War die Grenzöffnung am 9. November 1989 die "erste wirklich souveräne Entscheidung" der DDR-Regierung? Unter der Überschrift "Wahrheiten und Legenden vom 9. November" schildert der damals amtierende DDR-Staatsratsvorsitzende und SED-Generalsekretär, Egon Krenz, die Öffnung der Mauer als politischen Schritt, um Druck von zwei Seiten abzubauen - von der eigenen Bevölkerung und der Bundesregierung in Bonn, die Finanzhilfen an Bedingungen knüpfen wollte. Aber auch Moskaus Verhalten beschäftigte Krenz.
Am 6. November veröffentlichten wir den Entwurf eines neuen Reisegesetzes. Er sah vor: »Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht, in das Ausland zu reisen.« Das war für mich der entscheidende Satz. Hätten wir dieses Recht früher gewährt, wären uns viele unangenehme politische Probleme erspart geblieben: Republikfluchten, Verurteilungen, Abschiebungen, Botschaftsbesetzungen… Noch vor Weihnachten sollte das Gesetz unter Berücksichtigung der Veränderungsvorschläge der Bürgerinnen und Bürger von der Volkskammer verabschiedet werden.
Als ich im Laufe des Tages die Informationsberichte und die eingehenden Fernschreiben und Telegramme las, hielten sich noch zustimmende und ablehnende Äußerungen zum Gesetzentwurf die Waage. Je älter der Tag wurde, umso mehr nahmen die Ablehnungen zu. Vor einem halben Jahr wäre dieser Gesetzentwurf noch ein Fortschritt gewesen. Jetzt aber war er schon am Tag seiner Veröffentlichung Makulatur. Rechtsanwalt Gregor Gysi will uns gewarnt haben, diesen Entwurf zu veröffentlichen. Seine Warnung drang damals nicht bis zu mir. Er empfahl, freies Reisen ohne jegliche Einschränkung zu gestatten. Für jemanden, der reisen konnte und DM in der Tasche hatte, war diese Forderung verständlich. In einer Marktwirtschaft stellt sich solche Frage auch nicht.
Da kümmert es den Staat nicht, ob einer Geld zum Reisen hat oder nicht. Ich glaubte damals, DDR-Bürger kämen sich veralbert vor, wenn wir »freies Reisen« proklamierten und ihnen die Reisemittel vorenthielten, also verweigerten. Die Kosten, die von der DDR für jeden Reisenden getragen werden mussten, waren erheblich: Die Bundesrepublik stellte uns jeden mit der Bundesbahn gefahrenen Kilometer in Rechnung – und zwar in Devisen. Wir mussten also mit ihr verhandeln, wie sie sich an den gewünschten Erleichterungen im Reiseverkehr beteiligen konnte. Deshalb so zögerliche Schritte bei der Gesetzesvorlage.
Von der Bundesregierung unter Druck gesetzt
Die Bundesregierung aber nutzte die zugespitzte Situation in der DDR, um uns unter massiven Druck zu setzen. Man machte in Bonn »keinen Hehl daraus, dass es nach der ›Sonnabend-Veranstaltung‹ [der Ost-Berliner Großdemonstration vom 4. November 1989], große Zurückhaltung seitens der verantwortlichen Politiker der Regierungskoalition gebe«, hatte mir mein persönlicher Beauftragter für die Kontakte zur Bundesrepublik, Alexander Schalck-Golodkowski, berichtet. Schäuble habe ihm gesagt, für die Bundesrepublik sei die Änderung der DDR-Verfassung das Grundproblem. Plötzlich also ging es nicht mehr um das Reisen!
Aus meiner Sicht ging es der Bonner Regierung schon nicht mehr um die Menschen, sondern um die Vereinnahmung der DDR. Der letzte Absatz der Schalck-Information an mich lautete: »Schäuble empfahl abschließend nochmals dringend, dass der Generalsekretär Egon Krenz in seiner Rede die geäußerten Gedanken aufgreift. Andererseits wäre Bundeskanzler Kohl nicht in der Lage, vor dem Bundestag finanzielle Hilfen aus Steuergeldern zu begründen.« Das war aus meiner Sicht nackte Erpressung! Die Forderung widersprach der telefonischen Erklärung Kohls, nicht an einer Destabilisierung der DDR interessiert zu sein.
Bonn verlangte quasi von der DDR eine Verfassungsänderung gegen Valuta. Diesem Druck wollte ich mich nicht beugen. Ich schloss daher nicht mehr aus, eine sofortige Lösung für das Reisen zu finden, ohne jedoch einen Vorschlag für den Umtausch von Mark der DDR in Deutsche Mark anbieten zu können. So entstand die Idee, bis zur gesetzlichen Regelung eine »Sofortige Reiseverordnung« zu erlassen, die durch Beschluss der Regierung in Kraft gesetzt werden konnte. Ich nutzte die 10. Tagung des ZK, die am 8. November begann, um noch einmal meinen Standpunkt zur Reiseproblematik zu erläutern: Das Zentralkomitee müsse wissen, sagte ich, dass es große Schwierigkeiten bei der Finanzierung der Reisen gebe. Bevor wir anderentags das Plenum fortsetzten, fragte ich Ministerpräsident Willi Stoph: »Was macht die Reiseverordnung?« »Du erhältst sie heute am Nachmittag«, versicherte er mir.
Reiseverordnung im Eiltempo ausgearbeitet
Von Wolfgang Herger wusste ich, dass er direkten Kontakt mit Innenminister Dickel unterhielt, unter dessen Leitung die Reiseverordnung erarbeitet wurde. Als Herger von ihm den Entwurf erhalten hatte, schob er ihn mir im Präsidium während der ZK-Tagung zu. In der Pause gegen 12 Uhr trug ich den Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros den Entwurf vor. Es gab Hinweise für einige kleine stilistische Korrekturen. Ansonsten waren alle damit einverstanden. Ich bat Herger, Stoph anzurufen und diese mitzuteilen, damit wir nicht zwei unterschiedliche Fassungen bekämen. Um 15.30 Uhr traf ich mich mit Johannes Rau. Der Stellvertretende SPD-Vorsitzende und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen wollte wissen, was mit unserem Reisegesetz werde.
Die Antwort auf diese Frage war für mich schwierig. Sollte ich ihm sagen, dass wir in der Nachmittagssitzung des Zentralkomitees über eine »Reiseverordnung« sprechen würden? Dass wir planten, am 10. November die Grenzübergänge für den Reiseverkehr zu öffnen? Meine Erfahrungen mit Gesprächspartnern aus dem Westen sprachen dagegen. Ich fürchtete, Rau würde diese vertrauliche Information sofort nach Bonn melden. Und dann käme sie über die Medien aus dem Westen wieder in die DDR zurück. Das wollte ich nicht. Die Erstinformation musste von uns selbst kommen.
Ich informierte Rau daher nur allgemein. Der Reiseverkehr zwischen beiden deutschen Staaten sei nicht vergleichbar mit anderen Ländern in der Welt. Selbst 1988, als die Reisemöglichkeiten noch eingeschränkt waren, hatte es sechs Millionen Reisen aus der DDR in die BRD und nach Berlin (West) gegeben. Jetzt würden wir mit 12 bis 13 Millionen Reisenden von Ost nach West rechnen. Das würde Milliarden DM kosten, die die DDR allein nicht würde aufbringen können. Ich bat den SPD-Politiker, sich dafür einzusetzen, dass sich die BRD-Regierung im Interesse der Menschen daran beteiligte.
Als ich wieder im Zentralkomitee war, übergab mir [der Vorsitzende des DDR-Ministerrats] Willi Stoph die inzwischen in der Regierung beschlossene Reiseverordnung. Sie war identisch mit der Umlaufvorlage, die den Mitgliedern der Regierung zur Bestätigung übergeben worden war. Während im Plenum die Diskussion über mein Referat weiterlief, las ich Satz für Satz der Verordnung noch einmal durch. Ich ahnte damals nicht, welche Auseinandersetzung es bei den Autoren der Verordnung gegeben hatte und welche Intentionen dabei eine Rolle gespielt hatten. Wer an der Erarbeitung der Vorlage beteiligt war, gehörte nicht zu meiner Verantwortung.
Angst vor einem Scheitern
Für mich war entscheidend, dass ich das Dokument vom Regierungschef erhielt. Ich verließ mich auf dessen Mitteilung, dass die Verordnung in der Regierung einstimmig beschlossen worden war. Dennoch war mir beim Lesen bewusst, dass wir uns damit eine ungeheure Last komplizierter politischer und wirtschaftlicher Probleme aufladen würden. Wären wir aber zu dieser Entscheidung nicht fähig, würde die Politik der Erneuerung scheitern.
Ich wollte eine souveräne Entscheidung der DDR und keine von der Bundesrepublik erzwungene. Wegen der politischen Tragweite wollte ich unbedingt das Zentralkomitee über den Regierungsbeschluss informieren und es so in die Entscheidung mit einbeziehen. Gegen 16 Uhr erhob ich mich von meinem Platz, richtete das Mikrofon so, dass mich jeder gut verstehen konnte und sagte langsam, damit die Bedeutung jedes Satzes klar wurde: »Ich muss noch einmal von der Tagesordnung abweichen. Euch ist ja bekannt, dass es ein Problem gibt, das uns alle belastet: die Fragen der Ausreisen.
Die tschechoslowakischen Genossen empfinden das allmählich für sich als eine Belastung, wie früher auch die ungarischen. Und: Was wir auch machen in dieser Situation, wir machen einen falschen Schritt. Schließen wir die Grenzen zur CSSR, bestrafen wir im Grunde genommen die anständigen Bürger der DDR, die dann nicht reisen können«, sagte ich.
»Selbst das würde aber nicht dazu führen, dass wir das Problem in die Hand bekommen; denn die Ständige Vertretung der BRD hat schon mitgeteilt, dass sie ihre Renovierungsarbeiten abgeschlossen hat. Das heißt, sie wird öffnen, und wir würden auch dann wieder vor diesem Problem [weiterer DDR-Flüchtlinge in der bundesdeutsche Botschaft] stehen. Genosse Stoph hat als amtierender Vorsitzender des Ministerrates eine Verordnung vorgeschlagen, die ich jetzt verlesen möchte, weil sie zwar vom Politbüro bestätigt worden ist, aber doch solche Wirkung hat, dass ich das Zentralkomitee nicht ohne Konsultation lassen möchte.«
"Das ist die Weltnachricht!"
Dann las ich den »Beschluss zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR« vor. Danach verlas ich den Entwurf einer Pressemitteilung, die am 10. November in den Printmedien veröffentlicht werden sollte. Dann wiederholte ich: »Wie wir es machen, machen wir es verkehrt. Aber das ist die einzige Lösung, die uns die Probleme erspart, alles über Drittstaaten zu machen, was dem internationalen Ansehen der DDR nicht förderlich ist.« Gegen 17.15 Uhr kam Günter Schabowski zu mir und meldete sich für den Rest der Tagung ab. Er müsse zu einer internationalen Pressekonferenz, die um 18 Uhr beginne. Er wolle von mir nur wissen, ob ich noch Hinweise hätte. »Du musst unbedingt über den Reisebeschluss informieren. Das ist die Weltnachricht!« Da er angeblich nicht die authentische Ministerratsverordnung bei sich hatte, übergab ich ihm mein Exemplar.
Im Internationalen Pressezentrum löste Schabowski durch seine Unkonzentriertheit Verwirrung aus. Um 18.53 Uhr fragte ihn ein Journalist nach dem Stand der Ausarbeitung einer neuen Reiseregelung. Schabowski antwortete: »Mir ist eben mitgeteilt worden, der Ministerrat hat beschlossen …« Er hielt sich an den Text der Verordnung und die Pressemitteilung. Aber dann der Irrtum: Die Grenzöffnung sollte am Morgen des 10. November erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt hätten die Befehle für die Grenztruppen, das Ministerium für Staatssicherheit und die Volkspolizei vorgelegen. Günter Schabowski antwortete jedoch auf eine Nachfrage nach dem Zeitpunkt sichtlich verwirrt: »Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis unverzüglich.«
Vor 20 Uhr waren an allen Grenzübergängen in Berlin nicht einmal hundert Leute versammelt. Das änderte sich schlagartig nach Ausstrahlung der ARD-Nachrichtensendung um 20.00 Uhr, in der es hieß: »Reiseverkehr frei. Tore in der Mauer weit offen. Völlig komplikationslos nach Westberlin.« Erst jetzt begaben sich Berliner an die Grenzübergänge in der Annahme, die veröffentlichten Informationen würden stimmen. Nachweisbar also kein spontaner »Sturm auf die Mauer«, sondern ein Spaziergang auf »Einladung Schabowskis« mit starker Medienunterstützung.
Mielke Fragte: "Was sollen wir machen?"
Kurz vor 21 Uhr rief mich Erich Mielke an. Er habe soeben erfahren, dass sich viele Menschen in Richtung Grenze bewegten. Schabowski solle irgendetwas auf einer Pressekonferenz gesagt haben. Er wisse noch nicht genau, was los sei, werde mich aber sofort anrufen, wenn er im Bilde ist. Nach wenigen Minuten meldete er sich ein zweites Mal. Tausende, so informierte er, seien in Richtung Grenzübergangsstellen unterwegs, teils zu Fuß, teils mit dem Pkw. »Was sollen wir machen?«, fragte er mich.
Ich wollte vor meiner Entscheidung noch mit Verteidigungsminister Keßler sprechen, dem die Grenztruppen der DDR unterstanden. Sein Amtssitz befand sich in Strausberg. Dort erreichte ich ihn jedoch nicht. Er war dort noch nicht von der ZK-Tagung eingetroffen, Handys gab es noch nicht. Mielke meldete sich erneut und war hörbar erregt: »Wenn wir nicht sofort entscheiden, was zu tun ist, dann verlieren wir die Kontrolle.« Ich frage Mielke: »Was schlägst du vor?« »Generalsekretär bist du.«
Es war für mich sein Signal: Das Ministerium für Staatssicherheit wird sich meiner politischen Entscheidung nicht widersetzen. Das war außerordentlich wichtig. »Wir werden ja wegen der paar Stunden bis zum 10. November – dann sollten die Grenzübergangsstellen ohnehin geöffnet werden – nicht noch eine Konfrontation mit der Bevölkerung riskieren. Also, hoch mit den Schlagbäumen!« Mielke darauf, ziemlich leise: »Hast recht.«
Wolfgang Herger, der sich in meinem Arbeitszimmer befand und das Telefonat mitgehört hatte, ermunterte mich zu dieser Entscheidung. Auch Siegfried Lorenz meinte, dass die Entscheidung gegen Gewalt die einzig vernünftige sei. Lorenz und Herger waren die einzigen der neu gewählten Politbüromitglieder, die zusammen mit mir die schwierigsten Stunden der Grenzöffnung im Haus des ZK erlebten. Alle anderen Führungskader waren zu Hause oder in ihren Hotelzimmern. Die Situation war für uns alle beispiellos: Eine spontane Grenzöffnung ohne entsprechende Befehle für die Sicherheitsorgane an den Grenzübergängen, das konnte äußerst kritisch werden. Mir war wohl bewusst, dass in dieser Nacht ohne stabsmäßige Vorbereitung beängstigende Gefahren lagen.
Eine Grenze, die 1961 durch Beschluss aller Staaten des Warschauer Vertrages befestigt worden war und die in Berlin nach wie vor unmittelbar die Interessen der vier Alliierten aus dem Zweiten Weltkrieg betraf. Mich bewegte: Was, wenn es in dieser Nacht auch nur einen Toten geben würde? Wenn Panik ausbricht? Wenn im Gedränge Menschen ums Leben oder zu Schaden kamen? Was, wenn es Provokateure gab, die den Einsatz von Gewalt heraufbeschwören?
Die Entscheidung: Schlagbäume hoch oder Gewalt, war eine weltpolitische, aber auch eine schwierige Gewissensentscheidung. Es stimmte, den Grenzübergangsstellen konnten wegen der unerwarteten irritierenden Äußerungen Schabowskis noch keine schriftlichen Befehle zur Öffnung der Übergänge vorliegen. Doch es gab den entscheidenden Befehl vom 3. November 1989, der den Einsatz der Schusswaffe auch im Grenzgebiet untersagte. Wolfgang Herger schlug vor, eine »Operative Führungsgruppe« des Nationalen Verteidigungsrates zu bilden, die die Situation ununterbrochen analysieren und notwendige Entscheidungen für die politische Führung vorbereiten sollte.
Ständiger Kontakt zu den sowjetischen Streitkräften
Ich berief Fritz Streletz zum Leiter des Gremiums. Er hielt den direkten Kontakt zum Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages und der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf. Unsere sowjetischen Verbündeten auf dem Territorium der DDR standen bereit, uns jede notwendige Unterstützung zu geben, so wir sie darum bitten würden. Sie befanden sich in »Erhöhter Gefechtsbereitschaft« und ihre Führungsorgane in »Voller Gefechtsbereitschaft«.
Am frühen Morgen des 10. November rief mich im Auftrage Gorbatschows der sowjetische Botschafter an. Der sonst so zurückhaltende Kotschemassow war äußerst aufgebracht: »Genosse Krenz, in Moskau ist man beunruhigt über die Lage an der Berliner Mauer, wie sie sich heute Nacht entwickelt hat.« »Das wundert mich«, erwiderte ich. »Im Prinzip wurde doch nur um Stunden vorgezogen, was heute ohnehin vorgesehen war. Unser Außenminister hat die Reiseverordnung doch mit Ihnen abgestimmt.« »Ja, aber das stimmt nur zum Teil. Es handelte sich nur um die Öffnung von Grenzübergängen zur Bundesrepublik. Die Öffnung der Grenze in Berlin berührt die Interessen der Alliierten.« Kotschemassow konfrontierte mich in diesem Moment mit einer Frage, die in den Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR in den letzten Jahren praktisch kaum noch eine Rolle gespielt hatte. Aus unserer Sicht galt das Vierseitige Abkommen nur für Westberlin, nicht aber für die Hauptstadt der DDR. Nun wurde plötzlich der Vier-Mächte-Status ins Spiel gebracht.
"Wer spielte hier mit falschen Karten?"
Ich sagte: »So habe ich die Sache nicht verstanden. Doch dies ist jetzt nur noch eine theoretische Frage. Das Leben hat sie heute Nacht praktisch beantwortet. Die Grenzöffnung wäre nur durch militärische Mittel zu verhindern gewesen. Das hätte ein Blutbad gegeben.« Kotschemassow entgegnet: »Sie haben Recht. So sehe ich das auch. Schreiben Sie das Genossen Gorbatschow.« Fritz Streletz war in der Lage, die Details der Öffnung in der Nacht auf Russisch darzulegen, und ich übergab diesem den Hörer, damit er Kotschemassow unterrichtete. Ich ärgerte mich über den Inhalt des Telefonats. Gestern hatte mir Stoph bestätigt, dass der Entwurf der Reiseverordnung mit Moskau abgestimmt worden sei. Nun wollte die sowjetische Seite nichts mehr davon wissen. Ich fragte mich: Wer spielte hier mit falschen Karten?
Gegen 11 Uhr, während der Sitzung des Zentralkomitees, legte mir Streletz das gewünschte Staatstelegramm an Gorbatschow vor:
»Lieber Michail Sergejewitsch Gorbatschow! Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Lage in der DDR war es in den Nachtstunden notwendig zu entscheiden, die Ausreise von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik auch nach Berlin (West) zu gestatten. Größere Ansammlungen von Menschen an den Grenzübergangsstellen zu Berlin (West) forderten von uns eine kurzfristige Entscheidung. Eine Nichtzulassung der Ausreisen nach Berlin (West) hätte auch zu schwerwiegenden politischen Folgen geführt, deren Ausmaße nicht überschaubar gewesen wären. Durch diese Genehmigung werden die Grundsätze des Vierseitigen Abkommens über Berlin (West) nicht berührt; denn die Genehmigung über Ausreisen zu Verwandten gab es nach Berlin (West) schon jetzt. In der vergangenen Nacht passierten ca. 60 000 Bürger der DDR die Grenzübergangsstellen nach Berlin (West). Davon kehrten ca. 45000 wieder in die DDR zurück. Seit heute Morgen 6.00 Uhr können nur Personen nach Berlin (West) ausreisen, die über das entsprechende Visum der DDR verfügen. Das gleiche gilt auch für ständige Ausreisen aus der DDR. Ich bitte Sie, lieber Genosse Michail Sergejewitsch Gorbatschow, den Botschafter der UdSSR in der DDR zu beauftragen, unverzüglich mit den Vertretern der Westmächte in Berlin (West) Verbindung aufzunehmen, um zu gewährleisten, daß sie die normale Ordnung in der Stadt aufrecht erhalten und Provokationen an der Staatsgrenze seitens Berlin (West) verhindern. Berlin, 10. November 1989 Mit kommunistischem Gruß Egon Krenz Generalsekretär.«
Glückwünsche von Gorbatschow
Schon nach wenigen Stunden rief mich Kotschemassow an. Sein Ton hatte sich geändert. »Genosse Krenz«, sagte er, »im Namen von Michail Gorbatschow, im Namen der sowjetischen Führung beglückwünsche ich Sie und alle deutschen Freunde, die die Grenze geöffnet haben, zu ihrem mutigen Schritt.« Ich antworte nur: »Ich danke Ihnen. Ich bitte Sie, Michail Sergejewitsch für diese Solidarität zu danken. Übermitteln Sie ihm, dass wir uns über die Übereinstimmung unserer Ansichten freuen.«
Ich fragte mich, was inzwischen in Moskau passiert war. Innerhalb so kurzer Zeit zwei so grundsätzlich verschiedene Reaktionen. Welche Auseinandersetzungen hatte es hinter den Kulissen gegeben? Wer hatte das Sagen in Moskau? Der Generalsekretär oder sein Apparat? Der Außenminister? Der Verteidigungsminister? Mich beunruhigte diese Unklarheit. Zumindest aber war man sich in Moskau bewusst, welche Gefahren mit der Grenzöffnung verbunden waren.
Das sowjetische Staatsoberhaupt schickte eine dringende Botschaft an Bundeskanzler Kohl. Sie wurde später von offizieller bundesdeutscher Seite immer wieder heruntergespielt. Daher will ich sie an dieser Stelle noch einmal ins Gedächtnis rufen:
»Wie Ihnen natürlich bekannt ist, hat die Führung der DDR einen Beschluss gefasst, der den Bürgern dieses Landes die Möglichkeit der freien Ausreise über die Grenzen zur BRD und Berlin (West) ermöglicht. Es ist verständlich, dass dieser Beschluss der neuen Führung der DDR durchaus nicht leicht gefallen ist. Zugleich bestätigt er aufs Neue, dass gegenwärtig in der DDR tiefe und bedeutende Veränderungen vor sich gehen. Die Führung der Republik handelt zielstrebig und dynamisch im Interesse des Volkes, sie entfaltet einen breiten Dialog mit verschiedenen Gruppen und Schichten der Gesellschaft. Erklärungen aus der BRD, die vor diesem politischen und psychologischen Hintergrund abgegeben werden, die unter Losungen der Unversöhnlichkeit gegenüber der realen Existenz zweier deutscher Staaten Emotionen und Leidenschaften anheizen sollen, können kein anderes Ziel verfolgen, als die Lage in der DDR zu destabilisieren und die sich dort entwickelnden Prozesse der Demokratisierung und Erneuerung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu untergraben. Wir haben die Mitteilung erhalten, dass heute in Berlin (West) ein Meeting stattfinden wird, an dem offizielle Vertreter aus der BRD und Berlin (West) teilnehmen werden. Zur gleichen Zeit ist auch ein Meeting in der Hauptstadt der DDR geplant. Bei den gegenwärtig faktisch offenen Grenzen und den gewaltigen Menschenströmen in beiden Richtungen kann eine chaotische Situation mit unübersehbaren Folgen entstehen. Angesichts der Kürze der Zeit und der zugespitzten Situation habe ich es für notwendig erachtet, Sie im Geiste der Offenheit und des Realismus zu ersuchen, Ihrerseits die notwendigen und äußerst dringlichen Maßnahmen zu treffen, damit eine Komplizierung und Destabilisierung der Situation nicht zugelassen wird.«
Sowjetische Angst vor einer Destabilisierung und großdeutschen Ambitionen
In Botschaften an US-Präsident Bush, an Frankreichs Präsident Mitterrand und an die britische Premierministerin Margaret Thatcher bat Gorbatschow die Repräsentanten der drei Westmächte, ihren Vertretern in Westberlin Weisungen zu erteilen,
»damit die Ereignisse nicht einen Verlauf nehmen, der nicht wünschenswert wäre. Insgesamt möchte ich hervorheben, dass gegenwärtig in der DDR tiefe und bedeutende Veränderungen vor sich gehen. Wenn aber in der BRD Erklärungen laut werden, die auf ein Anheizen der Emotionen im Geiste der Unversöhnlichkeit gegenüber den Nachkriegsrealitäten, d.h. der Existenz zweier deutscher Staaten, abzielen, dann können solche Erscheinungen des politischen Extremismus nicht anders eingeschätzt werden denn als Versuche, die sich jetzt in der DDR dynamisch entwickelnden Prozesse der Demokratisierung und Erneuerung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu untergraben. Mit Blick auf die Zukunft kann dies eine Destabilisierung der Lage nicht nur im Zentrum Europas, sondern auch darüber hinaus nach sich ziehen.«
Gorbatschow wies also großdeutsche Ambitionen der BRD zurück. Er sah in ihnen die Gefahr, dass nicht nur Europa, sondern die ganze Welt in ein Abenteuer gestürzt werden konnte. Das Politbüro beauftragte Alexander Schalck, Bonn über die von der DDR getroffenen Maßnahmen zur Verwirklichung der Reiseverordnung des Ministerrates zu informieren. Er sollte mit dem Bundeskanzleramt über ein baldiges Gespräch zwischen Kohl und mir reden. Außerdem wurde er bevollmächtigt, mit der Bundesregierung und dem Senat von Berlin (West) über die Öffnung neuer Grenzübergangsstellen zu verhandeln.
Innerhalb kurzer Zeit wurden 50 neue Grenzübergangsstellen geschaffen. Das kostete die DDR zwischen 700 und 800 Millionen Mark. Wir beschlossen, auch das Grenzregime an der gesamten Westgrenze zu verändern. Die Sperrzone wurde aufgehoben. Zu den schon bestehenden zwanzig Grenzübergangsstellen werden zusätzlich elf neue eingerichtet. Die Seegrenze wurde in ihrer gesamten Breite von zwölf Seemeilen für den Sportbootverkehr zugelassen.
Nach meiner Meinung waren die Grenztruppen der DDR überfordert, diese Aufgaben zusätzlich zu erfüllen. Ich vereinbarte daher mit Verteidigungsminister Keßler, dass sich Einheiten der Nationalen Volksarmee in Bereitschaft hielten, um bei Notwendigkeit die Grenztruppen zu unterstützen. In der Nationalen Volksarmee wurde aus diesem Grunde für einige Einheiten die »Erhöhte Gefechtsbereitschaft« befohlen. Parallel dazu gab es Absprachen mit der Westberliner Schutzpolizei. Auch der Oberkommandierende der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte traf mit den Alliierten Maßnahmen zur Sicherheit der Stadt.
Am Abend fanden in Berlin zwei Kundgebungen statt. Eine vorm Schöneberger Rathaus und eine im Berliner Lustgarten. Dort sprach ich vor 150.000 Menschen. Vom Lustgarten fuhr ich zu einem vereinbarten Gespräch mit Kotschemassow in die sowjetische Botschaft. Er empfing mich in seinen Privaträumen. Wir sprachen offen über die Ereignisse der letzten Nacht und über Irrungen und Wirrungen in Berlin und Moskau.
Ich bat ihn, Gorbatschow zu empfehlen, einen persönlichen Beauftragten nach Berlin zu schicken, mit dem ich alle notwendigen Fragen besprechen könnte, die sich aus der Grenzöffnung ergeben haben, vor allem die deutschlandpolitischen und internationalen Konsequenzen. Als wir uns verabschiedeten, erinnerte mich der Botschafter an einen Tatbestand, den er nun schon zum zweiten Mal erklärte: »Beachten Sie, Genosse Krenz, dass nicht alle Genossen des Politbüros, denen Sie vertrauen, auch Ihnen vertrauen. Ich versuche, einige Hitzköpfe zu beruhigen. Bedenken Sie aber bitte auch, dass ich zwar der sowjetische Botschafter bin, es gibt aber noch andere sowjetische Institutionen in der DDR, über die ich nicht Bescheid weiß.«
Ich nahm die Information zur Kenntnis, ohne mir darüber Gedanken zu machen. Ich war seit 30 Jahren in der Politik aktiv und wusste, dass es Intriganten gab. Das war keine Besonderheit der DDR. Beunruhigt war ich aber über den Hinweis, es gebe sowjetische Institutionen in der DDR, über die der Botschafter nicht Bescheid wisse. Als Gorbatschows Vertraute Medwedew und Jakowlew 1987 und 1988 durch verschiedene Bezirke der DDR reisten, glaubte Honecker ohnehin, sie suchten Leute aus, mit denen sie ihre Perestroika in der DDR organisieren könnten.
Der Verdacht wurde verstärkt, als Genscher in einem persönlichen Gespräch mit Otto Reinhold wissen wollte, ob Medwedew sich in innere Angelegenheiten der DDR eingemischt habe. Zeitgleich löste ein vermeintlicher KGB-Mitarbeiter ein kleines politisches Erdbeben aus. Er hatte einem DDR-Bürger in Schwerin tendenziöse Fragen nach der Stimmung im Lande gestellt, dessen Antwort heimlich mitgeschnitten, dann aber das Band verloren. Die Abschrift gelangte auf Umwegen auf Honeckers Tisch. Der forderte die Ausweisung des Residenten des KGB. Dabei stellte sich heraus, dass der Betreffende weder von der Botschaft noch von der offiziellen KGB-Vertretung in Karlshorst kam. So mussten wir annehmen, dass eine nichtlegale sowjetische Vertretung in der DDR arbeitete.
"Die Grenze ist offen, aber nicht verschwunden"
An jenem 10. November war ich jedoch vor allem auf die internationalen Reaktionen der Grenzöffnung gespannt. Genadij Gerassimow, Pressesprecher des sowjetischen Außenministeriums, erklärte, dass die Grenzöffnung eine »souveräne Entscheidung der DDR war, die von Partei- und Staatschef Krenz ausgegangen ist«. Er erinnerte an meine Äußerung, die Grenze sei zwar offen, aber nicht verschwunden. Für Mitterrand war die Grenzöffnung ein »freudiges Ereignis«. Er bestätigte seine Absicht, »bald die DDR zu besuchen und mit Krenz zusammenzutreffen«.
US-Präsident Bush begrüßt die neue Reiseregelung. »Wenn die DDR das verwirklicht«, meinte er, »dann wird die 1961 gebaute Mauer von geringerer Bedeutung sein.« Auch er sprach nicht von einem »Fall der Mauer«. Bush schrieb mir: »Verehrter Herr Vorsitzender Krenz! Sie haben Ihre Pflichten als Vorsitzender des Staatsrates zu einer Zeit übernommen, die äußerst bedeutsam für Ihr eigenes Land, für Europa und für den künftigen Gang der Ost-West-Beziehungen ist. Die Vereinigten Staaten begrüßen Ihre Entscheidung, die Grenzen der DDR für ständig denen zu öffnen, die das Land in Richtung Westen verlassen oder lediglich dorthin reisen möchten. Diese Entscheidung wie auch die Bewegung in Richtung demokratischer Reformen wird zum historischen Prozess, der niemanden bedroht, sondern vielmehr die Sicherheit aller erhöht.«
Selbst Kohl sprach nicht vom »Fall der Mauer«, als er mich anrief. Er war vernehmlich in Hochstimmung und sprach in Schlangensätzen. Kaum einen vollendete er richtig. »Ich habe den dringenden Wunsch, dass ich in einer sehr nahen Zukunft mit Ihnen zusammentreffe… Wobei ich Ihnen gleich sage, ich komme auf keinen Fall nach Ostberlin.«
Er wolle mit mir intensiv reden, was die »Diplomaten eine ›Tour d’horizon‹ nennen«. Er schlug vor, dass Bundeskanzleramtsminister Seiters nach Berlin käme, um unser Treffen vorzubereiten. Bevor ich mich auf ein Termingespräch einließ, sagte ich: »Ich wäre sehr dafür, Herr Bundeskanzler, wenn wir vor allem bestimmte Emotionen ausräumen bei Leuten, die nun am liebsten alles über Nacht beseitigen möchten. Die Grenze durchlässiger zu machen bedeutet ja noch lange nicht, die Grenze abzubauen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie in dieser Beziehung beruhigend einwirken könnten.«
Ich dachte dabei auch an die neuen Ausschreitungen am Brandenburger Tor. Einige Leute gingen von der Westseite mit Vorschlaghammer und Meißel gegen die Mauer vor. Kohl reagierte auf meinen Hinweis etwas verlegen: »Na ja, ich hab ja, ich habe immer wieder darauf hingewiesen, … dass jede Form von Radikalisierung gefährlich ist.« Er erläuterte seinen Standpunkt: »Wir werden uns nicht zu unterhalten brauchen, was für Gefahren das sein könnten. Das kann sich jeder leicht ausrechnen.« Er schlug vor: »Und wenn noch irgendwas ist, Herr Krenz, um das klar zu sagen, das ist ja eine Situation, die leicht dramatisch werden könnte, dann greifen Sie zum Telefon, und ich tue es auch.«
Am Montag, dem 13. November, war der Bundespräsident am Grenzübergang am Potsdamer Platz. Man legte mir nahe, Richard von Weizsäcker offiziell zu begrüßen. Ich lehnte es ab. Nicht nur, weil er nach unserer Rechtsauffassung als Bundespräsident in Westberlin keine offiziellen Amtshandlungen ausführen durfte. Ich wollte in diesen Tagen keine demonstrativen Handlungen in Richtung Westen unternehmen, was von den sowjetischen Verbündeten als deutsch-deutscher Alleingang hätte gewertet werden können.
Streitfall Öffnung des Brandenburger Tors
Am 14. November schlug ich auf Grund des Drucks dem Politbüro vor, »die Möglichkeit der Öffnung des Brandenburger Tores für Fußgänger mit der sowjetischen Seite zu konsultieren«. Obwohl dies bei weitem kein Plan zur Öffnung ist, musste jemand dies der Presse gesteckt haben, was wir mit der sowjetischen Seite besprechen wollten. Die Agenturen meldeten, das Tor werde geöffnet. Als diese Meldung über den Fernschreiber ging, war ich in einer Sitzung des Sekretariats des ZK. Aufgeregt kam eine Mitarbeiterin in den Sitzungssaal und sagte: »Du wirst dringend aus Bonn verlangt.« Aus Bonn? »Das kann möglicherweise der Bundeskanzler sein«, sagte ich den anderen Mitgliedern des Sekretariats als Entschuldigung für das Verlassen der Sitzung.
Ich ging in mein Arbeitszimmer und nahm den Hörer ab. »Ja, hier Krenz.« Es war nicht Kohl, sondern Schalck. »Ich spreche hier aus dem Bundeskanzleramt«, sagte er. So machte er mich darauf aufmerksam, dass er nicht allein im Raum war. »Soeben hat der Bundeskanzler die Meldung bekommen, dass das Brandenburger Tor geöffnet wird. Sollte diese Meldung zutreffen, werden nach Meinung des Bundeskanzlers die Verhandlungen zwischen der DDR und der BRD sofort abgebrochen.« Ich war erstaunt. »Wir stehen in Konsultation mit der sowjetischen Seite. Wenn Kohl die Öffnung nicht will – mir kann das nur recht sein. Ich brauche sie nicht. Bestelle dem Bundeskanzler, dass das Brandenburger Tor erst geöffnet wird, wenn sich beide Seiten einig sind.«
Mich wunderte längst nicht mehr, welchen Rang Bundeskanzler Kohl der Öffnung des Brandenburger Tores einräumte. Des Tores wegen aber wollte er die Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten platzen lassen? Das konnte ich mir nur schwer vorstellen. Ihm ging es ganz offensichtlich um Präsentation und Selbstdarstellung. Darüber sprach ich am Abend mit Schalck. Er berichtet mir von der Hektik, die in dieser Frage in der Umgebung Kohls herrschte. Die Verhandlungen mit der BRD gestalteten sich weiterhin sehr schwer und zäh. Bonn stellte immer neue Bedingungen. Selbst das, was wir auf der 10. Tagung des Zentralkomitees an tiefgreifenden Reformen angekündigt hatten, genügte Bonn nicht mehr. Jede neue Demonstration und jede kritische Äußerung gegen die Partei- und Staatsführung der DDR griff Kohl als Bestätigung für seine Politik auf. Er tat so, als würden die Demonstrationen in der DDR für ihn stattfinden.
Schalck berichtete mir, dass Seiters ihn für eine halbe Stunde in sein Arbeitszimmer gebeten hatte. Unter vier Augen habe der Minister gesagt, der Bundeskanzler sei bei der Agenturmeldung über die Öffnung des Brandenburger Tores außer sich gewesen. Es gehe nach Meinung des Kanzlers nicht an, dass andere Jubelfeiern veranstalteten, während die Bundesregierung arbeite und dafür Geld geben solle. Die DDR solle keine Verhandlungen mit Politikern aus der Bundesrepublik führen, die nicht kompetent sind. Der Bundeskanzler würde sich persönlich brüskiert fühlen, wenn die Öffnung des Brandenburger Tores ohne vorherige Kenntnis der Bundesregierung erfolgte. Sollten die Agenturmeldungen zutreffen, dann würden die laufenden Verhandlungen mit der DDR abgebrochen werden. Das nannte man eine politische Erpressung.
Nur, auch ich bin von der Öffnung des Tores nicht begeistert, allerdings aus anderen Gründen als Kohl. Er war am 9. November nicht vor Ort, weil er zum Besuch in Warschau war. Am 10. November war er vor dem Schöneberger Rathaus ausgepfiffen worden. Er wollte also, dass die Öffnung des Brandenburger Tores zu seiner Stunde wurde. Soll er seinen Willen haben, dachte ich. Ich würde allerdings gern wissen wollen: Welche »anderen«, die »Jubelfeiern« veranstalteten, meinte der Kanzler? Genscher, der am 16. November mit seinem britischen Amtskollegen in Westberlin weilte? Meinte er den Bundespräsidenten, der am Potsdamer Platz war und einen Besuch der DDR angekündigt hatte? Vielleicht auch den Regierenden Bürgermeister von Berlin (West)? Walter Momper hatte am Vortag auf einer Pressekonferenz gesagt, die DDR habe ein Patronat nicht nötig. Wen Kohl auch immer meinte: Er war es, der die Öffnung des Brandenburger Tores im November 1989 verhindert hatte. Die fand in seiner Anwesenheit erst kurz vor Weihnachten statt, als ich schon kein Amt mehr hatte.
Der 9. November war aus meiner Sicht weder der »Tag des Mauerfalls« noch des »Sturms auf die Mauer«. Das sind ideologisch geprägte Begriffe, die im Nachhinein entstanden und historisch nicht korrekt sind. Der 9. November 1989 war der Tag der Öffnung von Grenzübergängen von Ost nach West (nicht von West nach Ost!), und nicht nur in Berlin, sondern an der gesamten Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Am Abend des 9. Novembers gab es auf der Ostseite nicht einen »Mauerspecht« und niemanden, der sich mit Hacke oder Hammer an den Abriss der Mauer gemacht hätte. Diesbezügliche Bilder, die immer wieder im Fernsehen gezeigt werden, wurden entweder von der Westseite der Mauer oder erst viel später aufgenommen.
Am 17. November 1989 schrieb Theo Sommer, Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit: »Die Mauer steht noch, aber sie ist vielfältig durchlöchert.« So war es. Alles andere sind Begriffe, die nichts mit den Tatsachen des Tages zu tun haben. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Zeugenaussage von [dem SPD-Ostpolitiker] Egon Bahr: »Die Ironie der Geschichte wollte es«, sagte er, »dass die erste wirkliche souveräne Entscheidung in dieser Existenzfrage der DDR am 9. November 1989 erfolgte. Präsident Gorbatschow erfuhr davon erst am Morgen danach und konnte sie nur noch billigen.«
Zitierweise: "Schlagbäume hoch!“, Egon Krenz, in: Deutschland Archiv, 6.11.2019, Link: www.bpb.de/299905
Egon Krenz wurde am 17. Oktober 1989 Nachfolger von Erich Honecker als Generalsekretär des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in der DDR. Am 6. Dezember 1989 trat er von allen Funktionen zurück. Zuvor leitete er von 1974 bis 1983 die DDR-Jugendbewegung Freie Deutsche Jugend (FDJ). Seit 1973 war er ZK-Mitglied und ab 1983 Mitglied im Politbüro der SED.
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