Die Maueröffner
Das Zeitdokument einer historischen Nacht - Der 9. November 1989 in der Bornholmer Straße. Ein Video
Georg Mascolo mit Videoaufnahmen von Rainer März
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Am späten Abend des 9. November 1989 schrieben Ost-Berliner Bürger und Bürgerinnen Weltgeschichte. Sie setzten die "unverzügliche" Öffnung der Mauer durch - und infolge die der gesamten innerdeutschen Grenze. Augenzeuge wurde damals ein Fernsehteam. Es hielt um 23.20 Uhr den historischen Durchbruch fest, der in Ost und West überraschte. Die Aufnahmen zeigen auch, wie emotional die Menschen reagierten - in der Bornholmer Straße und wenig später unter dem Brandenburger Tor. Inzwischen steht das - nachfolgend unkommentiert gezeigte - Drehmaterial sogar unter Denkmalschutz:
Der 9. November 1989: Die Maueröffner
Ost-Berlin, Bornholmer Straße und Brandenburger Tor, 23 Uhr
Unkommentiertes Drehmaterial von SPIEGEL-TV aus der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, gefilmt im Grenzübergang Bornholmer Straße ab 23 Uhr und am Brandenburger Tor.
Die Friedliche Revolution in der DDR erreichte damals eine neue Mut-Stufe. Es schlug die Stunde vieler ganz normaler Bürgerund Bürgerinnen, die bis dahin eher passiv, ja angepasst waren und abgewartet hatten. Plötzlich zeigten auch sie keine Angst mehr vor der Mauer und dem Grenzregime, dem anfangs immer noch zugetraut wurde, gegebenenfalls Waffen bei Grenzdurchbrüchen einzusetzen.
Im Blick zurück beschrieb 2004 der damalige Spiegel-TV-Redakteur Georg Mascolo, wie diese Aufnahmen im Ost-Berliner Grenzübergang Bornholmer Straße zustande kamen, der ab 23.20 Uhr "geflutet" wurde, seine Textfassung wurde geringfügig ergänzt:
"...Ich kann mich noch gut erinnern, weil zuvor Frust und Enttäuschung so tief saßen. Der 9. November 1989 war ein Donnerstag, bis zu unserer nächsten Sendung also noch drei Tage. "Was sollen wir da noch zeigen, was nicht alle anderen in diesen bewegten, historischen Tagen schon rund um die Uhr ausgestrahlt haben", fragte ich mich. "Das will doch dann keiner mehr sehen."
Kameramann Rainer März und sein damaliger Assistent, Germar Biester, mit denen ich während der Wendezeit in der DDR arbeiten durfte, hatten mehr Gespür: "Das, was wir in der Bornholmer Straße erlebt haben, ist etwas ganz Besonderes", behauptete Rainer März hartnäckig. Erst als ich am Abend, zurück von einem weiteren Drehtag, im Hotel durch die verschiedenen Sondersendungen zappte und nur Bilder der Trabischlangen und johlenden Menschen sah, begann ich zu hoffen: Vielleicht hatten wir an diesem Abend wirklich besonderes Glück gehabt.
Und tatsächlich: Die Bilder von der Bornholmer Straße sind bis heute so einzigartig, weil sie eine Geschichte erzählen. Wer sie anschaut, kann noch immer die Dramatik dieser Nacht spüren und ahnt die Gefühle der Ost-Berliner und Berlinerinnen und die Unsicherheit des untergehenden Staatsapparates der DDR. Er erfährt, dass das Ende des tödlichen Bauwerks in dieser Nacht nicht das Ergebnis eines wohl durchdachten Planes des Politbüros war, sondern von den Menschen in der DDR erstritten wurde.
"Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich"
Wären wir an unserer Hotelbar Unter den Linden im damaligen DDR-Grandhotel unweit des Brandenburger Tors sitzen geblieben, würde es die Aufnahmen nicht geben. Politbüro-Sprecher Günter Schabowski hatte ein paar Stunden zuvor auf der weltberühmt gewordenen Pressekonferenz Reisefreiheit für die DDR-Bürger und Bürgerinnen verkündet - "unverzüglich".
Aber was genau er damit gemeint hatte und wer nun wirklich fahren durfte, darüber debattierten bei Radeberger vom Fass erfahrene Korrespondenten mit den angereisten Neulingen. Nach meinen Erinnerungen sagten an diesem Abend nicht einmal die wagemutigsten Analytiker den Fall der Mauer und das Ende der Teilung des Landes voraus. Nur unser Kameramann Rainer März ahnte: "Moment mal, hier ist gerade Weltgeschichte"
Die Ratlosigkeit war groß, und wir waren uns einig, dass eine Hotelbar der falsche Ort ist herauszufinden, was sich tut. In Berlin-Mitte wohnten damals die Funktionäre, Diplomaten, Beamten. "Geht dahin, wo die Menschen sind", hatte Spiegel-TV-Chef Stefan Aust beim Abschied in Hamburg geraten.
Wir fuhren also zum Prenzlauer Berg, damals eher ein Arbeiterbezirk und außerdem Hochburg von Literaten und einer eher staatsfernen Kultur-Szene. Hier reichten die Häuser direkt bis an den Grenzübergang Bornholmer Straße. Wenn, dann musste hier etwas passieren.
Immer mehr Menschen, die Trabis stauen sich
Auf den Straßen war es zunächst noch ruhig, und deshalb landeten wir erst einmal wieder in einem Lokal. An der Theke gab es kein anderes Thema als Schabowskis Erklärung. Allerdings waren auch die meisten DDR-Bürger und Bürgerinnen so ratlos wie viele West-Korrespondenten, was dessen Aussage denn nun bedeutete.
Aber das SED-Regime befand sich längst in der Defensive und die Menschen waren bereit auszuprobieren, wie weit die neuen Freiheiten reichten. Als die ersten entschieden, es in dieser Nacht herauszufinden, und an die Grenze marschierten, schlossen wir uns an.
Vor dem Übergang am westlichen Ende der Bornholmer Straße stauten sich bereits die Trabis, immer mehr Menschen zogen zur Mauer. Erst ließen die verunsicherten Grenzer und Passkontrolleure nur wenige durch, vornehmlich die, die einen Reisepass besaßen, sie erhielten einen Ausreisestempel in ihr Dokument und konnten gehen. Dann begannen am Schlagbaum des Überganges alle anderen Wartenden zu skandieren. "Tor auf! Tor auf!" und "Wir wollen rüber", hießen die Parolen, gefolgt von einem Versprechen: "Wir kommen zurück."
Auch andere Kamerateams erschienen, blieben jedoch nur einige Minuten und fuhren dann weiter. Wir wussten nicht, ob sich in diesen Minuten in der Stadt andernorts ähnlich dramatische Szenen abspielten, und entschieden zu bleiben. Das Spiegel-TV-Team stand schließlich direkt am Schlagbaum - und prompt winkte Ärger mit den Grenzern.
"Es ist nicht mehr zu halten"
Um die Szenerie zu filmen, hatten wir die Sperre überstiegen und standen - für jeden DDR-Grenzer eine Provokation - direkt auf dem Übergang. Einer verlangte die Pässe und drohte, uns in den Westen auszuweisen. Ich stritt noch mit ihm herum, da wurde direkt neben uns der Riegel der ersten Schranke gelöst, die Menschen drängten auf den Übergang. Das war das erste Loch in der Mauer.
Schlangestehen am Bahnhof Friedrichstraße am 10.11.89
Zahlreiche Ostberliner stehen am Morgen des 10.11.1989 Schlange rund um den S-Bahnhof Friedrichstraße, um nach Westberlin zu fahren.
Zahlreiche Ostberliner stehen am Morgen des 10.11.1989 Schlange rund um den S-Bahnhof Friedrichstraße, um nach Westberlin zu fahren.
Erst später wurden auch an anderen Berliner Grenzübergängen die Kontrollen eingestellt, im Lauf der Nacht auch an den blitzartig von Trabbikarawanen verstopften Übergängen an der innerdeutschen Grenze.
Ein Jahr später kehrte unser Team noch einmal zurück an die Bornholmer Straße und recherchierte mit Hilfe meines Kollegen Wolfgang Tietze die Ereignisse der Nacht. Einige der Grenzer bzw. MfS-Mitarbeiter der Passkontrolleinheit (PKE) der HA VI, fanden wir in damals eingesetzten "Rekultivierungskommandos" wieder. Nun mussten sie das Bauwerk, das sie 28 Jahre lang bewacht hatten, abreißen.
Erst in den Gesprächen mit ihnen erfuhren wir den anderen Teil der Geschichte der Nacht des 9. Novembers 1989. Einen Befehl, die Mauer zu öffnen, gab es nicht. Klare Anweisungen bekamen die Grenztruppen nicht, es herrschte nur Konfusion. Als die ersten Menschen ihre Ausreise verlangten, versuchte es das sterbende Regime noch einmal mit einem Trick: Wer drängte, wurde mit einem Stempelabdruck neben dem Passfoto in den Westen geschickt - die Rückkehr sollte ihm verwehrt werden.
Wir erfuhren auch, dass es am Abend des 9. Novembers der Kommandant der Grenztruppen in der Bornholmer Straße, Manfred Sens, und die beiden Kommandierenden der PKE, Edwin Görlitz und Harald Jäger waren, die nach längeren Diskussionen gegen ihre Vorschriften den Übergang öffnen ließen. Sie hatten die Aussichtslosigkeit erkannt und befürchtet, dass die Menschen sie einfach überrennen würden. Harald Jägers letzte Meldung an seine Stasi-Vorgesetzten hieß: "Es ist nicht mehr zu halten. Wir fluten jetzt."
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Spiegel-TV und den Autoren. Eine Erstveröffentlichung erfolgte auf Spiegel Online am 5.11.2004
Nachsatz: Die UNSECO erklärte 22 Jahre später drei Zeitdokumente aus jener Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 zum "Weltdokumentenerbe" . Erstens: Günter Schabowskis Merkzettel aus seiner Pressekonferenz vom frühen Abend des 9. November. Zweitens: Aufbewahrt im Deutschen Rundfunkarchiv der Mitschnitt von Schabowskis holprigen O-Ton-Sätzen, mit denen er an jenem Abend kurz nach 19 Uhr die neue DDR-Reiseregelung verkündete, aber die Sperrfrist für diese Nachricht vergaß - und somit den abendlichen Run auf die Mauer und deren Sturz auslöste. Und drittens: Jenes Videomaterial von Spiegel-TV aus der Bornholmer Straße und vom Brandenburger Tor, das diesen friedlichen "Mauer-Sturz" dokumentiert.
Die Aufnahmen dokumentieren einerseits, wie DDR-Bürgerinnen und Bürgern spontan ihre Angst vor der sonst bewaffneten Ordnungsmacht im und vor dem Grenzübergang ablegten und lautstark, aber höflich ihrer Forderung nach "unverzüglicher" Reisefreiheit Ausdruck verschafften: "Aufmachen! Aufmachen!" skandierten sie und betonten immer wieder: "Keine Gewalt!". Und andererseits führt das TV-Material die am Ende ratlos kapitulierenden aber weise handelnden Grenzer vor Augen, die sich seinerzeit auch Befehlen ihrer Vorgesetzten aus der DDR-Staatssicherheit widersetzten.
Zu den ersten "Maueröffnern" wurden somit beide Seiten. Aber den entscheidenden Druck haben in dieser Nacht Bürger und Bürgerinnen der DDR ausgeübt. Nach ihrem Triumph sangen einige: "So ein Tag, so wunderschön wie heute". Wie schnell sich aus diesem Handeln knappe elf Monate später auch das Ende der DDR ergeben sollte, war jedoch an diesem Abend noch nicht absehbar.
Unkommentiertes Drehmaterial von SPIEGEL-TV aus der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, gefilmt im Grenzübergang Bornholmer Straße ab 23 Uhr und am Brandenburger Tor.
Autor Georg Mascolo arbeitete ab 1988 für Spiegel-TV in Hamburg, 1992 wechselte er in die Printredaktion des Spiegel und wurde von 2008 bis 2013 Chefredakteur des Nachrichtenmagazins. Seit 2014 leitet er den neu geschaffenen "Rechercheverbund" des NDR, des WDR und der Süddeutschen Zeitung. Der Filmregisseur Rainer März arbeitete damals als Kameramann, sein Kameraassistent war Germar Biester, Mitrechercheur war Wolfgang Tietze.
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