Der sogenannte Mittelstand bildet das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Laut Daten der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) beschäftigten die auch KMU
Historisch hat der Mittelstand eine besondere Rolle in Deutschland
Der Begriff Mittelstand ist im deutschsprachigen Raum sehr stark historisch vorgeprägt und mit verschiedenen Bedeutungen aufgeladen, die über das rein ökonomische hinausgehen. Dies macht den deutschen Mittelstandsbegriff einzigartig und hebt ihn vom angelsächsischen oder romanischen Sprachraum ab. Wie der Name bereits andeutet, erfüllt der Mittelstand im Ideal eine Scharnierfunktion zwischen Ober- und Unterschichten in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Bereits im 19. Jahrhundert wurden dem Mittelstand aus selbständigen Handwerkern, wohlhabenden Bauern und Angehörigen der Freien Berufe
„Soziale Marktwirtschaft“ als neoliberales Konzept nach 1945
Eine Reihe von Ökonominnen und Ökonomen versuchte vor dem Hintergrund von Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus, den Liberalismus neu zu denken. Aus der Kritik an (national)sozialistischer Planwirtschaft und Manchesterkapitalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts entwickelten sie den „Neoliberalismus“.
Ein Markt für alle mit „Marktpolizei“ gegen Monopole
Eine pluralistische Wirtschaft, so der mit Röpke eng befreundete Ökonom Alexander Rüstow, sei entscheidend, um in Abgrenzung zum real existierenden „Kapitalismus“ des 19. und 20. Jahrhunderts eine echte Marktwirtschaft zu etablieren.
DDR beschränkte privaten Mittelstand
Im Zuge von Mauerfall und Wiedervereinigung gewann das Schlagwort der sozialen Marktwirtschaft wieder an Bedeutung. Die Übertragung des westdeutschen „Erfolgsmodells“ sollte dem Osten den gleichen Wohlstand bringen, wie ihn die Westdeutschen bereits seit Jahrzehnten genossen. Es handelt sich damit bei der Wiedervereinigung nicht nur um ein rein politisches, sondern auch um ein sozioökonomisches Experiment. Demokratie und soziale Marktwirtschaft sollten Hand in Hand gehen. Damit stieg die Mittelstandsförderung in Ostdeutschland zu einem wichtigen Thema auf, denn ohne eine breite Schicht regional verankerten Unternehmertums konnte es weder Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten noch Demokratie geben. Das SED-Regime der DDR hatte das private Unternehmertum nach 1949 immer weiter beschränkt und in mehreren Verstaatlichungswellen einen Großteil der Unternehmerinnen und Unternehmer enteignet. Dabei hatte der Schwerpunkt des gesamtdeutschen Mittelstands vor 1945 nicht so sehr in Bayern und Baden-Württemberg, sondern in Sachsen, Thüringen und Berlin gelegen.
Insgesamt gab es folgende Ansätze, um wieder einen starken Mittelstand in Ostdeutschland zu etablieren: Große Hoffnungen waren mit der Reprivatisierung von über 12.000 1972 verstaatlichten kleinen und mittleren Industriebetrieben verbunden. Zudem hatten gerade im Dienstleistungsbereich etwa 100.000 kleinere Unternehmen mit zumeist weniger als zehn Angestellten ihre Eigenständigkeit als Privatunternehmen im Sozialismus bewahren können. In den 1980er Jahren hatten die Inhaberinnen und Inhaber von privaten Handwerksbetrieben mit zu den privilegiertesten Bevölkerungsschichten der DDR gehört. Darüber hinaus sollte die von der Treuhandanstalt (THA) durchgeführte Privatisierung des sogenannten Volkseigentums Chancen für Ostdeutsche eröffnen, einen Betrieb zu erwerben und sich unternehmerisch zu betätigen.
Reprivatisierung war kein leichtes Unterfangen
Gemessen an den hohen Erwartungen der Wendezeit 1989/90 zeigten die ergriffenen Maßnahmen nicht den erhofften Erfolg. Erste Reprivatisierungsmaßnahmen waren bereits von der letzten SED-Regierung unter Hans Modrow eingeleitet worden und gerieten nach der Wiedervereinigung zunehmend ins Stocken. Dies lag zum einen an der Gesetzeslage, die es den neu gegründeten Landesverwaltungen und der THA schwer machte, rasch über die Zukunft eines ehemals privaten Betriebes zu entscheiden, besonders wenn mehrere Parteien Ansprüche auf einen Betrieb oder auch nur Teiles eines Betriebs angemeldet hatten.
Westen ohne Plan von privatem Unternehmertum in der DDR
Die Unternehmerinnen und Unternehmer in der DDR hatten bereits im Januar 1990 eine eigene Interessenvertretung gegründet und versucht, sich bei Akteurinnen und Akteuren in West und Ost Gehör zu verschaffen. Hierbei stießen sie gerade bei Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Wirtschaft in Westdeutschland auf Verwunderung. Vielen Westdeutschen war nicht klar, dass es auch 1989/90 noch ein privates Unternehmertum in der DDR gab. Aufgrund dieses Wahrnehmungsdefizits hatten es Unternehmerinnen und Unternehmer aus der DDR schwer, mit ihren Anliegen Gehör zu finden. So klagte der Vorsitzende des Unternehmerverbandes der DDR im Februar 1990 auf einer prominent besetzten west-ostdeutschen Tagung zu Wirtschaftsfragen:
„Bei unseren Gesprächen in der Bundesrepublik haben wir feststellen müssen, daß es dort überhaupt keine richtigen Vorstellungen davon gibt, was es an Unternehmer-Potential in der DDR gibt. Es gab keine Zahlen, man wußte nichts von den über 100.000 Privatbetrieben in der DDR, die Gewehr bei Fuß stehen, die sofort loslegen, wenn man ihnen nur die Möglichkeit dazu gibt. In einer Art missionarischer Tätigkeit haben wir in der Bundesrepublik um Verständnis für unsere Situation geworben, und zwar nicht nur beim Wirtschaftsministerium, sondern u.a. auch beim DIHT [Deutscher Industrie- und Handelstag].“
Die hohen Erwartungen konnten sich auch hier nicht erfüllen. Viele Unternehmen, die 40 Jahre Sozialismus sowjetischer Prägung überlebt hatten, mussten in den frühen 1990er Jahren ihre Tätigkeit einstellen. Dies hatte sowohl handfeste ökonomische als auch kulturelle Ursachen. Der nach 1972 verbliebene Teil des privaten Unternehmertums hatte sich stark an das sozialistische System angepasst und Denkweisen und Praktiken entwickelt, die im DDR-System sinnvoll waren und das Überleben sichern konnten, im westdeutschen System hingegen hinderlich waren.
Treuhand verfolgt zunächst keine Mittelstandsstrategie
Somit blieb noch die THA übrig, um aus der Masse der Volkseigenen Betriebe (VEB) einen blühenden Mittelstand zu schaffen. Die Treuhand nahm sich des Themas Mittelstand nur widerwillig und erst im Laufe des Jahres 1991 an, als die Probleme der ostdeutschen Wirtschaft unübersehbar wurden. Dies hatte in erster Linie mit dem Selbstverständnis des Managements der Treuhand zu tun. Das Führungspersonal verstand die THA primär als Verkaufs- und nicht als Gründeragentur.
Kehrtwende: Mittelstandsprogramm startet ab 1991
Im Frühjahr 1991 diskutierte und beschloss die Leitungsebene der Treuhandanstalt ein spezifisches Mittelstandsprogramm. Es enthielt zwei Kernbestandteile zur Förderung des Mittelstands und Unternehmertums in Ostdeutschland: zum einen sollten die staatlichen Großbetriebe in so viele kleine und mittlere Unternehmenseinheiten aufgespalten werden wie möglich. Das Stichwort lautete hier Entflechtung. Zum anderen wurden erstmals MBO und MBI systematisch gefördert. MBO (Management-Buy-Out) bedeutet den Verkauf eines Betriebes oder Betriebsteils an Beschäftigte desselben Betriebes, in der Regel an leitende Angestellte. MBI (Management-Buy-In) meint den Verkauf eines Betriebes an ein Management-Team, das noch nicht im betreffenden Unternehmen arbeitet. Bei MBOs stammte der überwältigende Teil der Kaufenden aus Ostdeutschland, bei MBIs hingegen eher aus Westdeutschland. Da MBO und MBI jedoch gleichermaßen zur Schaffung inhabergeführter Unternehmen führten, handelte es sich um Existenzgründungen im Mittelstand. Die Leitung der Treuhandanstalt zeigte somit eine gewisse ideologische Flexibilität, da MBO und MBI von der Wirtschaftswissenschaft nicht zu den favorisierten Formen der Privatisierung gezählt wurden.
Mittelstand verlor in den 1990er Jahren seinen Markt im Osten
Bei der Entflechtung handelte es sich um ein gut gemeintes aber nicht unbedingt gut durchdachtes Vorhaben. Auch wenn die Zusammensetzung der ehemaligen Kombinate im DDR-System willkürlich anmutete, waren zumindest einzelne Betriebsteile integral miteinander verbunden. Fiel einer dieser Bestandteile weg, konnte dies andere Betriebsteile an den Rand des Ruins bringen. Die Leitung der THA hatte nicht bedacht, dass große Teile des Mittelstands in einer modernen Industriegesellschaft in einem symbiotischen Verhältnis mit der Großindustrie existieren. Der Bankrott der ostdeutschen Großindustrie musste somit auch die Chancen des ostdeutschen Mittelstands stark beeinträchtigen. Der ostdeutsche Mittelstand litt in den 1990er Jahren an ähnlichen Problemen wie die Großindustrie: es fehlten die Kunden. Der Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft, die fehlende Konkurrenzfähigkeit auf westlichen Märkten und das Desinteresse der Ostdeutschen an nicht-westlichen Produkten ließen die Auftragseingänge quasi über Nacht rapide einbrechen.
Auch wenn die hohen Erwartungen der Wendezeit 1989/1990 sich nicht erfüllt haben, steht fest, dass es auch in Ostdeutschland etablierte und leistungsfähige mittelständische Unternehmen gibt. Ein Teil dieser Unternehmen ist aus der Konkursmasse der DDR-Wirtschaft hervorgegangen. Bei einem anderen Teil handelt es sich um nach 1990 erfolgte Neugründungen.
Ein neuer ostdeutscher Mittelstand braucht Zeit
Bis diese Unternehmen durch organisches Wachstum eine ähnlich strukturbestimmende Größe erreicht haben werden, wie der süddeutsche Mittelstand, werden noch ein bis zwei Generationen vergehen. Die Erwartung, dass der ostdeutsche Mittelstand nach 1990 innerhalb kürzester Zeit zu alter Stärke der Vorkriegszeit zurückfände, war in hohem Maße unrealistisch. Die relative Stärke des süddeutschen und die relative Schwäche des ostdeutschen Mittelstands sind zwei Seiten derselben Medaille. Ein bedeutender Teil der innovativsten Unternehmen aus Berlin, Sachsen und Thüringen hatte seine Aktivitäten zwischen 1945 und 1961 in den süddeutschen Raum verlagert und war nach 1990 nicht wieder in die alte Heimat zurückgekehrt.
Zitierweise: "Soziale Marktwirtschaft ohne Mittelstand? - Wiedervereinigung und Unternehmertum in Ostdeutschland“, Max Trecker, in: Deutschland Archiv, 2.12.2019, Link: www.bpb.de/301251