr geht es um eine ironische Pointe: Je weiter die konkurrierenden Machtblöcke des Nordens in den globalen Süden vordrangen und dort um Verbündete, strategische Bastionen und ökonomische Ressourcen buhlten, desto mehr riskierten sie eine Überdehnung ihrer materiellen und ideellen Ressourcen. Nolens volens mussten sie auf die Dienste vermeintlich Schwacher in Asien, Lateinamerika und Afrika zurückgreifen, mitunter auch auf buntscheckige und wenig berechenbare „Koalitionen von Willigen“.
Auf diese Weise konnten kleine und mittlere Akteure Handlungsspielräume ausbauen und Gewinne einstreichen, die ihnen in anderen Konstellationen vermutlich verwehrt geblieben wären – vorweg bei der Finanzierung wirtschaftlicher Prestigeobjekte oder beim Ausbau ihrer geheimdienstlichen und militärischen Machtapparate. Mitunter sah es gar so aus, als wedelte der Schwanz mit dem Hund.
Obwohl die meisten Blockfreien in der Praxis oft weit hinter den selbst gesteckten Ansprüchen zurückblieben – d.h. in ihren eigenen Ländern gegen Menschenrechte verstießen, zwecks Aufwertung ihres außenpolitischen Status Militärhilfe von den Supermächten akzeptierten oder wie Indien und Pakistan gar gegeneinander Krieg führten – nicht zu bestreiten ist, dass sie sich immer wieder um eine Mediation zwischenstaatlicher Konflikte sowie um den Aufbau regionaler Sicherheitssysteme bemühten. Gerade Titos Rede von der „aktiven friedlichen Koexistenz“ steht für den mit langem Atem betriebenen Versuch, die konfrontative Handlungslogik des Kalten Krieges zu durchbrechen.
Mit Tito und seinen Mitstreitern rückt zugleich das für die Blockfreien wichtigste Forum in den Blick, die Vereinten Nationen. Sie waren nicht allein der Ort, an dem die taktgebenden Dynamiken der Zeit ihre politische Sprache fanden: Globalisierung, Dekolonialisierung und Kalter Krieg. Am Beispiel der UNO lässt sich vor allem rekonstruieren, wie es um die ausgleichenden Potentiale des „globalen Südens“ insgesamt bestellt war.
Ängste, Feindbilder, Angstunternehmer
Diffuse Ängste standen im emotionalen Zentrum des Kalten Krieges. Gewiss gehört Angst zur psychologischen Grundausstattung aller Gesellschaften, zweifellos hat es nie angstfreie Epochen in der Menschheitsgeschichte gegeben. Im Kalten Krieg war dergleichen weit mehr als ein steinerner Gast.
Angst und die Suche nach Mitteln zu ihrer Einhegung okkupierten die politische Vorstellungswelt, wie bereits ein flüchtiger Blick nach Ost und West zeigt: Im November 1952 wurde der vormalige Generalsekretär der tschechoslowakischen KP, Rudolf Slánský, als angeblicher Kopf eines „Verschwörungszentrums“ zum Tode verurteilt. Es war der Höhepunkt einer Serie von Schauprozessen und Verfolgungswellen im Ostblock, die vor niemandem – auch nicht vor Kommunisten – halt machte. Die ständige „Säuberung“ der Gesellschaft und der eigenen Reihen war Ausdruck politischer Paranoia und zugleich Instrument der Gleichschaltung des gesamten politischen Lebens. Als Slánský im Dezember hingerichtet wurde, waren die Gegner der Kommunisten im Ostblock längst verstummt, emigriert, verhaftet oder ermordet.
Auch im Westen grassierte die Furcht vor „Unterwanderung“. In den USA kam es seit den späten 1940er Jahren zu einer wahren Hatz auf Lehrer, Schauspieler und Journalisten, die als Mitläufer des internationalen Kommunismus verunglimpft wurden. Die KPUSA spielte zu diesem Zeitpunkt im öffentlichen Leben längst keine Rolle mehr. Auch in der Bundesrepublik fristete die KPD ein Schattendasein, als sie 1956 verboten wird. Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig verlängern – bis hin zu den inflationierten Ängsten vor einem Atomkrieg in den 1980er Jahren.
Verdeckte und “hybride“ Kriegsführung
„Verdeckte Kriegsführung“ spielte eine überragende Rolle im Kalten Krieg. Gemeint ist, Einflusszonen der Gegenseite zu destabilisieren und den eigenen Machtbereich gegen „Unterwanderung“ abzuschotten: mit wirtschaftlichen und geheimdienstlichen Instrumenten, mit ideologischen Kampagnen und Söldnern. Dabei wollten Ost wie West nicht als Drahtzieher in Erscheinung treten. Neben Afrika war Mittel- und Lateinamerika der Hauptschauplatz.
In Guatemala ermöglichte die CIA 1954 einen Militärputsch gegen die Regierung unter Jacobo Arbenz, in Chile wurde der sozialistische Präsident Salvador Allende 1973 mit Unterstützung der USA während eines Staatsstreichs getötet, auf Kuba wollte Washington einen Regimewechsel erzwingen. Seit den 1970er Jahren intensivierten die UdSSR und ihre Verbündeten verdeckte Operationen in Angola, Guinea-Bissau und Mozambique: die Ausbildung von Militär, Polizei und Guerillas, Waffenhilfe und Mordkomplotte waren auch hier die Mittel der Wahl. Kuba betrieb dabei einen besonders hohen Aufwand – meistens ohne Rücksprache mit Moskau. Um ein weiteres Ausgreifen Havannas zu unterbinden, eröffneten die USA in der Spätphase des Kalten Krieges eine geheime Front in Nicaragua und El Salvador.
Nach dem Ende des Kalten Krieges: Was ging schief?
Seit 1991 brachen ehemals tiefgefrorene Konflikte wieder auf, etwa in Jugoslawien und auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR. Zugleich entstanden neue Brandherde – vornehmlich im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika.
Das Festhalten an alten Macht- und Einflusssphären blockierte eine kooperative Konfliktlösung seitens der Großmächte und verstellte nicht zuletzt den Weg zu einer neuen Sicherheitsarchitektur in Europa und Asien – dies war der Preis der Ausdehnung von NATO und EU nach Osten und der Preis für den versäumten Brückenbau zu Russland. Obendrein steckten und stecken alle Atommächte Milliarden in die Modernisierung ihres nuklearen Arsenals und unterlaufen damit wichtige Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen, beispielsweise den 1987 geschlossenen INF-Vertrag. Dessen Aufkündigung am 1. Februar 2019 durch Donald Trump setzte den Schlusspunkt unter eine Entwicklung, die sich schon unter den Amtsvorgängern des unberechenbaren US-Präsidenten abgezeichnet hatte.
Noch mehr beunruhigen die neuerlichen Konflikte zwischen den USA, China, Russland und Europa, insbesondere rund um die Ukraine, und ganz zu schweigen vom Dauerstreit mit dem Iran und dem anhaltenden Ringen um Einflusszonen in Syrien. Viele Drohgebärden erinnern an Momente des vergangenen Kalten Krieges. Im klassischen Sinne kann der Kalte Krieg als abgeschlossene Epoche gelten. Überdauert hat indes das Streben nach Machtausdehnung und Gewinnmaximierung zu Lasten der Konkurrenz – ein Resultat des Unwillens oder der Unfähigkeit, Vertrauen zur Leitwährung internationaler Beziehungen zu machen und damit die Basis eines belastbaren Friedens zu schaffen.
Zitierweise: "Spuren und Lehren des Kalten Kriegs“, Bernd Greiner, in: Deutschland Archiv, 2.1.2021, Link: www.bpb.de/302841
Prof. Dr. Bernd Greiner , Historiker, Amerikanist und Politologe; Lehrtätigkeit an der Universität Hamburg und dem Hamburger Institut für Sozialforschung, langjähriger Leiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg (www.berlinerkolleg.com). Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Gewalt, zur US-amerikanischen Geschichte und zu internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Darunter: Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans (1995); A. World at Total War (hg. zusammen mit Roger Chickering und Stig Förster, 2003); Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam (2007); Die Kuba-Krise: Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg (2010); 9/11: der Tag, die Angst, die Folgen (2011) sowie seit 2006 Herausgeber (zusammen mit Christian Th. Müller, Tim B. Müller, Dierk Walter und Claudia Weber) einer sechsbändigen Reihe "Studien zur Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges". Derzeit konzipiert Greiner für die bpb ein aktualisiertes Dossier über den Kalten Krieg.
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