Der Herbst 2019 steht im Zeichen des Herbstes von 1989. Durch den Fokus auf das Ende der DDR und die Wiedervereinigung wird meist überblendet, dass sich 2019 auch die Gründung der beiden deutschen Staaten und mithin die Festschreibung der Teilung zum 70. Mal jährt. Dabei eignet sich dieser historische Komplex um die „Doppelte Staatsgründung“ kaum für eine positive erinnerungs- und geschichtspolitische Aufladung. Die Bedeutung für die Deutschen und die internationale Politik steht hinter den Ereignissen der Jahre 1989/90 jedoch keineswegs zurück.
Im Folgenden sollen weniger die Hintergründe und Ursachen der Teilung im Detail betrachtet werden. Es gilt vielmehr, den Umgang und die öffentliche Rechtfertigung der Akteure in Ost und West für eine Politik zu veranschaulichen, die eine „Zwei-Staaten-Lösung“ billigte oder sogar förderte, jedoch rhetorisch den Erhalt der Deutschen Einheit nie in Frage stellen durfte. Sowohl die westdeutschen als auch die ostdeutschen Akteure beteuerten „in entschiedenem Einheitspathos“, Gesamtdeutschland nicht preisgeben zu wollen, schufen aber gleichzeitig gemeinsam mit den jeweiligen Alliierten zwei Staaten, die über 40 Jahre nebeneinander Bestand hatten.
Nachdem die Bundesrepublik bereits am 23. Mai 1949 aus der Taufe gehoben worden war, fand der Prozess mit der offiziellen Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949 zumindest formal seinen Abschluss. De facto bestanden ab diesem Zeitpunkt zwei Staaten. Dennoch postulierten beide Regierungen in den Folgejahren ihren jeweiligen Alleinvertretungsanspruch für die gesamte deutsche Bevölkerung.
Der Weg zur Zweistaatlichkeit
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde recht bald Gewissheit, dass sich aufgrund der ideologischen und machtpolitischen Ausrichtung der Westalliierten auf der einen Seite und der Sowjetunion auf der anderen, eine gemeinsame Zukunft Deutschlands durch alle vier Besatzungsmächte kaum gestalten ließ. Spätestens ab 1947 setzten die beiden Großmächte USA und Sowjetunion einen Prozess in Gang, der in der Folge von Aktion, Reaktion und Gegenreaktion, schließlich 1949 die Gründung von zwei Staaten unterschiedlicher Ausrichtung auf deutschem Boden bewirkte. Die Entstehung des Ost-West-Gegensatzes und der neuen bipolaren Weltordnung führte letztlich dazu, dass die beiden deutschen Teilstaaten gewissermaßen als „Kinder des Kalten Krieges“ entstanden.
Die Sowjetunion hatte schon 1945 Parteien in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zugelassen, ein Jahr später Kommunalwahlen durchgeführt und schließlich auch früher als die Westalliierten Zentralverwaltungen installiert. Dies diente unter anderem dem Zweck, ihre Besatzungszone als Muster für Gesamtdeutschland zu präsentieren. Schließlich sah sie sich aber ab dem 1. Januar 1947 mit dem Zusammenschluss der britischen und US-amerikanischen Zonen zum Vereinigten Wirtschaftsgebiet (Bizone) einem ersten vorstaatlichen Gebilde in Westdeutschland gegenübergestellt. Zwar hatte der spätere Vorsitzende des SED-Zentralkomitees Walter Ulbricht bereits zu Beginn des Jahres 1946 in Moskau einen Plan für die weitere Entwicklung der Sowjetischen Besatzungszone vorgelegt, der gegebenenfalls auch eine Spaltung Deutschlands in Kauf nahm. Doch achtete das östliche Lager in der Außenwirkung strikt darauf, den Eindruck zu erwecken, den westlichen Schritten zur Verfestigung staatlicher Strukturen keineswegs vorzugreifen, sondern nur nachzufolgen. Die Verantwortung für eine mögliche Spaltung Deutschlands wollten die sowjetischen Machthaber um Stalin Bonn und Washington anlasten. Ferner hegte die Sowjetunion noch immer die Hoffnung, ein zunächst neutrales Gesamtdeutschland später dem eigenen Lager zuzuschlagen.
Neben der Gründung der Bizone sind die Übergabe der Frankfurter Dokumente durch die Alliierten im Juli 1948 und der damit verbundene Auftrag, eine Verfassung auszuarbeiten, wichtige Wegmarken in Richtung Weststaat. Ab dem Herbst 1948 wurde der dortige Staatsgründungsprozess zudem wesentlich durch Konrad Adenauer geprägt, der als Vorsitzender der CDU und des Parlamentarischen Rates seine Handlungsspielräume im Sinne eines politischen Pragmatismus zu nutzen wusste. Eine feste Anbindung an den Westen verbunden mit einem Souveränitätszuwachs für den Weststaat hatte für ihn Priorität vor einer Wahrung der Deutschen Einheit um jeden Preis. Die Einheit sollte später ausgehend von dem staatlichen Provisorium Bundesrepublik vollendet werden.
Auf die Initiativen zur Einsetzung eines Wirtschaftsrates für die Bizone durch die Westalliierten reagierte die Sowjetische Militäradministration im Juni 1947 mit der Installation der Deutschen Wirtschaftskommission, die von nun an bis zur offiziellen Gründung der DDR zentrale Verwaltungs- und mitunter auch Regierungsaufgaben wahrnahm. Legitimistisch abgefedert wurden die Vorbereitungen für einen Oststaat ab Dezember 1947 durch die Verbindung mit der Volkskongreß-Bewegung. Dem Konzept einer vermeintlich einheitlichen Nationalen Front des demokratischen Deutschlands folgend waren in die insgesamt drei Volkskongresse neben SED-Mitgliedern auch solche der anderen Blockparteien und Vertreter der Massenorganisationen involviert. Faktisch waren aber auch die als solche stilisierten bürgerlichen und liberalen Parteien CDU, NDPD und LDPD nur Feigenblätter der deutlich auf sozialistische Dominanz angelegten Einheitslisten. Obgleich das Verfahren der Delegiertenbestimmung sehr intransparent war, sollte eine demokratische Vertretung des Volkes nach außen kommuniziert werden, die schon aufgrund des großen Überhanges an SED-Vertretern nicht existierte.
Aus dem II. Deutschen Volkskongreß ging schließlich der Deutsche Volksrat hervor. Der Volksrat – quasi das Pendant zum Parlamentarischen Rat in Westdeutschland – legte im Oktober 1948 einen ersten ostdeutschen Verfassungsentwurf vor, der jedoch zunächst nicht verabschiedet wurde. Aus den genannten Gründen bremste die Sowjetunion die ostdeutschen Parteikader noch aus. Als wesentliche Katalysatoren auf dem Weg zur Zweistaatlichkeit wirkten schließlich Währungsreform, Berlin-Blockade und Luftbrücke – auch wenn die Sowjetunion mit der Abriegelung West-Berlins gerade die Gründung eines Weststaates verhindern wollte. Nachdem das
Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Kraft getreten und die westliche Staatswerdung im September 1949 mit der Vereidigung der ersten Bundesregierung abgeschlossen war, billigte der Deutsche Volksrat – gerade umgewandelt in die DDR-Volkskammer – am 7. Oktober 1949 den Verfassungsentwurf für die DDR. Wenige Tage später nahm auch die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik Ihre Arbeit auf.
Das doppelte Gesamtdeutschland
Aufgrund der ideologischen Gegensätze und der sich herausbildenden politischen Blöcke war den meisten Entscheidungsträgern schon seit 1947 bewusst, dass die Entwicklung zumindest mittelfristig auf zwei deutsche Staaten hinauslief. Schließlich wurde die Bindung der drei westlichen Besatzungszonen an die im Entstehen begriffene westliche Staatengemeinschaft immer enger, und nichts deutete auf eine Kehrtwende hin. Spätestens mit der Aufnahme der Westzonen in das European Recovery Program – besser bekannt als Marshallplan – war klar, dass Eindämmungspolitik und kapitalistisches Wirtschaftssystem den Weg zu einem Weststaat vorzeichneten, der sich kaum mit Kommunismus und Planwirtschaft vereinbaren ließ. Gleichermaßen deutlich trat hervor, dass die Sowjetunion nur ein vereinigtes Deutschland akzeptieren würde, das jeglicher Westbindung eine Absage erteilte.
Die beiden Staatsgründungen in Ost-Berlin und Bonn waren nicht nur das Produkt der Besatzungsmächte, sondern auch der deutschen Politiker. Die Gründung von zwei Staaten allerdings kollidierte mehrheitlich mit dem Selbstverständnis in der deutschen Bevölkerung: Denn die „deutsche Einheit war nach dem Krieg für alle Deutschen nicht eine Frage, sondern eine Selbstverständlichkeit.“ Es galt also beiderseits des fallenden Eisernen Vorhanges, die eigene Staatsgründung einerseits als bloße, unabdingbare Reaktion auf das Vorgehen jenseits der Zonengrenze darzustellen und andererseits im Rahmen der jeweiligen Ausrichtung als Lösung zu präsentieren, die es nun auf Gesamtdeutschland auszuweiten galt.
Deutlichen Ausdruck fand dies in beiden Verfassungen: Das Grundgesetz machte schon in seiner Präambel den gesamtdeutschen Anspruch auf Wahrung nationaler und staatlicher Einheit geltend. Dort hieß es, dass das deutsche Volk „auch für jene Deutschen gehandelt (hat), denen mitzuwirken versagt war“, womit die Bevölkerung in der sowjetischen Besatzungszone gemeint war. Ferner wird der aktive Wiedervereinigungsgedanke als Auftrag formuliert: „Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“ Die erste Verfassung der DDR erklärte in Artikel 1 Deutschland zu einer „unteilbaren Republik“, in der es „nur eine deutsche Staatsangehörigkeit“ gebe und schloss damit die Westdeutschen ein.
Das Neue Deutschland und die Legitimation der DDR-Gründung
Abseits der jeweiligen konstitutionellen Grundausrichtung versuchten beide Seiten auch öffentlich zu untermauern, einzig legitimiert zu sein, für alle Deutschen zu sprechen. Hierbei kann die Berichterstattung aus dem Neuen Deutschland (ND) als repräsentativ angesehen werden, da die Zeitung als „Zentralorgan der SED“ stets die Linie der ostdeutschen Führungsriege wiedergab. Auf den Erlass des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 reagierte das ND vergleichsweise moderat und betonte lieber die ostdeutschen Bemühungen zum Erhalt der Deutschen Einheit. Im Mittelpunkt der Berichterstattung stand entsprechend der ab dem 29. Mai 1949 zusammentretende III. Deutsche Volkskongreß, der nicht weniger als „das Tor der deutschen Zukunft öffnen“ sollte, wie das ND titelte. „Einheit und gerechter Friede steht auf den Fahnen des Kongreßes geschrieben.“ Mit dieser Formel brachte das ND einerseits die zentrale öffentliche Zielrichtung der Zusammenkunft zum Ausdruck, verdeutlichte andererseits aber damit auch schon, dass Westdeutschland und die Westalliierten nicht an Frieden und Einheit interessiert seien, wie der Autor später mit einem Fingerzeig auf die Berlin-Frage noch verdeutlicht: „Hier leisten Millionen deutscher Menschen den deutschen Beitrag zu einem dauerhaften Weltfrieden. Dort möchten die Hinterbliebenen General Clays Berlin doch noch einen Krieg wert machen.“
Die Zusammensetzung des III. Volkskongreßes untermauerte hierbei den gesamtdeutschen Anspruch. Waren doch unter den rund 2000 Delegierten auch über 600 Vertreter aus Westdeutschland. Gewählt worden waren die Delegierten am 15. Mai 1949 wiederum über eine Einheitsliste, in der die SED und die ihr verbundenen Massenorganisationen wie etwa der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund und die Freie Deutsche Jugend unter Erich Honecker die deutliche Majorität stellten. Darüber hinaus wurde schon die Zustimmung zur Einheitsliste mit der Frage der Deutschen Einheit verbunden, wohlwissend, dass das Grundgesetz zu diesem Zeitpunkt bereits fertiggestellt war. So lautete die Frage an die Wähler und Wählerinnen in der SBZ: „Bist Du für die Einheit Deutschlands und stimmst Du der von den demokratischen Parteien und Massenorganisationen aufgestellten Kandidatenliste zu?“ Es wurde mithin suggeriert, dass der Weg zur Deutschen Einheit nur über die Einheitsliste führte. Die Wahlen dienten aber auch insgesamt dazu, dem III. Volkskongreß und seinen späteren Entscheidungen einen legitimierenden Anstrich zu verleihen – obgleich noch immer rund ein Drittel der Ostdeutschen den Vorschlag abgelehnt hatte. Auch deshalb wurde das ND wohl nicht müde, auf die Bevölkerung als unmittelbare Legitimationsquelle zu verweisen: „Das deutsche Volk erwartet vom 3. Deutschen Volkskongreß, daß er die Nationale Front, die das Volk inzwischen selbst zu bilden begann, durch ein klares Programm vorwärtsreißt.“
Der letzte formale Schritt zur Staatsgründung erfolgte rund vier Monate später, nachdem das erste Bundeskabinett seine Arbeit aufgenommen hatte. Aber auch hier standen die Betonung des Einheitsstrebens und der demokratischen Legitimität im Vordergrund der propagandistischen Berichterstattung des ND. So ließ die Zeitung schon am 6. Oktober 1949 – gewissermaßen vorbereitend – keinen Zweifel daran, dass das für den nächsten Tag geplante Inkrafttreten der Verfassung und damit die staatsrechtliche Gründung der DDR „Im Namen des ganzen Deutschland“ geschehe, so die Schlagzeile des Aufmachers. Der Autor betonte ferner dass „die ganze bisherige Tätigkeit des Deutschen Volksrates, die in aller Öffentlichkeit vor sich ging, eine seiner besten Legitimationen“ sei. Im Weiteren fällt auf, dass die Abgrenzung zu Westdeutschland deutlicher und der Ton schärfer als noch im Mai 1949 wurde. So hieß es weiter über den Volksrat: „Diese Körperschaft war es, die als erste gegenüber dem landesverräterischen Treiben der Separatisten und Quislinge das Banner der deutschen Einheit entrollte, den baldigen Abschluß eines gerechten Friedensvertrages und den Abzug aller Besatzungsmächte für Deutschland immer wieder forderte und nicht müde wird, ihre Stimme für diese deutschen Lebensfragen zu erheben.“ Der neuen Regierung der Bundesrepublik wurde das Bemühen um die Deutsche Einheit abgesprochen und durch den Schmähvergleich mit dem norwegischen NS-Kollaborateur Vidkun Quisling unmissverständlich vorgeworfen, als bloße Erfüllungsgehilfin der Westalliierten zu agieren. Hieraus wiederum ließ sich eine weitere Legitimationsgrundlage für die Gründung des Ost-Staates ziehen, wie das ND zum Abschluss nochmals klar stellte: „Der Deutsche Volksrat allein ist befugt, berechtigt und verpflichtet, eine provisorische Regierung zu schaffen, die im Namen des ganzen Deutschland nicht nur sprechen, sondern auch entschlossen handeln kann.“
Die DDR-Machthaber konstruierten gewissermaßen eine Notwehrlage, die keinen weiteren Aufschub mehr duldete, um zumindest einen (aus ihrer Sicht) legitimierten Staat auf deutschem Boden zu schaffen. Dies wurde in einem anderen Artikel vom gleichen Tag noch zugespitzt: „Die Bildung eines separaten Weststaates, der Erlaß des Besatzungsstatutes, die völkerrechtswidrigen Demontagen, die Verweigerung eines Friedensvertrages und die Bevormundung durch die Hohen Kommissare […], all das lässt den schweren Notstand erkennen, in den Deutschland durch die Diktatpolitik der Westmächte versetzt worden ist.“ Im Wesentlichen hatte das ND somit schon vor dem eigentlichen DDR-Gründungsdatum die Zielrichtung ausgegeben. So verwundert es auch nicht, dass die Staatsgründung und die ihr folgende Regierungsbildung in dem zentralen Aufmacher des ND vom 07. Oktober 1949 als „Schlag“ gegen die Bundesregierung um Adenauer verkauft wurde. Überhaupt avancierte der Name des ersten Bundeskanzlers gerade im DDR-Jargon zur Standard-Verunglimpfung für alle westlichen Politiker.
Wandte sich die Propaganda doch zumeist gegen die „Bonner Separatregierung“ der „Adenauers“. Ferner wurde – durchaus zutreffend – auch auf die NS-Vergangenheit bzw. -Verstrickung von westlichen Regierungsvertretern und Parlamentariern verwiesen. Zusammenfassend wird jedoch abermals deutlich, dass die DDR-Politiker öffentlich auf keinen Fall in den Ruch geraten wollten, aktiv auf einen Ost-Staat hingearbeitet zu haben, sondern nur aufgrund der westlichen Staatsgründung selbst gehandelt hatten, um – so paradox dies erscheint – die Deutsche Einheit nicht aufzugeben.
Die Bundesrepublik und der Alleinvertretungsanspruch
Auch in der westdeutschen Presse war der Ton in den Reaktionen auf die DDR-Staatsgründung alles andere als zurückhaltend. Sowohl Die Welt und die Frankfurter Rundschau als auch die Süddeutsche Zeitung prangerten vor allem an, dass Wahlen zur Volkskammer erst für den Oktober 1950 vorgesehen waren. Aus dem Legitimationsdefizit folgerte die westdeutsche Presse schließlich die Konsequenz, dass der Kontakt mit der DDR-Führung keinesfalls deren Anerkennung als staatlicher Regierung bedeuten dürfe. Die Wochenzeitung Die Zeit brachte besonders prägnant auf den Punkt, was sie von der Gründung eines Ost-Staates hielt. Unter der Überschrift „Moskaus Bastard-Regierung“ behauptete der Autor, dass „die Eberts, Ulbrichts, Grotewohls und Piecks sowie Hitlers Generale Müller und Lenski […] laut die Einsetzung einer Sowjetzonenregierung verlangt“ hätten.
Die Ähnlichkeit zu den Formulierungen aus dem ND sticht ins Auge: Wo das ostdeutsche Blatt von den Adenauers schrieb, wird hier die despektierlich-personifizierende Pluralisierung auf die SED-Führungsriege ausgedehnt, um im nächsten Schritt auch noch auf Kontinuitäten zum Nationalsozialismus zu verweisen. Hatte das ND die Legitimität des Volkskongresses vehement betont, setzte die Zeit gerade an diesem Punkt an, um die Rechtmäßigkeit der kommenden DDR-Regierung anzuprangern. Danach hätten sich die bisherigen Zentralverwaltungen ohnehin schon auf Geheiß der Sowjetunion als diktatorische Regierung geriert. Wenn sich aber daraus eine offizielle Ost-Regierung forme, bestehe „für alle westdeutschen Stellen die Pflicht, die Legitimität dieser Regierung nachzuprüfen.“ Ferner dürften mit den neuen Machthabern keinerlei Verträge abgeschlossen werden, „denn das hieße ja, sie anzuerkennen.“
Was hier noch als Zeitungsberichterstattung erschien, sollte kurz darauf zur Staatsraison der Bundesrepublik erhoben worden. Natürlich hatte auch Konrad Adenauer der Ost-Republik unmittelbar nach deren Gründung die Legitimität und damit den Rang eines gleichrangigen Verhandlungspartners abgesprochen, sah sich aber dennoch von der öffentlichen Meinung dazu gedrängt, nochmals klar Stellung zu beziehen. Der Bundeskanzler nutzte hierzu die Bundestagssitzung vom 21. Oktober 1949. Adenauer stellte zunächst fest, dass die Westdeutschen im Gegensatz zu den Ostdeutschen in Freiheit lebten – ein Paradigma, das die westliche Staatenwelt in den Folgejahren ebenso zu ihrem Mantra erheben sollte, wie die Sowjetunion und ihr Bündnis das des Friedens.
Die Verantwortung für die deutsche Teilung wies er von sich: „Im Gegensatz zu der Sowjetzone trat in den drei Westzonen bei den westlichen Alliierten das Bestreben, eine einheitliche staatliche Organisation für diese drei Zonen zu schaffen, erst auf der Londoner Konferenz der sechs Mächte […], die vom Februar bis Juni 1948 abgehalten wurde, zutage. […] Dieses Bestreben zeigte sich also erst, als die Entscheidung in der Ostzone […] schon weit fortgeschritten war, als der Erste und der Zweite Volkskongreß und der Volksrat schon geschaffen waren.“ Erst danach sei der Parlamentarische Rat zur Ausarbeitung des Grundgesetzes einberufen worden. Hier gleichen sich die Argumentationsmuster in Ost und West. Tritt doch nur allzu deutlich hervor, dass sich der langwierige Prozess der doppelten Staatsgründung hervorragend dazu eignete, ihn der eigenen Argumentation anzupassen. Je nachdem, in welches Ereignis der historischen Abfolge man den entscheidenden Schritt zur Staatsgründung hineinlas, konnte die Entschuldigung für den eigenen Beitrag an der deutschen Teilung konstruiert werden.
Adenauer jedenfalls nutzte die Regierungserklärung im Folgenden, um nicht weniger als das Selbstverständnis der Bundesrepublik im Verhältnis zur DDR zu definieren. Die Bundestagssitzung vom 21. Oktober 1949 kann daher mit Recht als die Geburtsstunde des Alleinvertretungsanspruchs bezeichnet werden. „Die Bundesrepublik Deutschland ist somit bis zur Erreichung der deutschen Einheit die alleinige legitime staatliche Organisation des deutschen Volkes. […] Die Bundesrepublik Deutschland fühlt sich auch verantwortlich für das Schicksal der 18 Millionen Deutschen, die in der Sowjetzone leben. Sie versichert sie ihrer Treue und Sorge. Die Bundesrepublik Deutschland ist allein befugt, für das deutsche Volk zu sprechen.“
Im Ergebnis hatte der unmissverständlich formulierte Alleinvertretungsanspruch auch weitreichende praktische Folgen. Beide deutschen Staaten erkannten einander nicht an und konnten mithin auch keine diplomatischen Beziehungen miteinander aufbauen. Weiter ging gar noch die westdeutsche Hallstein-Doktrin, die besagte, dass es für die Bundesrepublik einen unfreundlichen Akt darstelle, wenn eine andere Nation diplomatische Beziehungen mit der DDR aufbaut. Tatsächlich brach die Bundesrepublik deshalb 1957 mit Jugoslawien und 1963 mit Kuba die eigenen diplomatischen Beziehungen ab. Die Sowjetunion blieb aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung eine Ausnahme. Das starre Dogma wurde erst durch die neue Ostpolitik der Regierung Brandt („Wandel durch Annäherung“) und den Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten gelockert. Beide Staaten unterhielten vom 2. Mai 1974 an „Ständige Vertretungen“, die faktisch als Botschaften fungierten, nur nicht den Namen tragen durften. Ein kleiner Rest der Einheitsrhetorik aus dem Jahr der doppelten Staatsgründung erhielt sich so noch bis zur Wiedervereinigung.
Zitierweise: "Einheitsrhetorik und Teilungspolitik in West und Ost - Zur Rechtfertigung der deutschen Teilung im Prozess der doppelten Staatsgründung“, Arne Hoffrichter, in: Deutschland Archiv, 20.9.2019, Link: www.bpb.de/297414