Darüber, wer als Opfer des DDR-Grenzregimes gelten darf, gibt es seit vielen Jahren unterschiedliche Auffassungen. Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu den Toten an der Ost-Berliner Grenze (Hertle/Nooke, Sälter u. a.) bzw. der sächsischen Grenze (Gülzau) enthalten in ihren Einleitungen Definitionen der Kriterien, wer in die jeweiligen Untersuchungen als Todesopfer des DDR-Grenzregimes aufgenommen wurde. Dementsprechend enthält die Einleitung der Studie des Forschungsverbundes SED-Staat über die Todesopfer an der innerdeutschen Grenze einen detaillierten Kriterienkatalog für die darin berücksichtigten Todesfälle.
Auch die in der Öffentlichkeit verbreiteten Zahlen der Todesopfer des DDR-Grenzregimes unterscheiden sich zum Teil erheblich. Laut Akten der Berliner Staatsanwaltschaft, die auf Daten der Ende 2000 aufgelösten Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) beruhten, starben an der DDR-Westgrenze 128 und in Berlin 109 Menschen durch Gewaltakte von DDR-Grenzsicherungskräften, 33 Personen kamen laut ZERV an der innerdeutschen Grenze durch Erd- oder Splitterminen ums Leben. Für die Berliner Grenzen kommen die beiden Publikationen der Gedenkstätte Bernauer Straße für die Zeit von 1948 bis 1989 auf 179 Todesopfer des Grenzregimes. Die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ zählt in ihrer jährlich aktualisierten Liste 842 Todesopfer an der innerdeutschen und 559 an der Berliner Grenze. Auf verschiedenen Internetseiten zum DDR-Grenzregime sind weitere abweichende Zahlenangaben enthalten.
Aber auch in Berlin kursieren unterschiedliche Zahlen über die dort erfassten Mauertoten. So sprach Staatsministerin Grütters in Ihrer Rede vom April 2019, die Michael Kubina zitiert, von „138 Toten an der Berliner Mauer“. Die Berliner CDU, deren Vorstand Frau Grütters angehört, veröffentlichte in der Septemberausgabe 2019 ihrer „Berliner Rundschau“ unter der Überschrift „Geschichte als Verpflichtung“ einen Beitrag, in dem es heißt „mindestens 139 Menschen“ seien „bis zum Falle der Berliner Mauer am 9. November 1989 bei dem Versuch, diese zu überwinden, ermordet“ worden. Und die von der Staatsministerin für Kultur und Medien geförderte Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße weist in ihrer Ausstellung und in ihren Publikationen für den gleichen Zeitraum auf „mindestens 140 Menschen“ hin, „die zwischen 1961 und 1989 an der Berliner Mauer getötet“ worden sind oder „im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime ums Leben“ kamen, wobei in dieser Zahl Flüchtlinge, aus Versehen erschossene Menschen wie auch ums Leben gekommene Grenzsoldaten enthalten sind.
Während Gerhard Sälter, Johanna Dietrich und Fabian Kuhn in ihrer diese Zahlen ergänzenden Studie „Die vergessenen Toten. Todesopfer des DDR-Grenzregimes in Berlin von der Teilung bis zum Mauerbau (1948–1961)“ als Ausgangspunkt der Untersuchung das Jahr 1948 bestimmten, das war der Zeitpunkt als SBZ-Institutionen weitgehend die Verantwortung für das Berliner Grenzregime übernahmen, war die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 für das Team des Forschungsverbundes SED-Staat der Ausgangspunkt des Untersuchungszeitraums. Dies wurde schon in den ersten Konzeptionen des Forschungsverbundes den Mittelgebern erläutert und auch so von ihnen akzeptiert. Auch Michael Kubina, der anfangs etwa drei Monate in dem Forschungsprojekt mitgearbeitet hat, erhob damals keine Einwände dagegen.
Das DDR-Grenzregime
Denn unbestritten ist: bereits vor der Gründung der beiden deutschen Staaten stellte die sowjetische Militäradministration in der SBZ eine deutsche Grenzpolizei auf, in der über 10.000 Männer ihren Dienst verrichteten. Nach der Staatsgründung verdichtete die DDR die Sicherung der Grenze, indem sie die Personalstärke der Grenzpolizei stetig erhöhte.
Im Jahr 1952 errichtete der SED-Staat ein fünf Kilometer breites Sperrgebiet mit einem 500 Meter tiefen Schutz- streifen. Mehr als 8.000 Bürger wurden 1952 im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“ als „politisch Unzuverlässige“ gezwungen, ihre Häuser und Höfe im Grenzgebiet zu verlassen.
Außerdem wurde mit dem Aufbau eines ca. 1,5 Meter hohen Stacheldrahtzaunes an der innerdeutschen Grenze begonnen. Nach DDR-Statistiken flohen 1952 insgesamt 185.778 Menschen über die innerdeutsche Grenze in den Westen. Während im bürokratischen Sprachgebrauch des Regimes bis dahin von „illegalen Verzügen nach Westdeutschland“ die Rede war, spricht die Statistik für das III. Quartal 1952 von „republikflüchtigen Personen“.
Besonders beunruhigend für das SED-Regime war die hohe Zahl der 1952 geflüchteten Arbeiter, deren Anteil bei 36,5 Prozent der Flüchtlinge lag. Kubinas Behauptung, erst nach 1961 sei es an der innerdeutschen Grenze hauptsächlich um die Verhinderung von „Republikfluchten“ gegangen, ist unzutreffend. Nur ein Beispiel, das in unserer Studie auf S.39 ausführlicher beschrieben ist: Am 17. März 1950 wurde die 21-jährige Irmgard Stark, die in den Westen flüchten wollte, in der Nähe von Dorndorf (Krayenberggemeinde) von DDR-Grenzpolizisten durch einen Schuss in den Rücken getötet, „entgegen der Instruktion , ohne einen Warnschuss abzugeben“, wie es ein Bericht der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei festhielt. Darf sie nun nicht mehr als Opfer des DDR-Grenzregimes gelten?
Das gleiche betrifft den 10jährigen Harry Krause, der am 31. Januar 1951 beim Schlittschuhlaufen auf dem Goldensee bei Groß-Thurow erschossen wurde, weil ein DDR-Grenzer ihn offenbar für einen illegalen Grenzgänger hielt (beschrieben auf s. 61). Ohne das DDR-Grenzregime hätte es diese Toten nicht gegeben.
Das biografische Handbuch des Forschungsverbundes SED-Staat enthält auch die Schicksale von vier Personen, die sich aus Furcht vor der Aussiedlung im Rahmen der „Aktion Ungeziefer“, also im Zusammenhang der Durchsetzung des DDR-Grenzregimes 1952 das Leben nahmen. Auch sie gehören zu der Opfergruppe, die nun als „fragwürdig“ kategorisiert werden. „Fragwürdig“ wäre demnach auch die Aufnahme von Erich Sperschneider in das biografische Handbuch (S. 64-66). Er holte am 24. Februar 1951 auf Bitte seines Bruders bei den Großeltern „drüben“ Apfelsinen für dessen kranke einjährige Tochter. Er kehrte nicht mehr zurück. DDR-Grenzpolizisten hatten ohne Vorwarnung auf ihn geschossen. Erich Sperrschneider erlag am 25. Februar 1951 im Krankenhaus seinen Verletzungen. Sowohl Grenzgänger wie auch Flüchtlinge wurden in den frühen 50er Jahren zu Opfern des DDR-Grenzregimes. Vergleichbare Todesfälle behandeln Sälter, Dietrich und Kuhn für die Berliner Zonengrenze in ihrer oben erwähnten Untersuchung über „Todesopfer des DDR-Grenzregimes in Berlin von der Teilung bis zum Mauerbau (1948–1961). Insofern trifft Kubinas Argument nicht zu, aus den „unterschiedlichen Untersuchungszeiträumen“ sei die „Vergleichbarkeit der Fälle“ nicht gegeben. Im Übrigen kam es an den Grenzen in Berlin wie auch an der innerdeutschen Grenze sowohl vor wie auch nach dem Mauerbau zu zahlreichen Todesopfern, die versehentlich erschossen wurden oder auf Minen liefen und keinerlei Fluchtabsichten hegten.
Michael Kubinas Beitrag legt aber nahe, der Waffengebrauch an der innerdeutschen Grenze sei in den fünfziger Jahren eine absolute Ausnahme gewesen, das ist aus meiner Sicht unzutreffend. DDR-Grenzpolizisten gaben im IV. Quartal 1951 nach der Statistik der Hauptverwaltung DDR-Grenzpolizei 2.134 Schüsse aus Karabinern ab, davon waren 1.693 Warnschüsse. Weiterhin wurden 282 Pistolenschüsse abgegeben, von denen 162 Warnschüsse waren. Angesichts dieser Zahlen ist es unverständlich, wenn Kubina schreibt, dass sich das DDR-Grenzregime „wirklich erst seit dem Mauerbau – fundamental, sowohl was die Methoden als auch was die Zielsetzung angeht, von den meisten anderen Grenzen in der damaligen Welt unterschied“.
Nach der bereits erwähnten Rede der Staatsministerin Grütters und einer recht einseitigen Berichterstattung einer Journalistin des Rundfunks Berlin-Brandenburg (rbb) über die von Frau Grütters initiierte Diskussionsveranstaltung schrieb der langjährige DLF-Redakteur Peter Joachim Lapp, Verfasser zahlreicher Publikationen über das DDR-Grenzregimes in einer E-Mail an die Herausgeber der Studie: „Die Angriffe gegen Ihre Studie seitens der RBB-Journalistin [...] bzw. des ARD-Mittagsmagazins sind m.E. völlig aus der Luft gegriffen und entbehren jeder logischen Grundlage. Denn Sie haben schon in der Gliederung Ihrer Studie klar zum Ausdruck gebracht, dass Sie zwischen den verschiedenen Grenzopfern deutlich unterscheiden. Alle Todesfälle, die Sie genannt haben, können zweifelsfrei als Grenz- bzw. Todesopfer des DDR-Grenzregimes gelten. Der ursächliche Zusammenhang der Todesfälle mit dem DDR-Grenzregime ist klar benannt worden und für diejenigen, die sich intensiv mit der Situation in der Grenzpolizei/Grenztruppe beschäftigten, nicht zu übersehen, auch wenn bei Selbsttötungen immer auch sehr private Dinge eine gewisse Rolle spielen.“
"Die MfS-Perspektive ist diffamierend"
Das Autorenteam des biografischen Handbuchs hat die oft vom MfS in seinen Akten herabsetzend und diffamierend formulierten Charakteristiken von Getöteten mit größter Zurückhaltung behandelt und quellenkritisch geprüft. Für die Verfasser der MfS-Berichte waren quasi alle Opfer des DDR-Grenzregimes kriminelle und asoziale Gesetzesbrecher, mit Ausnahme der Grenzsoldaten, die von Fahnenflüchtigen oder von westlicher Seite getötet worden waren. Leider übernahmen sowohl der rbb in seinem gegen das biografische Handbuch des Forschungsverbundes SED-Staat gerichteten Beitrag wie auch Michel Kubina in seinem Beitrag für das DA die MfS-Darstellung, ohne die in den Überlieferungen enthaltenen diesen monokausalen Konstruktionen widersprechenden Passagen auch nur zu erwähnen. Und leider werden dadurch die grobschlächtigen Insinuationen der Stasi nun als angebliche gesicherte Erkenntnisse öffentlich verbreitet.
Genau das – eine erneute Herabwürdigung der Todesopfer – wollten die Autorinnen und Autoren des biografischen Handbuchs durch einen rücksichtsvollen Umgang mit den personenbezogenen Regimeüberlieferungen des MfS, der SED, der Volkspolizei und der DDR-Grenztruppen vermeiden. Es ist bedauerlich, dass dies in Michael Kubinas Beitrag in einer Weise geschehen ist, die den Selbstrechtfertigungen ehemaliger Systemträger des SED-Regimes in die Hände spielt. Nach deren Auffassung starben an den Grenzen der DDR „Kriminelle“ und „Verbrecher“. Erich Honecker behauptete das noch am 18. Januar 1989, als er auf einer Sitzung des Thomas-Münzer-Komitees ausrief, die Mauer werde „noch in 50 oder 100 Jahren bestehen“, wenn die Gründe für ihre Errichtung nicht beseitigt seien. Das sei „schon erforderlich, um unsere Republik vor Räubern zu schützen, ganz zu schweigen von denen, die gern bereit sind, Stabilität und Frieden in Europa zu stören.“
Erhellend ist Kubinas Hinweis, „dass zur selben Zeit unter ähnlichen Bedingungen auch an der westdeutschen Außengrenze auf Schmuggler, die versuchten, sich einer Verhaftung zu entziehen, geschossen wurde und auch Todesopfer zu beklagen waren? Todesopfer des gleichzeitigen ‚BRD-Grenzregimes‘, deren niemand ‚ehrend‘ gedenkt.“ Der Vergleich der Ereignisse im Aachener Raum mit den Vorfällen an der DDR-Westgrenze zeigt freilich deutlich die Unterschiede beider Grenzen. Der gut organisierte Kaffeeschmuggel über die belgische bzw. holländische Grenze war ein Millionengeschäft. Etwa 1000 Tonnen Kaffee wurden in dieser Zeit illegal über die Grenze gebracht.
Im Örtchen Schmidt wurde die kriegszerstörte Pfarrkirche St. Hubertus mit Spenden der Kaffeeschmuggler wieder aufgebaut, sie trägt noch heute den Spitznamen St. Mokka. Wolfgang Trees hat das damalige Geschehen in seiner Untersuchung über den Kaffeeschmuggel beschrieben. Sein Buch dokumentiert auch die öffentliche Debatte in der Presse.
Im Unterschied zur DDR wurden das Schießen und die Toten an der Westgrenze öffentlich kritisiert und nicht etwa verheimlicht, wie dies bei zahlreichen Opfern des DDR-Grenzregimes geschah. Laut Trees kamen zwischen 1946 und 1952 insgesamt 31 Personen im Aachener Raum durch den Schusswaffengebrauch von Zöllnern ums Leben, zwei Zollbeamte wurden von Schmugglern erschossen. Von einem „BRD-Grenzregime“, wie Kubina polemisch meint, kann bis 1949 ohnehin nicht gesprochen werden. Die CDU-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen nahm die Schüsse an der Grenze zum Anlass, die Landesregierung aufzufordern, bei der britischen Militärregierung eine Änderung der Bestimmungen über den Waffengebrauch beim Zoll zu beantragen. Im Deutschen Bundestag verteidigte der Ritterkreuzträger Erich Mende (FDP) das Vorgehen der Zollbeamten:
„Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir scheint, daß man mit Zurufen wie ‚Kopfjäger‘ oder mit einem Satz, den der sehr verehrte Kollege Jacobs gebraucht hat, von der ‚Mißachtung des zivilen Wesens durch die Uniform‘, die er bereits wieder beobachten könne, das Problem bei weitem überspitzt. Vielleicht sind die Richtlinien für den Waffengebrauch und für die Abwehr lückenhaft, wie das ja aus der Ausschussdrucksache Nr. 3914 hervorgeht. Ich möchte jedoch nicht, daß man die Schuld auf jene Tausende von Zollbeamten abwälzt, die für uns alle in mühseliger Tag- und Nachtarbeit auf sehr gefährlichem Posten stehen. Ich meine, wenn man sich der Gefahr entziehen will, dann soll man nicht schmuggeln.“
Eine Debatte über das DDR-Grenzregime gab es in der DDR-Volkammer oder einem der damals noch existierenden Landtage nicht. Nach der Senkung der Kaffeesteuer im Juni 1953 ebbten der Schmuggel und die Zwischenfälle an der Westgrenze ab. Heute pflegen Mitglieder des CDU-Ortsverbandes Schmidt in ihrer Freizeit das „Schmuggler-Denkmal“ am Ortseingang.
Todesfälle im kausalen Zusammenhang
Zur Kritik Michael Kubinas an dieser Fallgruppe sei auf einen exemplarischen Fall eingegangen, den Tod des Volkspolizisten Gerhard Gergaut. Hier sei „ein kausaler Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime beim besten Willen nicht zu erkennen“ meint Kubina. Der Tod von Gerhard Gergaut ist freilich durchaus vergleichbar mit Fällen aus der Berliner Untersuchung von Hertle und Nooke, die Kubina zum Maßstab erklärt. Um in die Bundesrepublik zu flüchten, wollte Helmut C. ein Flugzeug entführen. Er überfiel in Leipzig vor einem Ausbildungsgelände der NVA einen Wachposten und entriss ihm die Maschinenpistole. Dann versuchte er zum Flughafen Schkeuditz zu gelangen. Als sich ein Streifenwagen der Volkspolizei näherte, eröffnete Helmut C. das Feuer und tötete den Volkspolizisten Gergaut.
Das Handbuch über „Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989“ enthält die Biografie von Rolf Henniger, der am 15. November 1968 im Schlosspark Babelsberg von einem Volkspolizisten, der sich dort auf dem Fluchtweg nach West-Berlin versteckt hatte, ohne Vorwarnung erschossen wurde, als er sich ihm mit dem Fahrzeug näherte. Hennigers Beifahrer schoss zurück und tötete den flüchtigen Volkspolizisten Horst Körner. Auch auf Gerhard Gergaut wurde ohne Vorwarnung von einem Fluchtwilligen geschossen, zwar außerhalb des Grenzgebiets, aber im kausalen Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime, das ein normales Verlassen des Landes unterband.
Außerhalb des Grenzgebiets ereignete sich auch der Suizid der Flugzeugentführer Christel und Eckhard Wehhage, deren Biografien von Hertle und Nooke in das Berliner Handbuch als „Todesopfer an der Berliner Mauer“ aufgenommen wurden, oder die ebenfalls darin enthaltene Selbsttötung von Wolfgang Hoffmann, der aus West-Berlin kommend nach seiner Festnahme an der Grenze aus dem Fenster eines Polizeireviers in den Tod sprang. Das Ehepaar Wehhage versuchte ein Flugzeug auf dem Weg von Ost-Berlin nach Leipzig mit Waffengewalt zu entführen, um eine Landung in der Bundesrepublik zu erzwingen. Eckhard Wehhage feuerte auf das Türschloss, um in das Cockpit einzudringen. Als das misslang und der Pilot umkehrte und in Schönefeld landete, töteten sich die beiden Entführer im Flugzeug. Zu Recht haben Hertle und Nooke diese Todesfälle zu den Opfern der Berliner Mauer gezählt, auch wenn sie sich nicht an der Mauer zugetragen haben. Genau so hat das Team des Forschungsverbundes SED-Staat den Todesfall von Gerhard Gergaut behandelt.
Fallgruppe Suizide in den Grenztruppen
Michael Kubina urteilt in seinem Debattenbeitrag über Bodo Panke „nach Aktenlage“, private Probleme seien „primär für den Suizid verantwortlich (Kurzschluss nach Erniedrigung durch Ehefrau)“. Dem Abschiedsbrief Bodo Pankes ist nichts dergleichen zu entnehmen, von einer „Erniedrigung“ ist darin keine Rede. Der Brief ist am Ende mit einem Liebesherzen versehen. Die Überlieferungen zum Suizid von Bodo Panke enthalten auch die Aussagen einer nächsten Verwandten, Bodo Panke habe Angst gehabt, wegen des Kontakts zu den kanadischen Besuchern bestraft zu werden. Er habe gesagt, er könne dafür bis zu sieben Jahre Gefängnis erhalten.
Deswegen sollten seine Vorgesetzten und auch sein Vater nichts davon erfahren. „Er hatte ohnehin Angst, daß seine Vorgesetzten oder sein Vater von dem Kontakt zu den Kanadiern erfahren.“ Michael Kubina müsste diese Aussage eigentlich „nach Aktenlage“ kennen. Er ignoriert sie ebenso wie die Charakterisierung Bodo Pankes durch die gleiche Verwandte: „Bodo war sehr empfindsam und nahm sich alles sehr zu Herzen. Eine Ungerechtigkeit oder verweigerte Zuneigung trafen ihn empfindlich. Bodo war gutmütig und hilfsbereit. Bodo hatte wenig Durchsetzungsvermögen.“ Ein Kamerad aus der Offiziersschule charakterisierte Bodo Panke als „überbetont feinfühlig“, sein Vater beschrieb ihn als „sensibel“. Kubinas Polemik, dass Bodo Panke „sich aus Kummer darüber erhängte, dass er die nächsten 10 Jahre keine Chance haben würde, Menschen an der Flucht zu hindern, nicht zuletzt dadurch, dass er auf sie schießen würde“, ist unangemessen und vorurteilsbeladen. Neben privaten gab es dienstliche Probleme, die dazu führten, dass sich Bodo Panke in einer ausweglosen Lage glaubte. Für die Behauptung, dass er auf Flüchtlinge „schießen würde“ gibt es übrigens „nach Aktenlage“ keinen Beleg.
Kubinas Behauptung, Frank Bretfeld sei von 203 durch das Team des Forschungsverbundes festgestellten Suizidfällen in den Grenztruppen, der „einzige akzeptable Suizid-Opferfall“ im biografischen Handbuch, ist in Hinblick auf weitere dort beschriebene Suizide im Grenztruppendienst nicht nachvollziehbar. Aus meiner Sicht übertrifft hier Kubina an Urteilsschärfe sogar das MfS. So wurde der Suizid des 19-jährigen Rekruten Henry Falk laut MfS-Untersuchung u.a. durch seine „ablehnende Haltung zum Wehrdienst“ ausgelöst. Ein 2019 beim BStU aufgefundenes weiteres Stasidokument enthält die Angabe, „Ursache: Ablehnung des Wehrdienstes und damit verbundener persönlicher Einschränkungen; persönliche Enttäuschung über Trennung seiner Freundin von ihm; Differenzen im Elternhaus“. Da das MfS stets bemüht war, die Suizide in den „bewaffneten Organen“ auf private Gründe und psychische Dispositionen zurückzuführen ist die an erster Stelle erfolgte Erwähnung der „Ablehnung des Wehrdienstes“ als Ursache des Suizids ein eindeutiger Hinweis auf den dienstlichen Zusammenhang.
Warum der Suizid des Offiziersschülers Frank Lott kein ‚akzeptabler‘ Opferfäll sein sollte, bleibt ebenfalls unergründlich. Der 21-Jährige bemühte sich seit April 1982 um eine Entlassung aus der Offiziersschule, am 14. Mai 1982 schrieb er ein formelles Entpflichtungsgesuch dessen erster Satz lautete: „Als ich mich vergangenen Jahres zu dem Beruf eines Grenzoffiziers entschloß, hatte ich noch keine Vorstellungen über dessen Tätigkeitsbereich.“
Dem Entpflichtungsgesuch wurde nicht stattgegeben, seine Vorgesetzten und SED-Parteibeauftragte bearbeiteten den jungen Mann, um ihn zur Zurücknahme seines Entlassungsantrages zu bewegen. Am 23. Juni 1983 tötet er sich während des Wachdienstes auf dem Gelände der Offiziersschule mit seiner Maschinenpistole. Zuvor hatte er, wie das MfS festhielt, mehrfach gegenüber einem Kameraden geäußert, „er würde sich eher erschießen, als Offizier der GT zu werden“. Die Schlussfolgerung der MfS-Ermittler lautete: „Die Untersuchungen zum Suizidmotiv des OS LOTT ergaben, daß dieser - entgegen seinem ursprünglichen Entschluß und gegen den Willen seiner Eltern - nicht mehr Offizier der Grenztruppen werden wollte“.
Nach Kubinas Urteil liefern die Angaben des MfS und der Militärstaatsanwaltschaft, dass Frank Lott den Freitod wählte, weil er „nicht mehr Offizier der Grenztruppen werden wollte“ keine „akzeptable“ Begründung dafür, in Frank Lott ein Opfer des DDR-Grenzregimes zu erkennen.
Das gleiche gilt für den Suizid des Soldaten Andreas Kaiser, der sich am 28. Juni 1973, sieben Wochen nachdem er zu den Grenztruppen eingezogen wurde, eine tödliche Schussverletzung beibrachte. Der Stabschef des Grenzausbildungsregiments behauptete in seinem Untersuchungsbericht, das Motiv Kaisers liege in seinen persönlichen und familiären Verhältnissen. Die Mutter des Soldaten sei Anfang des Monats verstorben. Die Erinnerung seiner Schwester Petra wirft im Unterschied zu den Meldungen der Grenztruppen ein ganz anderes Licht auf den Suizid von Andreas Kaiser: „Mein Bruder Andreas Kaiser hatte gerade seine Lehre beendet, war frisch verliebt, hatte lange Haare auf die er so stolz war. Da kam die Einberufung und die Haare mussten ab. Für ihn war das so, als ob man ihn die Menschenwürde genommen hat. Er erzählte mir, dass er sich nur im Dunkeln auf die Straße traut und an den Häusern entlang schlich.“ Er sei „durch den Tod unserer Mutter und der Tatsache in der NVA Dienst tun zu müssen psychisch am Ende“ gewesen.
In seinem Abschiedsbrief schrieb Andreas Kaiser: „Bei der Scheiß-Fahne kotzt es mich immer mehr an.“ Er fühle sich „nicht mehr wie ein Mensch. Nur noch ein befehlsempfangendes Arbeitstier. Von klein auf mußte ich mir solche Töne gefallen lassen. Jetzt wehrt sich mein ganzes Innere, ob ich will, oder nicht. Solche unvernünftigen Befehle und Anweisungen, die man hier bekommt, bringen mich zum Rande der Raserei. Ich bin Soldat und muß mir die größte Mühe geben unseren Herren Unteroffiziere recht gut zu gefallen. Ich habe von allen die Schnauze restlos voll. Ich finde alles sinnlos.“
Keine eindimensionale Perspektive
Das DDR-Grenzregime und seine Opfer ist nicht eindimensional im Sinne einer schwarz-weiß Perspektive historisch zu beschreiben. Die Vorstellung, es habe an der DDR-Westgrenze nur eindeutig zur bestimmende Täter und Opfer gegeben, wie die Kritiker des biografischen Handbuchs es darstellen, ist illusionär und realitätsfern. Für die politische Bildung ist es wichtig, die sehr unterschiedlichen Vorfälle so zu beschreiben, wie sie sich zugetragen haben, soweit das die jeweils vorliegenden Dokumente und Zeugenaussagen belegen. Abgeschlossen ist die Forschung auf diesem Feld mit Gewissheit nicht, zumal sich bis heute immer wieder, ergänzende Dokumente zu bereits bekannten, aber auch bislang unbekannten Todes-Fällen finden, die im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime stehen.
Neben den Flüchtlingen, die den gefahrvollen Weg in ein selbstbestimmtes Leben wählten, starben auch Menschen und Grenzsoldaten, die andere Motive hatten oder gar keine Flucht beabsichtigten, darunter auch mehrere Bundesbürger. Es gab auch Vorfälle in Berlin und an der innerdeutschen Grenze, bei denen Flüchtende oder Fahnenflüchtlinge Grenzsoldaten erschossen haben. All das ist in den vorliegenden biografischen Handbüchern differenziert beschrieben, so auch in unserem Handbuch, um nachvollziehbar darzustellen, welch tragische Folgen das DDR-Grenzregime für Menschen verschiedenster Herkunft und gesellschaftlicher Stellung hatte.
Für die politische Bildung wäre es wenig sinnvoll, wenn nur „Heldengeschichten“ von freiheitshungrigen Flüchtlingen und andererseits schießwütigen Grenzsoldaten erzählt würden. Geschichtsrevisionisten und die ewig gestrigen Verfechter des angeblich legitimen DDR-Grenzregimes könnten sich freuen, denn das wäre unzutreffend und leicht zu widerlegen.
Zitierweise: "Nicht nur Heldengeschichten beschreiben“, Jochen Staadt, in: Deutschland Archiv, 12.11.2019, Link: www.bpb.de/299735.
Ergänzend zum Thema:
- Die dieser Stellungnahme vorangegangenen Texte im Interner Link: Deutschland Archiv der bpb
- bpb-Film: Stasi-Videos und Fotos von Mauer und innerdeutscher Grenze
- In der Hand des MfS: Interner Link: Der Dienst an der Grenze. Von Peter Joachim Lapp.
- Die Externer Link: Chronik der Mauer - eine multimediale Übersicht
- Externer Link: 30 Jahre Mauerfall. Ein bpb-Dossier
- Interner Link: Nachts vor Ort beim Mauerbau? Ein Fotoalbum Erich Mielkes. Aus dem DA vom 19.7.2011.
- Die Maueröffner. Interner Link: Ein Dokumentarfilm aus dem Grenzübergang Bornholmer Straße am Abend des 9. November 1989.