Gitta (Berlin-Treptow, Sekretärin, im November 1989 28 Jahre alt) entschloss sich im September 1989 mit ihrem Mann und den beiden Kindern in die BRD über Prag zu flüchten, nachdem sie Hans-Dietrich Genschers Rede dort gehört hatten. Wie tausende anderer DDR-Bürger gelangt die Familie auf höchst abenteuerliche Weise erfolgreich über die Prager Botschaft nach Westdeutschland. Gitta erzählt ihre Ausreise VOR dem Mauerfall in dramatischer und emotionaler Weise. Als ein Beispiel unter vielen.
1. Vorboten von Umbruch und Mauerfall
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1 (a) Interview mit Gitta über ihre Ausreise über Prag im Oktober 1989
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Individueller und gesellschaftspolitischer Hintergrund
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Ausschnitt des Interviews mit Gitta und Transkription
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Situativer Kontext
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Sprache und Kontext
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1 (b) Interview mit Wolf über die Demonstration am 1. November 1989 auf dem Alexanderplatz
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Individueller und gesellschaftspolitischer Hintergrund
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Ausschnitt des Interviews mit Wolf und Transkription
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Situativer Kontext
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Sprache und Kontext
1 (a) BW 10 Gitta (Ost) Ausreise über Prag im Oktober 1989
Individueller und gesellschaftspolitischer Hintergrund
Gitta (Berlin-Treptow, Sekretärin, im November 1989 28 Jahre alt) entschloss sich im September 1989 mit ihrem Mann und den beiden Kindern in die BRD über Prag zu flüchten, nachdem sie Genschers Rede dort gehört hatten. Wie tausende anderer DDR-Bürger gelangt die Familie auf höchst abenteuerliche Weise erfolgreich über die Prager Botschaft nach Westdeutschland. Gitta erzählt ihre Ausreise VOR dem Mauerfall in dramatischer und emotionaler Weise.
Ausschnitt des Interviews mit Gitta und Transkription
Sound der Einheit: Gitta (BW_E_10)
001 GITTA
und denn saßen wa bei meim bruda ina wohnung und ham jefeiert und da ham wa halt gesehn daß der herr genscher auf em balkon stand in der prager botschaft^ ((Ausatmen)) und daß die leute dort ausreisen durften was uns natürlich noch mehr mut jege:bm hat^ * ja * und damit ham wir uns eigntlich die nacht entschlossen * wir fahren auch als familie wir versuchen dis auch * wir ham uns jesacht wenn so viele leute mit kindan die ganzen familien ((Ausatmen)) * wenn wir alle zusamm sind und zusammhalten dann kann uns eigntlich nich 'viel passiern sag ich mal
0002 GITTA
(1.3) u:nd naja dann bin ich halt nachts mit meiner schwägerin erst zu mein eltern gefahrn_ * hab mich dort verabschiedet * was uns sehr schwer fiel_ * aber wir ham jesacht wir gehn unsern eignen weg wir versuchen die möglichkeit * machen das beste aus unsam lebm ((Ausatmen)) dann sind wa halt inne wohnung gefahrn^ und ham die wichtigsten unterlagen geholt * paar * sachen noch * für die kinda * u:nd naja dann sind wa halt nächstn morgen losgefahrn zu den kindan ham wa gesacht wir fahrn in urlaub^ weil das warn montag gewesen^ * und dann sind wa üba die prager grenze gefahrn^ * wo wir halt dachten wir werden jetzt stark kontrolliert was nich war_ * da warn ja die kontrolln schon sehr verschärft jewesen_ * jedenfalls warn wa froh daß wir halt drübm warn_ * hattn wa die erste hürde schon geschafft^ * dann * sind wir rein zur prager botschaft was eigntlich 'auch erst nich so einfach war wir mußten erstmal die prager botschaft 'su'chen da hat uns halt n taxifahra geholfen_ ich bin vorgefahrn mit ihm und mein mann mit dem trabi hintaher^ * 'so_ * und dann ((Ausatmen)) ham wa * der ähm der taxifahra sagte ((Ausatmen)) wir solln uns nach leutn umschaun die halt auch aus der de-de-er sind nach merkmaln kindawagen und so
0003 OL
hm_ ja ja_
0004 GITTA
was ja doch einheitlich war * ((Ausatmen)) u:nd naja gut ham wa uns halt n paar leute gesucht^ und ham auch guten kontakt gleich gehabt wir warn erst essen_ und da hatten se uns halt erzählt ((Ausatmen)) daß sie schon zur botschaft jegangn sind und daß die sehr streng bewacht wird ringsherum * und daß da erstma gar kein reinkomm wäre ((Ausatmen)) und da ham wir uns entschlossn wir schaun uns die sache auch erstmal einmal an ham alles im 'auto gelassen_ wir ham gar nix mitgenomm und sind erstma hoch und ham uns würklich an diesen posten vorbeijeschlichen^ ((Ausatmen)) und da standn wa halt denn vor der botschaft und da warn fernsehteam jewesen und die frachten? wollt ihr 'rein^? *? o:da^ * wollt ihr ebend halt nur gucken_? und da ham wir jesacht na wir möchten unbedingt rein und da ham die denn jesacht wir solln klopfen wat det zeug hält * ((Ausatmen)) wat wir denn och gleich jemacht ham
0005 OL
hm_ hm_ *
0006 GITTA
und son herzklopfen glob ick hat ick noch nie dit war sone angst jewesen_ und wie die türn aufgingn auch sone erleichterung daß wir erstmal alle jeheult ham_ * ja_ * wir warn so froh jewesen uns war allet egal
0007 OL
hm naja sicher hm
0008 GITTA
was hintaher war nich^
0009 GITTA
papiere warn im auto was wa au nich mehr wiederjekricht habm *
0010 OL
hm hm
0011 GITTA
den trabi den ham meine eltern denn nachher aufjespürt ((Ausatmen)) mit einzelteilen von sachen den rest ham se jeklaut ne^
0012 OL
hm
0013 GITTA
samt unterlagen und so * also es-vau-ausweis und so
0014 OL
ach so dit hattest haste au nich weita mit ne ach so
0015 GITTA
nee na ick hab ja nüscht von mir hat ja nur ein
0016 OL
(in-a tasche oda so) ach gar nüscht von dir
0017 GITTA
nee_ w. hat halt seinn alten noch aber der neue
0018 OL
hm
0019 GITTA
is ebend auch weg ((Ausatmen)) naja denn warn wa in der botschaft gewesen ((Ausatmen)) * die sich würklich nach und nach würklich füllte_ * und denn ham wa immer schon ausschau gehalten nach den 'andern leuten die wa da jetroffen hatten in prag
0020 OL
ja
0021 GITTA
die ja nun och reinwollten ((Ausatmen)) und da ham wa denn nachher vom fenster vom 'toilettenfenster aus jesehen daß die ne barrikade jebildet ham kinda vor mit fraun und kinda ja^ ((Ausatmen)) und die männer hinterher weil die würklich
0022 OL
hm
0023 GITTA
mit waffen auf die jezielt hatten * und die sind einfach den leuten entgegenjegangn_ * und und die polizisten sind denn denn auch ausjewichen ja^
0024 OL
hm^
0025 GITTA
und denn warn ebend viele drinne die füllte sich so schnell die botschaft erst hatten wa 'ein bett für jedes kind^ * zum schluß lagen fünf kinder^ in eim bett und die mütter standen da rum_ * ja_ mipm essen war o:ch knapp jewesen^
0026 OL
hm hm
0027 GITTA
det war hieß immer lange anstehn^ * trinken war och wenich aber die de-r-ka schwestern ham würklich * für die klein kinder^ ham die
0028 OL
hm
0029 GITTA
jemacht und jeta:n wir hatten windeln da? ja? ((Ausatmen)) und babynahrung hat man jekricht
0030 OL
hm hm^
0031 GITTA
ja_ ((Ausatmen)) * naja_ und denn * denn hießet wir komm 'nich raus aus der botschaft ((unverständlich))/ doch erst hieß es wir sollten raus nach dem zweiten tag ((Ausatmen)) und da sachte honecker aba nee_ * wir komm nich raus * dann kam noch der vogel der anwalt und hat jesacht für die leute die mit rauskomm: die kriegen denn n richtjen ausreiseantrach und keine schwierichkeiten und so ja_ naja und da ham wir 'dem aber nich jeglaubt und einje ham sich och bereit erklärt da mit rauszugehn^ ja^
0032 OL
hm^
0033 GITTA
ham 'dem jeglaubt und die wurdn würklich 'ausjebuht die leute (0.6) denn kam der botschafter rein in die botschaft^
0034 OL
hm hm^
0035 GITTA
und sachte paßt uff eure kinder uff die stasileute locken kinder raus mit schokolade und spielsachen
0036 OL
(damit se) die eltern (rauskriegn)
0037 GITTA
daß die eltern rauskomm ja
0038 OL
ach du schande_
0039 GITTA
na und so entwickelte sich ne unheimliche solidarität zwischen den 'eltern zwischen den 'müttern
0040 OL
ja_ ja
0041 GITTA
manche hatten ja mehrere kinder eigntlich die meisten ja und die eine mutter hat 'essen besorgt die andere hat uff die kinda uffjepaßt
0042 OL
hm hm^
0043 GITTA
und 'babys je'windelt also war doll jewesen
0044 OL
hm
0045 GITTA
unheimlich solidarität war jewesen_ muß ick sagn *
0046 OL
hm_
0047 GITTA
((Ausatmen)) naja und denn hießes ((Ausatmen)) * gorbatschaw sachte * er kommt nich zum siembten oktober wenn die leute aus da prager botschaft nich rauskomm_ da 'ein radio war da inner janzen botschaft gewesen_ hm
0048 OL
uh^ hmhm_ *
0049 GITTA
ja naja_ und da ham wa uns natürlich halt riesenhoffnung gemacht ((Ausatmen)) was och jeklappt hatte (da) sind wa nachts raus zum bus jelaufen ane amibotschaft vorbei * die dann och jejubelt habm und alles
0050 OL
hmhm_
0051 GITTA
und dann sind wa zum bahnhof jefahrn wordn^ * aber allet richtich abjeschürmt ja^
0052 OL
hmhm
0053 GITTA
von den * bürgern da von von prag * ((Ausatmen)) ja und denn sind wa halt in zug rein^ ((Ausatmen)) * die dann von außen verriegelt wurdn mit ketten^
0054 OL
ja^
0055 GITTA
* worüber wir eigntlich sehr entsetzt warn muß ick sagn_ wenn da wat passiert wär dann wärt reinste chaos jewesen ja^
0056 OL
wärst gar nich rausgekomm^
0057 GITTA
nee_ überhaupt nich hättste scheiben einschlagn müssn_ naja dann ham wa jesehen halt an den gleisen an den schien
0058 OL
ja^
0059 GITTA
stanse von den janzen fabriken und so und ham alle jejubelt da war unheimlich die hölle los jewesen ja^
0060 OL
hmhm
61 GITTA
dann sind wa halt im frankenwald anjekomm_ * und da kam dann schon die ersten mit kakao schokolade und ham uns in-n zug
Situativer Kontext
Gittas Familie verlässt die DDR (und die Verwandten) von einem Tag auf den anderen, ohne Hab und Gut. Es gibt offenbar eine resolute Entschlossenheit, "schlechtes" Leben mit einem "besseren" tauschen zu wollen. Für das Ziel, in den Westen zu kommen, opfert Gitta und ihre Familie viel: u.a. den Verlust des Autos ("Trabi") und der gültigen Papiere. Gitta und ihr Mann handeln unter dem Stern der großen Zuversicht: wir wollen in den Westen (=BRD), und wir schaffen das. Die Weggefährten, eine Familie mit Kindern, lässt sich von der tschechischen Polizei nicht von ihrem Ziel, die BRD-Botschaft, abbringen: mutig mit den Kindern vorneweg (als Schutz gegen Gewalt) gehen sie an den Polizisten vorbei hin zur Botschaft. Als der DDR-Anwalt Vogel via Antrag einen "sicheren" Grenzübergang in den Westen verspricht, wird ihm kein Vertrauen geschcnkt. Die DDR-Politik hat für die DDR-Bürger jede Glaubwürdigkeit verloren. Mehrmals hat die Familie grösste Angst – sie hält aber an ihrem Ziel fest; als sie dem Ziel näher kommen, gibt es Tränen des Glücks. "Umbruch" heisst hier: entschlossen sein, ein hohes Risiko für ein besseres Leben einzugehen – und jeder Schritt in Richtung auf die "neue Welt" ist von starken Gefühlen begleitet. Mit der Entschlossenheit, koste es was es wolle in den Westen zu gelangen, teilt die Familie mit vielen anderen große gegenseitige Solidarität.
QuellentextSprache und Kotext
Wie fügen sich die Äußerungen zu einer Erzählung zusammen? Einer erzählt – die andern hören zu. Das erzählende Ego vermittelt dem zuhörenden Alter (Anderen) neue, diesem nicht bekannte Erfahrungen. Wie narrative Äußerungen aneinandergereiht werden, regeln Prinzipien (Verfahren) des Kotextes. Typisch für die kommunikative Gattung "Erzählung" ist, dass zunächst situative Umstände (Wer, wo, wann, wie …) angegeben werden, die eine Kette von Ereignissen rahmen, die meist in Vergangenheitsform (Präteritum, Perfekt) aufeinander abfolgen. Schließlich werden die Ereignisse bewertet. Oft geschieht das so, dass solche Bewertungen wieder den Bezug zum hier & jetzt der Erzälsituation herstellen. Erzählen ist eines der wichtigsten sprachlichen Handlungsmuster im Alltag. "Erzählen im Umbruch" handelt meist von extremen Ausnahmesituationen. Eine solche ist die Ausreise der Familie aus der DDR in die BRD über die Prager Botschaft.
Für Bredel (2019, siehe Internet-Link zum Buch Dittmar/Paul im Anhang) nennt das mit Bewertungen eng verwobene Erzählen von Ereignissen im Umbruch "exploratives Erzählen". In den ersten drei Redebeiträgen stellt die Ich-Erzählerin (Gitta) die Ausgangslage dar ("Rahmen"), die Ereignisse und Handlungen finden sich in den Redebeiträgen 4 bis 37, wobei diese oft durch mehr oder weniger lange Bewertungen einzelner Umstände und Geschehnisse unterfüttert werden. In den Redebeiträgen 51 bis 61 wird schließlich das Ergebnis ("Resultat") der Ereignisse präsentiert – wobei auch hier wieder Bewertungen eingeblendet werden. Typisch für das Erzählen im Umbruch ist somit das narrative Wechselspiel von Handlungsfolgen und Bewertungen, die auch durch "andere" Stimmen ergänzt werden und das Erzählen somit "vielstimmig" (polyphon) machen.
Gitta erzählt rasch und flüssig. Wenn die Situation unterstreicht sie ihre Gefühle (Angst, Tränen) durch stärkeres Berlinern. In den dramatischen Passagen flicht sie – zur Erhöhung der Spannung – direkte Rede ein (Redebeiträge 31, 35). Typisch für das Berlinische sind reduplikative Formen der Vergangenheitsmarkierung wie in
(i) dit war sone angst jewesen (ii) da war'n fernsehteam jewesen
Es handelt sich um typische mündliche Muster. Weitere Hinweise finden sich unter (9) "Doppelte Perfekt- und Präteritummarkierung".
BW 27 Wolf (West) Die Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz
Individueller und gesellschaftspolitischer Hintergrund
WOLF (47, als Ingenieur ausgebildet, wohnhaft in Berlin-Mitte, später als Fliesenleger tätig) wohnte in Berlin-Mitte. Er war langjähriger Parteifunktionär (Mitglied der Kreisleitung) und arbeitete auch für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS), bekannter unter dem Kurzwort Stasi (in der DDR zugleich Nachrichtendienst und Geheimpolizei). WOLF war am 4. November 1989 angewiesen worden, den Verlauf der Demonstration auf dem Alexanderplatz und die Verhaltensweisen der Demonstranten zu beobachten und auftretende Aufftälligkeiten unverzüglich an das MfS zu melden. WOLFs Erzählung ist eines der (raren) Dokumente für die Innensicht der Kader auf den fortlaufenden Prozess der Korrosion des Staates. Er gibt die Stimmung auf der Demonstration authentisch wieder – etwa so wie die psychologische Gemengelage (,"die DDR muss weg") auf einen teilnehmenden Beobachter wie WOLF gewirkt haben muss. WOLFs lntuition ist glaubwürdig und realistisch. Die Sensibilität, mit der er die Stimmung der Demonstranten an ihrem körperlichen Habitus abliest, ist ein Hinweis auf die umfassenden psychologischen Diagnosefähigkeiten der Stasi-Miarbeiter.
Der Ausschnitt beginnt mit dem Hinweis, dass der "Mauerfall" selber für ihn (Wolf) keine wirkliche Überraschung dargestellt habe. Die Demo vom 4. November sei für ihn ein klarer Hinweis darauf gewesen, dass das DDR-Regime ausgedient habe.
Ausschnitt des Interviews mit Wolf und Transkription
Sound der Einheit: Wolf (BW_E_27)
Ausschnitt WOLF BW 27 Ost "für mich war eigentlich der víerte november der entscheidende tag. nicht der neunte"
21JD
hmhm;
22WOLF
das war eigentlich dann schon wiederum * eh nur noch ein logischer schrítt; was mich vielleicht überrascht hat; das war eher der zéitpunkt, aber nich die tatsache ansich. (0.9) und wíe das nun gewesen is; ist völlig unabhängig jetzt aber * eh für mich hat sich die eh wénde am vierten * vollzogen.
23 JD
aufm alex.
24 WOLF
aufm alex.
25 JD
bei der demo.
26 WOLF
ja da war ich dabéi;
27 JD
hm:
28 WOLF
eh * sozusagen im áuftrag; das wird is auch ne story schon wieder für sich. also wir hattn auftrag bekommen von der kreisleitung oder bezirksleitung kreisleitung. eh an der demo téilzunehmen. * und eh (2.0) einfach mitzubekommen was da so läuft. da trafen wir uns; * in eh in der ehemaligen kreisleitung für bauwesen, da in * kleinoldstraße heißt die (glaub ich xx) und eh * wir sind dann lósgezogen; (1.2) sehr frühzeitig schon; bevor also die víelen hunderttausend menschen (0.1) aufm platz kamen; u:nd zu einem zeitpunkt als * sagen wir vielleicht erstmal * zwei drei vier tausend da warn. * zu einem sehr zu einem séhr eh frühen zéitpunkt eh schon. und eh * ich hab dann so das treiben beobachtet was sich dort so * tat. * eh * die plakate * mir angeguckt (1.3) (2.0) transparente * und die menschen; vor allen dingen in die gesichter geschaut; (0.2) und eh (2.0) ab und zu wieder hingegangen * eh zu unserm treffpunkt um da zu berichten; es war nüscht zu berichten.
29 JD
((lacht)) ((lacht))
30 WOLF
ich bin dann auch ich bin dann auch nich wieder hingegangen,
31 JD
ja,
32 WOLF
eh * weil * ick so ein blóedsinn zu berichten was da passiert; jeder wéiß was da passiert; und warum soll ich da noch noch was berichten.
33 JD
da gab es also nichts zu berichten von dem eh
34 WOLF
ich bin dann auch nicht wieder ich bin dann auch nicht wieder hingegangen um irgendwas zu berichten. ich hab mir die leute so angeguckt, * und eh hab mich auch ne zéitlang genau entgegen des * eh stromes bewegt der da zum alex strömte;
35 JD
hmhm;
36 WOLF
vor allen dingen die gesichter zu sehen. * und eh (0.7) was mir damals so aufgefallen war; erstmal diese enorme ruhe; nich wie das sonst so üblich is wa bei demos so marschmusik oder;
37 JD
hmhm;
38 WOLF
oder soetwas. sondern éinfach diese ruhe. * das geräusch des láufens hab ich so (0.2) im ohr. so das die die trítte; ja, oder auch der der wind der so durch die sachen so so fegte. das hab ich noch genau im ohr. * die gespräche; * eh die die sagen wir mal die blicke die sehr intressíert warn; néugierig; spannung eh * auch in den gesíchtern verrieten; * und auch wiederum spannung auslösten. (1.4) eh aber ich ich hab das mit schwerem herzen ges eh eigentlich erlebt. mit schmerzen in der brust; *
39 JD
warum?
40 WOLF
es gab plakate die eh * die störten mich.
41 JD
zum beispiel?
42 WOLF
eh also * man spricht ja hinterher immer oder man hat hinterher gesprochen von * von sehr lústigen plakaten oder sehr intressánten plakaten; aber eh * man mag zu honecker oder krenz oder wem auch stehn wie man will; aber ihn am gálgen zu sehn; (0.8) eh das is das maß der dinge bei weitem überschritten. (0.8) und sólche plakate eh * gab es öfter. und eh das hat mir das hat mir schón angst gemacht, weil ich eigentlich so im hinterkopf och so hatte; * richtig angst gemacht. also honecker und krenz und co und wie auch immer eh hängen is die eine sache; aber das wirda nie bléiben, * es gab schon öfter situationen in der deutschen geschichte; wo ürgendwann mal etwas ángefangen hat; und das ende ganz woanders nachher war. also solche solche dinge ham mir sehr mißfallen. also zu diesem tag eigentlich war mir bewußt; nee die ddr die wird es wahrscheinlich nicht mehr lange geben. die die führung is is óhnmächtig; unfähig * eh die wird die wird hinweggespült werden. wann das sein wird weiß ich nich; aber für mich war eigentlich der víerte november der entscheidende tag. nicht der neunte.
Situativer Kontext
Wolf schildert im ersten Teil seiner Erzählung detailliert und situationsgetreu die Stimmung auf der Demo. Der narrative Teil endet mit es war niischt zu berichten. Durch Wiederholen der Konsequenz "ich bin dann auch nich wieder hingegangen" unterstreicht Wolf, dass es nichts gab, was meldepflichtig gewesen wäre. Stattdessen aber zeichnet der stimmungssensible Flaneur ein feinsinniges Porträt der Stimmung der Demonstranten. Stasigeschulter Kenner der Befindlichkeiten Opositioneller sieht er deutlich, dass die DDR am Ende ist. Das steht für ihn fest, er erlebt es mit "schmerzen in der brust". Die kompromisslose Härte, mit der der Staatsapparat abgelehnt wird, findet seinen radikalsten Ausdruck in den Plakaten, auf denen die ,,Genossen" Honecker und Krenz am Galgen gezeigt werden. Solche Plakate haben Wolf "sehr missfallen", andererseits erkennt er an ihrer Radikalität, dass es ,die ddr ...nicht mehr lange geben" wird. Diese Gesamtstimmung führt ihn zu der Schlußfolgerung, dass die DDR reif ist für den Untergang. Manche Plakate findet er stark übertrieben ("das hat mir schon angst gemacht"), den Untergang der DDR erahnt er schon – die Ohnmacht der Führung ist seiner Meinung nach Schuld.
QuellentextSprache und Kotext
Wolfs Darstellung ist ein Beispiel für exemplifizierendes Erzählens (siehe Bredel in Dittmar / Paul 2019, ). Am Beispiel der Demomanstration vom 4. November auf dem Alexanderplatz, von deren Beobachtung er erzählt, gelangt er zu dem Schluss, dass es die DDR nicht mehr lange geben wird. Die erzählten Ereignisse dienen vor allem den schlussfolgernden Bewertungen: die DDR wird untergehen. Dies ist eine andere Variante des Erzählens vom Umbruch. Wolfs Darstellung ist eine Art Stimmungsbericht, teilweise historisch-philsophisch. Sie drückt Distanz anm Geschehen aus. Die sprachliche Präsentation ist eher intellektuell gefärbt. Dazu passt, dass Wolf Hochdeutsch spricht. Es fehlt das dialektale Kolorit der Nähe, mit dem Sprecher die emotionale Betroffenheit von bestimmten Ereignissen ausdrücken.
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