Der Sturz der Berliner Mauer als Ergebnis der Friedlichen Revolution
Rainer Eckert
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Die Berliner Mauer ist nicht gefallen, sie wurde im Zuge der Friedlichen Revolution 1989/90 gestürzt. Entscheidenden Anteil daran hatte, dass Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler - temporär gemeinsam mit Künstlern und Ausreisewilligen - immer mehr Menschen in der DDR ermutigt hatten, für ihre Rechte und für Reformen auf die Straße zu gehen. Kompromisslos Reisefreiheit ohne (Mauer-)Begrenzung zu fordern, gehörte dazu. Ein Essay von Prof. Rainer Eckert, dem langjährigen Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig.
Unsere kleine, in Ost-Berlin und Potsdam wohnende, Familie zerriss der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961, den ich als Elfjähriger miterlebte. Am Morgen dieses Tages trauten wir unseren Ohren nicht, als wir im „Rundfunk im amerikanischen Sektor“ (RIAS) hörten, dass die SED-Diktatur die Grenzen nach West-Berlin und zur Bundesrepublik endgültig geschlossen hatte. Wir wollten und konnten dies nicht glauben und fuhren zum Potsdamer Stadtbahnhof, dem Abfahrtsort der S-Bahn-Linie nach West-Berlin. Hier empfingen uns eine Absperrkette der Volkspolizei und vor ihr wütende und verzweifelte Potsdamer. Niemand konnte richtig begreifen, was geschehen war und keiner glaubte an eine langfristige Sperrmaßnahme. Viele hofften, „der Westen“ würde eingreifen, die SED-Diktatur zusammenbrechen und die Grenzschließung wäre rein technisch nicht durchzuhalten.
Nicht anders war die Stimmung, als wir nach unserer Fahrt nach Ost-Berlin am Bahnhof Friedrichstraße angekommen waren. Der Bahnhof und seine Umgebung waren von erregten, hasserfüllten und verzweifelten Menschen überfüllt. Viele drängten sich auch südlich des Bahnhofs vor einem Holzzaun, hinter dem eine Panzereinheit der Nationalen Volksarmee, der NVA, Posten gefasst hatte. Vermutlich waren die Soldaten angesichts ihrer wütenden Landsleute unsicher und verwirrt. Besonders schrecklich ist mir in Erinnerung, wie West-Berliner Kinder, die bei Verwandten und Bekannten in Ost-Berlin oder in der DDR zu Besuch oder in den Ferien gewesen waren, nach West-Berlin zurückgeschickt oder von dort abgeholt wurden.
Meine schwerkranke Großmutter konnten wir an diesem Tag noch treffen, sie hatte sich zu Fuß über den Grenzübergang Chausseestraße geschleppt. Meinem Großvater war das körperlich nicht möglich, ihn sollte ich nie mehr wiedersehen, da er im Januar 1963 verstarb und West-Berliner erst mit dem ersten Passierabkommen von Weihnachten 1963 bis zum Jahreswechsel 1963/64, wieder in den Ostteil ihrer geteilten Stadt kommen konnten.
Wenn man sich so hunderttausende ähnliche Schicksale vor Augen hält, wird verständlich, dass die Berliner Mauer und die gesamte deutsche Teilung nicht nur mit dem Leid der Getöteten, bei Fluchtversuchen Verletzten und mit politischen Häftlingen verbunden waren, sondern auch mit Wut, Trauer und Sehnsucht derjenigen, die zueinander gehörten, sich liebten und durch die Grenze geteilt waren. Besonders hart traf es dabei die West-Berliner.
Beim Blick auf die Mauer und die 28 Jahre ihres Bestehens darf aber auch nicht vergessen werden, dass ihr Bau keine alleinige Entscheidung der SED-Führung war, sondern alle „realsozialistischen Staaten“, die an westliche Länder angrenzten, mit ihren Grenzsicherungsmaßnahmen dazu beitrugen, den „Eisernen Vorhang“ im Interesse der Moskauer Hegemonialmacht zu stabilisieren. Auch dies war ein Grund, warum das kommunistische Staatensystem die Schließung seiner Westgrenze nicht aufgeben bzw. fallen lassen konnte, ohne die eigene Existenz zu gefährden.
Menschen gewöhnten sich an die Mauer
In dieser hoffnungslos scheinenden Situation gewöhnten sich immer mehr Menschen in Ost und West an dieses monströse Bauwerk "Mauer" und an die fast 1.400 Kilometer lange innerdeutsche Grenze. Dabei gab es einen spezifischen Unterschied. Viele Bundesbürgerinnen und Bürger hatten keine Verwandtschaftsbeziehungen in den Osten und vergaßen ganz einfach ihre Landsleute in der DDR, die als vermeintliches „Dunkeldeutschland“ nicht mehr zu ihrem Lebensbereich zu gehören schien. Ihr Blick richtete sich in den Westen und in den Süden sowie in die ganze weite ihnen zugängliche Welt.
Ostdeutsche blickten via Westfernsehen auch in den Westen – aber das hieß für sie nach West-Berlin und in die Bundesrepublik. In den wenigen Teilen Ostdeutschlands wo der Westfernsehempfang nicht möglich war, so um Dresden und im östlichen Vorpommern, errichteten die Einwohner teilweise abenteuerliche technische Einrichtungen, um einen abendlichen Blick über die Grenze zu erhaschen. Die SED-Machthaber bekämpften dies zuerst mit Gewalt, so ließen sie durch die kommunistische Jugendorganisation FDJ in der „Aktion Ochsenkopf“ Anfang der 1960er Jahre nach Westen gerichtete Antennenkonstruktionen zerstören und Kinder wurden mit Fangfragen in den Schulen dazu gebracht, auszuplaudern, ob sie „Westfernsehen“ sähen, für die betroffenen Familien konnte dies zu Sanktionen führen. Im Laufe der Jahre erlahmte jedoch dieser staatliche Eifer. Die passiv unzufriedene Mehrheit der Ostdeutschen richtete sich jetzt in der Diktatur ein. Es wuchs das Bewusstsein, dass die Berliner Mauer und die Sperrung der innerdeutschen Grenze lange Zeit andauern würde, einer Dauer, deren Ende nicht abzusehen war und die für viele „lebenslang“ bedeutete.
Da nach der gewaltsamen Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 und ähnlicher brutaler Unterdrückungsaktionen der Machthaber und der sowjetischen Herrscher in Polen, der Tschechoslowakei und in Ungarn an eine revolutionäre Änderung der Verhältnisse nicht zu denken war, blieben denen, die es in der Diktatur der SED nicht mehr aushielten, die Flucht über die Sperranlagen, der Versuch über das „sozialistische Ausland“ in den Westen zu gelangen oder in irgendeiner Form ihre „legale Ausreise“ zu erreichen. Insgesamt verließen die DDR seit ihrer Staatsgründung am 7. Oktober 1949 bis zum Juni 1990 mehr als 3,8 Millionen Menschen, aber nur 5.075 gelang es, die Grenzanlagen direkt und erfolgreich zu überwinden. 480.000 Ostdeutsche sind zwischen 1961 und 1989 aus der DDR „legal“ ausgereist, wobei sich die Zahl der Ausreiseanträge nach der Verabschiedung der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki 1975 massiv vergrößerte.
In dieser Situation blieben die Berliner Mauer, die Grenzanlagen zur Bundesrepublik und die nach Westen geschlossenen Grenzen der Staaten des Warschauer Paktes weiterhin die Überlebensgarantie für die SED-Diktatur, da die attraktive Bundesrepublik bei offener Grenze Hunderttausende oder noch mehr Ostdeutsche aus der DDR abgezogen hätte. Dies verdeutlichte der Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, als er am 19. Januar 1989 auf einer Tagung zum 500. Geburtstag des Revolutionärs Thomas Müntzer im Ost-Berliner Staatsratsgebäude ausführte, dass die Mauer auch „in 50 oder 100 Jahren noch bestehen [werde], wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind“.
Allerdings verstieß er damit gegen das Abschlussdokument des Wiener KSZE-Folgetreffens, dass auch die DDR drei Tage zuvor unterschrieben hatte und in dem sich die Teilnehmerstaaten zum uneingeschränkten Ausreise- und Rückkehrrecht ihrer Bürgerinnen und Bürger bekannt hatten. Dies verstärkte das Dilemma der Diktatur.
Erich Honeckers Begründung für seine Worte war, die Mauer sei „erforderlich, um unsere Republik vor Räubern zu schützen“. Zwar war diese Begründung falsch, da es bei der „Grenzsicherung“ originär um die Verhinderung von Fluchten von Ostdeutschen ging, doch machte sie deren Bedeutung als Überlebensgarantie der SED-Diktatur nochmals deutlich. An der Stabilität dieses Schreckensbauwerkes, dessen vierte Ausbaustufe gerade in Planung war, zweifelte zu diesem Zeitpunkt wohl niemand, weder in Ost noch in West. Dennoch zeigte sich noch im Jahr 1989, dass Honecker mit seinem Blick in die Zukunft irrte.
Im Vorfeld spielte die westliche Entspannungspolitik, die den Diktatoren des Ostens die Möglichkeit nahm, gegen Bürgerrechtler mit aller Brutalität vorzugehen, genauso eine Rolle wie die US-amerikanische Hochrüstungspolitik, die die Sowjetunion wirtschaftlich in die Knie zwang. In dieser Situation wollte der Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, den Kommunismus durch Reformen wenigstens im eigenen Land, der Sowjetunion, retten und er verzichtete auf Gewaltanwendung in den anderen Ländern des Moskauer Imperiums. Das konnte die Oppositionellen dort jedoch nicht wissen, sondern höchstens hoffen. Trotzdem entfalteten sich Freiheitsbewegungen in ganz Ostmitteleuropa, zunächst vor allem in Polen.
Wachsende Freiheit unter dem Kirchendach - und ein bewegter Mai 1989
In Ostdeutschland war das langjährige Wirken der Opposition lange ohne großen Einfluss auf die Bevölkerung geblieben, in einigen evangelischen Gemeinden waren war jedoch das demokratische Miteinander, die Fähigkeit zur öffentlichen Sprache und zum friedlichen Protest geübt worden. Besonders ab 1988 gingen ostdeutsche Bürgerrechtler verstärkt zu Protesten auf die Straße, besonders in Leipzig und Ost-Berlin. Wenn es auch nur einige hundert Menschen waren, die dies wagten, so nahmen doch hunderttausende wenn nicht Millionen Ostdeutscher dies via West-Fernsehen wahr.
Ihren entscheidenden Fehler machte die Staatspartei mit den gefälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989. Die Diktatur wollte hier noch einmal triumphal politische Legitimation erringen, rechnete aber offensichtlich nicht damit, dass es Oppositionellen in großen Teilen verschiedener Städten gelang, die Wahlergebnisse zu kontrollieren und Fälschungen nachzuweisen. Aus Protest gegen die offenkundige Wahlfälschung gab es an jedem 7. der folgenden Monate Protestdemonstrationen, die in die großen Demonstrationszüge des Herbstes 1989 mündeten.
Fünf Tage vor dieser Wahl hatte es jedoch bezogen auf den „Eisernen Vorhang“, der Europa teilte, eine Entwicklung gegeben, deren Bedeutung zuerst nur wenige begriffen, dabei leitete sie den späteren Sturz der Berliner Mauer und des gesamten Grenzsystems der DDR ein. Interner Link: Am 2. Mai 1989 hatte die ungarische Regierung angekündigt, dass sie die Grenzbefestigungen zwischen Ungarn und Österreich abbauen wolle. Die Ost-Berliner Führung zeigte sich - zumindest aus heutiger Sicht - nicht aufs höchste alarmiert bzw. meinte, dass auf eine massenhafte „Abstimmung mit den Füßen“ nichts hindeuten würde. Zugleich steigerte sich in der DDR das Entsetzen über die eigene Führung, die sich Seite an Seite mit Chinas Staatsführung zeigte, trotz deren blutiger Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Pekinger „Platz des Himmlischen Friedens“. In dieser Situation durchtrennten die Außenminister Österreichs und Ungarns schließlich am 27. Juni demonstrativ gemeinsam den Grenzzaun und leiteten damit einen Prozess ein, der wesentlich zum Ende der Spaltung Europas beitragen sollte.
Fluchtbewegung weicht DDR-Alltag auf
Hunderttausende Ostdeutsche machten sich in den Wochen danach auf den Weg in den Urlaub, nicht wenige von ihnen gezielt nach Ungarn mit der Hoffnung, von hier aus in den Westen zu gelangen. Bereits am 7. August hatten 200 ostdeutsche Flüchtlinge in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest Zuflucht gesucht. Erstmals gelang es mehr als 700 Flüchtlingen am 19. August 1989 die Grenze bei einem „Paneuropäischen Picknick“, in Richtung Österreich zu überwinden, da ein jahrzehntelang geschlossenes Grenztor zwischen St. Margarethen und Sopron für drei Stunden geöffnet wurde. Das schuf diplomatischen Handlungszwang.
Bereits am 25. August trafen sich, geheim gehalten, der ungarische Ministerpräsident Miklos Németh mit Bundeskanzler Helmut Kohl und den Außenministern beider Staaten auf Schloss Gymnich bei Bonn, wobei es auch um Wirtschaftshilfen ging. In den Verhandlungen erklärte sich Ungarn bereit, die ostdeutschen Flüchtlinge ohne Gegenleistung gehen zu lassen. Die Grenze öffneten die Ungarn schließlich endgültig am 11. September. Das bedeutete, dass der SED-Diktatur durch die nun einsetzende Massenflucht eine ihrer Lebensgrundlagen entzogen wurde. Diese Flüchtlinge waren diejenigen, die zuerst zum Sturz der Mauer beitrugen – in dem sie sie umgingen und durch den löchrig gewordenen Eisernen Vorhang flüchteten. Ausschlaggebend für das Ende der SED-Diktatur war dies allerdings noch nicht, denn nur im Lande selbst war die Gewaltherrschaft zu überwinden.
Die SED-Führung reagierte auf die ungarische Grenzöffnung hilflos und hielt diese für eine Verletzung völkerrechtlicher Verträge und Vereinbarungen sowie für eine Aktion, die die „BRD“ von „langer Hand“ vorbereitet hätte. Letztlich stand sie der Entwicklung reaktionsunfähig gegenüber und Honecker erregte bei „seinem Staatsvolk“ regelrecht Wut, als er in einen ADN-Kommentar einfügen ließ, man solle denen, die gehen, keine Träne nachweinen. Aber im Alltag der DDR war mittlerweile auf allen Ebenen spürbar, dass plötzlich Leute fehlten.
Konterkariert wurden durch die Handlungen Ungarns auch halbherzige Planspiele der SED-Diktatur im August 1989, die Mauer kurzzeitig zu öffnen, „umso Druck aus dem Kessel zu lassen“. Geplant war dabei, die Grenzbefestigungen dadurch zu retten, dass sie nach dieser Öffnung wieder hermetisch geschlossen werden sollten. Eine andere Variante beinhaltete die komplette Schließung aller Außengrenzen, auch Richtung Tschechoslowakei, was allerdings die Gefahr des Entstehens bürgerkriegsähnlicher Zustände barg.
Zur Flucht über Ungarn kam, dass der Ansturm von Flüchtlingen aus der DDR besonders auf die bundesdeutsche Botschaft in Prag im Sommer 1989 explodierte und diese entschlossen waren, ihre Ausreise in die Bundesrepublik mit fast allen Mitteln durchzusetzen. Schließlich befanden sich am 30. September circa. 4.000 Flüchtlinge in der Prager Botschaft und deren Zahl nahm stetig zu. Damit waren deren Unterbringungsmöglichkeiten weit überschritten, die Menschen hausten im Garten, der allmählich zu einer Schlammwüste wurde. Es war für sie eine Erlösung, als ihnen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, begleitet vom Kanzleramtsminister Rudolf Seiters, am Abend dieses Tages vom Balkon der Botschaft verkündete, dass ihre Ausreise in die Bundesrepublik genehmigt sei.
Dem hatten am Rande der UN-Vollversammlung am Vortag in New York nicht nur Interner Link: Frankreich, Großbritannien, die Vereinigten Staaten sondern auch die Sowjetunion zugestimmt. Der DDR-Außenminister Oskar Fischer bestand allerdings darauf, dass die Flüchtlinge symbolisch zuerst in die DDR zurückkehren müssten, um die Souveränität seines Staates zu wahren. Das sollte sich für die SED-Diktatur als Katastrophe erweisen und ließ die innenpolitischen Probleme der SED-Diktatur noch stärker wachsen. Zwar war die Grundvoraussetzung ihrer Herrschaft, die Berliner Mauer und die deutsch-deutschen Grenzbefestigungen scheinbar nicht unmittelbar gefährdet, doch wurden die Entwicklungen in Innern der DDR immer zwingender, um über Reisefreiheit, also eine Öffnung der Mauer und über politische Reformen nachzudenken, damit die Fluchtbewegung der Unzufriedenen ein Ende nimmt. Erich Honecker lehnte dies aber kategorisch ab.
Aus dem "exit" wird ein "voice"
In dieser Phase kompletter Stagnation begannen Bürgerrechtler oppositionelle Parteien wie die Sozialdemokratische Partei SDP und Bürgerbewegung wie das NEUE FORUM oder DEMOKRATIE JETZT zu gründen und untergruben damit den Alleinherrschaftsanspruch der SED.Dazu kamen die katastrophale wirtschaftliche Lage, eine zunehmend zerstörte Umwelt und schon seit Jahresbeginn eine schwere Erkrankung von SED-Generalsekretär Honecker, die ihn zeitweise außer Gefecht setzte. Die Stabilität der Diktatur bedrohte jetzt nicht mehr zuerst die Massenflucht, sondern das wachsende Engagement einer immer kreativeren und mutigeren Opposition, die nicht „Wir wollen raus“ skandierte, sondern „Wir bleiben hier“ betonte und darauf pochte, Demokratie und Bürgerrechte durchzusetzen. Jetzt standen sich zwei gegenläufige Entwicklungen gegenüber, die sich jedoch auch gegenseitig bedingten. Aus dem „exit“ wurde immer mehr ein „voice“ und das wirkte für die Diktatur besonders bedrohlich, als sich vielerorts Vertreter der neuen Parteien und Bürgerrechtsgruppen in einem glücklichen Moment deutscher Geschichte zumindest kurzfristig vereinten. Allerdings darf auch nicht vergessen werden, dass sich die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen lange Zeit nicht engagierte, sondern abwartend „hinter der Gardine blieb“ und eine starke Minderheit weiterhin die Diktatur stützte.
Leipziger Schlüsselmomente
Immer breitere Demonstrationen aus der Mitte der Gesellschaft heraus begannen sich nur langsam in der DDR Bahn zu brechen. Eine besondere Bedeutung kam hier Leipzig zu. Ein Schlüsselereignis und Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung war der 4. September 1989 in der Messestadt. Es war das erste Friedensgebet in der Nikolaikirche nach der Sommerpause und es war die Woche der Leipziger Herbstmesse. Bürgerrechtler nutzten die Anwesenheit westlicher Journalisten, um vor der Kirche auf dem Nikolaikirchhof Laken mit den Worten: „Für ein offenes Land mit freien Menschen“, „Reisefreiheit statt Massenflucht“, „Vereinigungsfreiheit – Versammlungsfreiheit“ und „Gegen den Strom - Freies Reisen für alle“ in die Höhe zu halten. Jetzt stürzten sich zivile Kräfte der Staatssicherheit auf die Transparente und rissen sie herunter – die Interner Link: Bilder liefen sogleich im West-Fernsehen und machten DDR-weit sichtbar, dass es möglich war, gegen die Diktatur auf die Straße zu gehen. Dieser mediale „Ansteckungsfaktor“ ist nicht zu unterschätzen.
Für die SED-Führung wurde die Lage prekär. Sie versuchte sich hinter geschlossenen Grenzen zu verschanzen, wurde aber der Demonstrationen und der Oppositionellen nicht mehr Herr, die immer mehr und in weiteren Städten und Orten auf die Straße drängten. Von besonderer Bedeutung war in Leipzig dann das Friedensgebet vom 25. September 1989, an dem Tag als nach seiner Erkrankung Honecker wieder in sein Amt zurückkehrte. Pfarrer Christoph Wonneberger mahnte in seiner Predigt zur Gewaltlosigkeit und führte aus „Stasi-Apparat, Hundertschaften, Hundestaffeln sind nur Papiertiger“ und „Wer Gewalt übt, mit Gewalt droht und sie anwendet, wird selbst ein Opfer der Gewalt […] Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen.“
Weiterhin forderte Wonneberger demokratische Rechte und anschließend folgten Erläuterungen zu Grundregeln des gewaltfreien Widerstandes. Am diesem Abend ignorierten die Demonstrierenden Sperrketten der Volkspolizei und zogen über den Hauptbahnhof bis zum damaligen Warenhaus „Konsument“ am Brühl. Das machte ihnen Mut in den kommenden Wochen nach den montäglichen Friedensgebeten zu weiteren Demonstrationszügen aufzubrechen, nicht nur in Leipzig.
Gleichzeitig ließ die Fluchtwelle besonders über Interner Link: Ungarn und die CSSR nicht nach. Am Abend des 3. Oktober hielten sich ca. 6.000 Menschen in der Prager Botschaft auf, 2.000 befanden sich in ihrer unmittelbaren Umgebung und Tausende waren auf dem Weg nach Prag. In ihrer Verzweiflung versuchte die SED-Führung jetzt, die Fluchtwelle dadurch zu stoppen, dass sie den pass- und visafreien Verkehr in die Tschechoslowakei zeitweilig aussetzte und damit die DDR vollkommen vom Ausland abriegelte. Mehr als 2.000 Ostdeutsche aus der ganzen DDR versuchten an diesem Tag vergeblich über die Grenze des südöstlichen Nachbarn der DDR zu gelangen. Allein in Dresden holten die „Sicherheitskräfte“ 800 Menschen aus den nach Prag fahrenden Zügen. Diese kehrten aber nicht in ihre Heimatorte zurück, sondern besetzten Gleise und Bahnsteige. Ein erster Zug mit Flüchtlingen war bereits in der Nacht zum 1. Oktober heimlich von Prag in die Bundesrepublik gefahren, in den folgenden Tagen sollten 13 weitere Züge folgen. In Dresden eskalierte die Situation zu einer Straßenschlacht bereits in der Nacht vom 3. zum 4. Oktober, als ca. 140 Personen versuchten, auf einem den Hauptbahnhof passierenden Zug aufzuspringen und es zu einem schweren Unfall kam. Die Polizei begann den Bahnhof zu räumen, wurde aber immer wieder mit Neuankömmlingen konfrontiert. Noch angespannter wurde die Lage, als sich am 4. Oktober die Nachricht verbreitete, dass neue Züge mit den restlichen Botschaftsflüchtlingen aus Prag die Stadt erreichen würden. Jetzt unterstützten zahlreiche Dresdnerinnen und Dresdner diejenigen, die im Hauptbahnhof einerseits für unbegrenzte Rreisefreiheit demonstrierten oder in die Züge gelangen wollten, die von Prag kommend mit den Botschaftsflüchtlingen in die Bundesrepublik fuhren.
Reisende und Protestierende wurden brutal aus dem Dresdner Hauptbahnhof vertrieben, dadurch verlagerten sich die Auseinandersetzungen auf den Vorplatz und in die Innenstadt. Es kam zu stundenlangen Straßenschlachten, ein Polizeiauto brannte und der Bahnhof wurde demoliert. Die Volkspolizei – ausgerüstet mit Visierhelmen, Gummiknüppeln und Schilden - setzte Wasserwerfer und Tränengas sein, Staatssicherheit und Kampfgruppen waren im Einsatz und der Chef der SED Bezirksleitung, Hans Modrow, forderte polizeilich ausgebildete Sondereinheiten der Nationalen Volksarmee an, die schon seit Jahresbeginn auf die Niederschlagung eventueller Aufstände vorbereitet worden waren. Indessen angekommen im bayerischen Hof, strahlten westliche Medien die glücklichen Gesichter der mit den Sonderzügen Geflüchteten in die DDR zurück.
Wendepunkte: der 7. und 9. Oktober
Hatten sich die Demonstrationen bereits seit Ende September in viele Orte ausgebreitet, so spitzte sich jetzt alles auf den Nationalfeiertag der DDR, den 7. Oktober, hin zu. An diesem Tag gab es wieder Auseinandersetzungen mit Demonstranten in Leipzig und in Dresden aber auch in bisher relativ ruhigen Städten wie etwa in Plauen, Karl-Marx-Stadt und Potsdam.
Rund um den 7. Oktober 1989 herrschte Ausnahmezustand in mehreren Städten der DDR. Polizei und Stasi gingen gewaltsam gegen Demonstranten vor, die friedlich für Reformen eintraten. Ein filmischer Überblick.
Entscheidend war jedoch Ost-Berlin, wo sich, unter den Objektiven zahlreicher westlicher Kameras am Nachmittag vor allem Jugendliche auf dem Alexanderplatz sammelten, um wie immer am 7. des jeweiligen Monats gegen die Fälschung der Kommunalwahlen zu protestieren. Aber diesmal war es anders – die Protestierenden und zahlreiche weitere Menschen zogen selbstbewusst und lautstark zum „Palast der Republik“ wo die Führung der SED mit ihren in- und ausländischen Ehren-Gästen den 40. Jahrestag der DDR feierte, darunter Michail Gorbatschow, der vorzeitig aufbrach.
Einsatzkräfte drängten die Demontrierenden Richtung Prenzlauer Berg und Gethsemanekirche ab, bildeten Sperrketten und riegelten ganze Wohngebiete ab. Es gab brutale Übergriffe, denen auch zufällig anwesende Passanten zum Opfer fielen, darunter nicht wenige SED-Mitglieder, die sich anschließend entsetzt bei ihrer Parteiführung beschwerten.
Der Aufstand hatte somit breite Schichten in der Hauptstadt erreicht und seine Bilder gingen um die ganze Welt, auch wenn die Staatssicherheit gezielt Drehmaterial anwesender Fernsehteams beschlagnahmte. Fast übersehen wurde dabei, dass im sächsischen Plauen mit 76.000 Einwohnern am gleichen Tag zwischen 10.000 und 20.000 Menschen auf die Straße gingen – und damit ihren Reformwillen zum Ausdruck brachten – trotz Hubschrauber- und Wasserwerfereinsatz der Sicherheitskräfte.
Gewaltlosigkeit als wirksame Waffe
Entscheidend war hier jedoch neben dem hohen Mobilisierungsgrad, dass auf Seiten der Demonstrierenden Gewalt unterblieb und sich Angehörige von Polizei und Kampfgruppen zunehmend weigerten, Gewalt gegen die eigene Bevölkerung auszuüben. In Dresden gelang es am Abend des 8. Oktober sogar, zwischen der Volkspolizei und einer spontan gegründeten „Gruppe der 20“ aus der Menge der Demonstrierenden Gewaltlosigkeit zu vereinbaren. Die Befehlsketten der Diktatur wurden brüchig.
Jetzt wurde Montag der 9. Oktober in Leipzig zum Schicksals- bzw. Symboltag der Revolution. Die bange Frage war, wie viele Menschen sich diesmal nach den Friedensgebeten in den Kirchen der Stadt zum Protest in die Öffentlichkeit wagen würden und ob die SED-Führung zur Gewaltanwendung bereit und in der Lage war. Doch angesichts von 70.000 Demonstrierenden blieben entsprechende Einsatzbefehle für ein hartes Durchgreifen aus. Besonders der im Politbüro für „Sicherheitsfragen“ zuständige SED-Funktionär Egon Krenz, der den Sturz Honeckers vorbereitete und dem klar sein musste, dass er nach einem Blutbad in Leipzig für eine Führungsrolle disqualifiziert sein würde, äußerte sich erst, als die Entscheidung an der Pleiße gefallen war. Die Friedfertigkeit der Revolution schien gesichert. Auch in Ost-Berlin war es nach dem 7. Oktober relativ ruhig geblieben und die Situation kennzeichnete, dass hier Künstler und vor allem Schauspieler eine genehmigte Demonstration am 4. November 1989 zur Reform der DDR angemeldet hatten. Dabei entstand eine „Sicherheitspartnerschaft“ zwischen den Organisatoren und der SED-Führung, die auch eigene Redner durchsetzen konnte. In Erinnerung wird bleiben, dass etwa 250.000 diesem Aufruf folgten, überaus witzige kritische Plakate trugen und dass alles direkt vom DDR-Fernsehen übertragen wurde. Für die SED-Führung war es an diesem Tag von höchster Bedeutung, dass die Demonstrierenden auf dem Platz verblieben und nicht Richtung Brandenburger Tor marschierten und die Mauer stürmten. Aus dieser Furcht warteten einsatzbereite Polizei- und Militäreinheiten versteckt in Hinterhöfen und Seitenstraßen. Aber noch galt das Ziel Mauer für Demonstrierende als Tabu, obschon am 4. November bereits Transparente mit Forderungen hochgehalten wurden, wie „Mauer ins Museum!“ und „Visafrei bis Hawai!“
Reisefreiheit als Ventil?
Entscheidend blieb, dass ohne eine solche Reisefreiheit die Fluchtwelle nicht zu beenden war, die Kritiker des Systems weiterhin in wachsender Zahl und an immer mehr Orten demonstrierten und dass die neuen Parteien und Bürgerbewegungen sich stabilisierten. Zwar waren Berliner Mauer und die innerdeutschen Grenzen physisch noch intakt, also noch nicht von einem Fall oder Sturz bedroht. Doch es war klar, dass sich der Protest schon bald gegen die geschlossene Grenze wenden könnte oder würde.
Für die SED-Führung hieß das, zeitnah eine Reiseregelung zu erreichen, die „den Druck aus dem Kessel“ nimmt und gleichzeitig ihr Machtmittel, die geschlossene Grenze rettet. Doch das Thema Reiseunfreiheit rückte seit dem 4. November immer stärker in den Vordergrund von Montags-Demonstrationen und Protestmärschen, mittlerweile in der gesamten DDR.
Der seit dem 18. Oktober neu im Amt befindliche Generalsekretär der SED, Interner Link: Egon Krenz, hatte bereits am 24. Oktober auf einer Sitzung des Politbüros den Auftrag erteilt, ein neues Reisegesetz zu erarbeiten, damit das „Fluchtproblem“ nach einer vielleicht vier Monate dauernden Diskussion zügig „vom Tisch“ sei. Ein neuer Entwurf für dieses Gesetz lag am 31. Oktober vor und wurde am 6. November veröffentlicht. Doch die Bevölkerung zeigte sich in ersten Umfragen und Briefen an die Staatsführung enttäuscht, zumal das Gesetz undurchschaubare Versagungsgründe für eine Reise in den Westen enthielt.
So rollte die Fluchtwelle ungebremst weiter. Seit dem Frühsommer 1989 bis zu diesem Zeitpunkt waren rund 300.000 Menschen in den Westen gelangt, die im Alltag an allen Ecken und Enden fehlten. Alle Berufsgruppen waren vertreten und sogar SED-Mitglieder und Mitarbeitende der Staatssicherheit kehrten von Urlaubsreisen nach Ungarn oder in die Tschechoslowakei nicht zurück. Andere gaben frustriert ihre Parteidokumente zurück.
Die Situation der Diktatoren an der Spitze der SED wurde immer verzweifelter. Sie mussten die Revolution abwürgen, um ihre Herrschaft zu retten und die Massenflucht beenden. Gleichzeitig konnten sie die Mauer nicht aufgeben, da diese die Voraussetzung ihrer Herrschaft war. Fieberhaft suchte die SED-Führung jetzt nach einer „Lösung“ dieses Problems - allerdings ohne dabei die eigenen Machtgrundlagen aufzugeben.
Egon Krenz nimmt für sich in Anspruch, dies erkannt zu haben und am Vorabend des 10. Plenums des Zentralkomitees der SED am 7. November den gerade zurückgetretenen, aber noch amtierenden, Ministerpräsidenten, Willi Stoph, gebeten zu haben, zusammen mit dem Innenminister den Entwurf für ein neues Reisegesetz zu erarbeiten. Damit wollte die SED auf den Protest der Ostdeutschen reagieren und ihrem Wunsch nach freiem Reiseverkehr endlich entsprechen. Dies sollte auch außen- und bündnispolitisch abgesichert werden.
Dem war vorausgegangen, dass die Regierung in Prag jetzt ihrerseits gedroht hatte, angesichts der ostdeutschen Flüchtlinge in ihrem eigenen Land die Grenze zur DDR zu schließen, da allein am 8. November mehr als 40.000 Ostdeutsche über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik ausgereist waren. Gleichzeitig versammelten sich vor dem Gebäude des Zentralkomitees zehntausende SED-Mitglieder und forderten mit drastischen Worten die sofortige Einberufung einer Parteikonferenz der SED. Auch die Basis der Diktaturpartei in den Bezirken begann zu bröckeln und erhöhte den Druck auf die Führung der SED zu einem Befreiungsschlag. Diese reagiert insgesamt chaotisch, kopflos und kaum handlungsfähig.
Auf der Suche nach einem Befreiungsschlag
Am 8. November begann dann das bis zum 10. November tagende Plenum des ZKs der SED mit der Arbeit an einem Aktionsprogramm „Schritte zur Erneuerung“. Dies konnte allerdings keinen Sinn mehr ergeben, wenn die SED-Führung das angesichts der Revolution existentielle Reiseproblem nicht lösen würde. In dieser Krisensituation und in höchster Zeitnot drückte Willi Stoph Egon Krenz am Nachmittag des 9. November den, im Innenministerium erarbeiteten, Entwurf für eine neue Reiseverordnung in die Hand.
Krenz reagierte und schlug dem Zentralkomitee „zeitweilige Übergangsregelungen“ vor. So sollten Privatreisen ins Ausland ohne Vorliegen besonderer Voraussetzungen beantragt werden können. Genehmigungen seien kurzfristig zu erteilen, Versagungsgründe also nur in Ausnahmefällen anzuwenden. Technisch hatten diese Regelung die Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter abzuwickeln. Ständige Ausreisen konnten über alle Grenzübergangsstellen erfolgen. Die Regelung sollte in einer Pressemitteilung am Morgen des 10. November verkündet werden - wenn alle zuständigen Dienststellen informiert sind.
Diese Ankündigung hätte zu einem Triumph der neuen SED-Führung werden können, zur einem möglicherweise revolutionsentschärfenden Beruhigungsmedikament. Der Begriff „zeitweilig“ für die Regelung wurde noch auf Vorschlag des Kulturministers Hans-Joachim Hofmann gestrichen, denn er hätte die Absicht der SED-Führung offenkundig werden lassen, diese neue Reiseverordnung nur für kurze Zeit gelten zu lassen.
Den Erlass dieser Verordnung sollte das Politbüromitglied Günter Schabowski noch am gleichen Abend auf einer von den DDR-Medien live übertragenen internationalen Pressekonferenz vorankündigen, die am 9. November um 18 Uhr begann. Der Schritt geschah ohne einen Beschluss von Regierung oder Volkskammer, die nach der noch gültigen Verfassung hätte zustimmen müssen. Schabowski hielt sich dabei an den Text der Verordnung und reagierte etwas hilflos wirkend auf die Nachfrage eines italienisch Journalisten, Ricardo Ehrmann, mit der Auskunft, die Verordnung würde „ab sofort, unverzüglich“ in Kraft treten.
Ob dies mit Absicht geschah oder wirklich ein Versehen war, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Der Wahrheit am nächsten kommt wohl Ilko-Sascha Kowalczuk mit der Auffassung: „Die Inszenierung der Maueröffnung durch Egon Krenz und Günter Schabowski war ein großes Schauspiel zweier politischer Dilettanten, die nicht einmal ansatzweise mit diesen Folgen gerechnet hatten“. Die entscheidende Folge war letztlich, dass die Diktatur nicht stabilisiert wurde. Denn in Konsequenz des Beschlusses wurde ihr Stabilisator – die Mauer - überflüssig.
"Wir fluten jetzt" - Ungeduldiges Bürgertum drückte die Mauer auf
Der Dilettantismus der SED-Funktionäre drückte sich auch darin aus, dass weder mit der Bundesregierung noch mit dem Senat von West-Berlin die mit der Grenzöffnung verbundenen ökonomischen, finanziellen oder juristischen Fragen besprochen oder gar geklärt worden waren, es hatte nur eine Vorwarnung an den West-Berliner Senat gegeben, dass eine umfangreiche Reiseregelung vorbereitet werde und künftig mit deutlich mehr Besuchsreisen zu rechnen sei.
Auch Moskau und die westlichen Regierungen zeigten sich überrascht. Die Sowjetunion sah ihre unmittelbaren Interessen in Berlin berührt. Hier hatte man an einen oder mehrere Grenzübergänge im Süden der DDR, über die Ausreisewillige das Land hätten verlassen können, gedacht. Doch all solchen Regelungen kamen nun die durch das „Unverzüglich“ mobilisierten Ost-Berlinerinnen und Berliner zuvor und drängten im Lauf des Abends in die Grenzübergänge zwischen Ost- und West-Berlin wie an der Bornholmer Straße , wo ihr Druck den diensthabenden Grenzern, die ohne Befehle dastanden, kurz vor Mitternacht über den Kopf wuchs. Letztlich drückte die Menschenmasse die Schlagbäume auf.
Damit mündete die Friedliche Revolution in ihren eigentlichen Triumph - den Sieg über die Mauer. Nicht das Regime wurde gestürzt, sondern das ihre Macht stabilisierende Element. Jetzt waren Mauer und Grenzregime nutzlos geworden und für die Regierung wurde ihr Ende ebenfalls absehbar. Diese Entwicklung überraschte die Politbürokraten vollkommen.Trotz der Erfahrung einer sich monatelang immer stärker entfaltenden Revolution, hatten sie nicht damit gerechnet, dass sich Ost-Berlinerinnen und Berliner, nachdem sie Schabowskis Pressekonferenz live verfolgt oder nachrichtlich davon über westliche Medien erfahren hatten, zu tausenden spontan zu Grenzübergangsstellen auf den Weg machten. Die Grenzsoldaten, Zollbeamten und Staatssicherheitsoffiziere an den Grenzen hatten noch keinerlei Informationen vorliegen, bekamen auch keine Befehle und öffneten schließlich angesichts der Menschenmassen, die ihnen gegenüberstanden die Grenze – wie die an der Bornholmer Straße. Die Menschen hatten dort im Chor gerufen: „Tor auf! Tor auf!“ und „Wir kommen wieder, wir kommen wieder!“. Bis dahin unvorstellbar waren nicht nur die auf ihr Reiserecht pochenden Menschen, sondern unter ihnen sogar ein westliches Fernsehteam von Ost-Berlin aus in den Grenzübergang gelangt:
Unkommentiertes Drehmaterial von SPIEGEL-TV aus der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, gefilmt im Grenzübergang Bornholmer Straße ab 23 Uhr und am Brandenburger Tor.
Der stellvertretende Leiter der Passkontrolleinheit bangte um das Leben seiner Leute, ließ schließlich die Grenze öffnen und meldete dem Ministerium für Staatssicherheit: „Es ist nicht mehr zu halten, wir müssen die GÜST [Grenzübergangsstelle] aufmachen. Ich stelle die Kontrolle ein und lasse die Leute raus“. Und dann hieß es: „Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf“. Bis um 0.15 Uhr des 10. November hatten bereits 20.000 Menschen diese Grenzübergangsstelle passiert. Gleichzeitig zu den Berliner Ereignissen hatten sich zehntausende Ostdeutsche auf den Autobahnen und ab dem Morgen auch mit der Bahn Richtung Westen aufgemacht. Die innerdeutsche Grenze geschlossen zu halten, war angesichts dieser Massendemonstration für sofortige Reisefreiheit nirgendwo mehr möglich. Zwangsläufig ging es danach auch nicht mehr um „Wir sind das Volk“ sondern um „Wir sind ein Volk“. Beides Rufe der Revolution, die eng zusammen gehören, aber auch unterschiedliche Ziele symbolisieren.
Fazit
Als Fazit bleibt, dass Mauer und innerdeutsche Sperranlagen somit nicht einfach „gefallen“ sind – wie heute oft vereinfachend zu hören ist - und die SED-Führung öffnete sie auch nicht freiwillig, sondern nur durch den stetig wachsen Druck im Zuge dieser gewaltfreien Revolution, ausgelöst durch Ausreisewillige und Bürgerrechtler, zuletzt Seite an Seite mit prominenten DDR-Künstlerinnen und Künstlern und einem immer unzufriedeneren und ungeduldigerem, nicht länger passivem Bürgertum. Bis hinein in die Nacht des 9. November.
Und so wirkt es aus meiner Sicht auch zutiefst verlogen, wenn Interner Link: Egon Krenz die Grenzöffnung für sich in Anspruch nimmt und meint, er habe gehandelt, um Gefahren von der DDR und der Demokratiebewegung abzuwenden. Letztlich hatte Schabowski Pressekonferenz dem Abwürgen der Revolution dienen sollen. Dies geschah ungeschickt und in jedem Fall zu spät, da der Sturm der Ungeduldigen auf die Berliner Mauer in der Logik der Ereignisse lag, und das auch, wenn es auch erst Tage oder Wochen später dazu gekommen wäre. Denn es ging der Politbürokratie aus meiner Sicht nicht darum, die Mauer fallen zu lassen. Sie wollte sie erhalten und mit einer Reiseregelung verbinden.
Entscheidend war, dass immer mehr Ostdeutsche seit Anfang September 1989 die Erfahrung gemacht hatten, dass sie mit friedlichen Demonstrationen auf der Straße Reformen erreichen und die Diktatur in die Knie zwingen konnten - und dass es ihnen möglich wurde, ihre Angst zu überwinden. Gegenüber dem Mut der selbstbewusst Demonstrierenden war die Führung der SED mit allen ihren Machtmitteln machtlos, inklusive der Geheimpolizei Staatssicherheit.
Das Abwürgen der Revolution durch eine geregelte Grenzöffnung erwies sich als eine Fehlkalkulation. Die Staatspartei hatte den richtigen Zeitpunkt verpasst, durch eine solche Maßnahme und zugleich durch weitsichtig garantierte Bürgerrechte, Wahlfreiheit und Rechtsstaatlichkeit ihre Herrschaft zumindest zeitweilig zu stabilisieren. Mit der Erstürmung ihres Grenzbollwerks am Abend des 9. November 1989 war die Machtsicherung der SED gänzlich gescheitert. Alles, was jetzt noch versucht wurde, die Revolution und letztlich die Wiedervereinigung aufzuhalten, war vergebens.
Schlangestehen am Bahnhof Friedrichstraße am 10.11.89
Zahlreiche Ostberliner stehen am Morgen des 10.11.1989 Schlange rund um den S-Bahnhof Friedrichstraße, um nach Westberlin zu fahren.
Zahlreiche Ostberliner stehen am Morgen des 10.11.1989 Schlange rund um den S-Bahnhof Friedrichstraße, um nach Westberlin zu fahren.
Ich selbst erfuhr vom Sturm auf die Mauer und ihre dadurch erzwungene Öffnung erst am Morgen des 10. November und heulte vor Glück wie ein Schlosshund. Dann packte ich etwas Proviant ein, borgte mir zehn D-Mark, besorgte mir einen, im Nachhinein historischen, Ausreisestempel auf meiner zuständigen Volkspolizeidienststelle und machte mich auf den Weg nach Westberlin.
Der Westen mit seinem verlockenden Konsumangebot ließ mich relativ kalt, interessanter war, viele meiner ostdeutschen Landsleute zu beobachten, die sich wie in einer Art glücksbeseeltem Rausch-Zustand befanden.
Schlagartig wurde mir bewusst, dass jetzt die Zeit eventueller Reformen in der DDR erst einmal vorbei war, da die deutsche Einheit zur plötzlich greifbaren Option wurde. Dies untermauerte dann das Ergebnis der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990. Die Mehrheit der Ostdeutschen sehnte sich offenkundig nach dem bundesdeutschen politischen System und vergleichbaren Wohlstand – mit dem dortigen Konsum ohne Wenn und Aber. Ernüchterung wuchs auf beiden Seiten erst später, wobei bis heute die Freude überwiegt.
Zitierweise: "Der Sturz der Berliner Mauer als Ergebnis der Friedlichen Revolution“, Rainer Eckert, in: Deutschland Archiv, 7.11.2019, Link: www.bpb.de/300029
Prof. Rainer Eckert ist Historiker und außerplanmäßiger Professor für politische Wissenschaften. Bis 2015 leitete er das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig. Er ist Autor zahlreicher Bücher über den Nationalsozialismus und die SED-Diktatur.
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