Deutschland Archiv: Ein Vorwort zum Beitrag von Daniel Rafecas
Am 24. März 1976 fand der Militärputsch in Argentinien statt, der den früheren Junta-Chef Jorge Rafael Videla als Staatspräsident an die Spitze des Staates brachte. Diese Militärdiktatur hatte das lateinamerikanische Land bis 1983 im Griff. Das Regime war geprägt durch die systematische Verfolgung und Ermordung von politisch Oppositionellen. Es wurden Geheimgefängnisse, in denen gefoltert wurde, eingerichtet und Tausende wurden umgebracht oder „verschwanden“.
Elisabeth Käsemann, Opfer des argentinischen Staatsterrors
Eines der Opfer der Militärdiktatur war die deutsche Studentin Externer Link: Elisabeth Käsemann (Link zur Vita der Käsemann Stiftung). Sie wurde 1977 wegen ihres politischen und sozialen Engagements von der argentinischen Militärdiktatur nach wochenlanger Folter ermordet. Nach der Überführung ihres Leichnams nach Deutschland und der Obduktion leitete die Staatsanwaltschaft Tübingen 1977 ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes gegen Unbekannt ein. Das Verfahren wurde jedoch wenig später von den deutschen Behörden mit der Begründung eingestellt, die argentinische Militärdiktatur lehne eine Kooperation bei den Ermittlungen ab.
Erst spät werden Täter zur Rechenschaft gezogen
Ende der 1990er Jahre, 15 Jahre nach Ende der Militärdiktatur, nahmen der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel, deutsch-argentinische Opfer und Opferangehörige Kontakt zu deutschen Menschenrechtsorganisationen auf. Ihr Ziel war es, die Strafverfolgung argentinischer Täter vom Ausland aus zu erwirken, da in Argentinien eine weitgehende Amnestie für die Täter bestand. Im Jahr 2003 stellte der deutsche Staatsanwalt Walter Grandpair internationale Haftbefehle gegen hochrangige argentinische Militärangehörige und den ehemaligen Junta-Chef und Staatspräsidenten Jorge Rafael Videla aus und beantragte ihre Auslieferung nach Deutschland. Die ehemalige deutsche Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) unterstützte und begleitete diese Entwicklung.
Da die argentinische Justiz nach Aufhebung der Amnestiegesetze beanspruchte, die Täter im eigenen Land zur Verantwortung zu ziehen, lehnte Argentinien die Auslieferung der Tatverdächtigen nach Deutschland ab. Der Untersuchungsrichter Dr. Daniel Rafecas nahm die Ermittlungen im Fall Käsemann auf. Im Jahr 2010 wurde die Hauptverhandlung wegen der Menschenrechtsvergehen im geheimen Haftlager El Vesubio eröffnet, in deren Verlauf auch der Fall Käsemann verhandelt wurde. Die Bundesrepublik Deutschland trat als Nebenklägerin auf.
Im Jahr 2011 wurden die Angeklagten zu langjährigen oder lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Im Verfahren gegen Jorge Rafael Videla, unter anderem wegen der Ermordung Elisabeth Käsemanns, dem sich Angehörige der Familie Käsemann als Nebenkläger anschlossen, konnte das Urteil nicht gesprochen werden, da der Angeklagte vor dem Urteilsspruch im Mai 2013 starb.
Im Jahr 2014 wurde die Elisabeth Käsemann Stiftung gegründet. Sie engagiert sich in der kritischen Auseinandersetzung mit autoritärer und konfliktärer Vergangenheit und ihren Folgen für Gesellschaften in Lateinamerika, Spanien und Deutschland. Die Stiftung widmet sich der Erinnerung an die Opfer von staatlichen Menschenrechtsverletzungen und fördert die demokratische Kultur im internationalen Dialog zum Schutz der Menschenrechte. Sie unterstützt Projekte zur Aufarbeitung staatlicher Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika und Europa. Die Elisabeth Käsemann Stiftung hält regelmäßig Symposien ab, die sich mit der Vergangenheitsaufarbeitung als juristisches und gesamtgesellschaftliches Thema von internationaler Bedeutung befassen. Dabei werden auch die anhaltende Aufarbeitung der Verbrechen der Nationalsozialisten sowie die Anstrengungen in Argentinien, die Verbrechen der Militärdiktatur aufzuklären, diskutiert. Hieran ist auch der Untersuchungsrichter Dr. Daniel Rafecas beteiligt.
Rafecas: Das Schweigen in Argentinien brechen, Verbrechen ahnden
Argentinien hat in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten viel Aufmerksamkeit für einen außerordentlichen Prozess der Strafverfolgung erfahren. Im Zentrum standen und stehen dabei jene, die auf verschiedenen Ebenen für massive staatliche Verbrechen der Diktatur von 1976 bis 1983 verantwortlich waren und deren Machtübernahme sich nun zum 43. Mal jährt. In den Jahrzehnten nach der Gründung der argentinischen Republik im Jahr 1810 herrschten wirtschaftliche, politische, militärische und religiöse Eliten. Sie verfolgten die Interessen einer privilegierten gesellschaftlichen Gruppe unter Ausschluss der übrigen Bevölkerung – ungeachtet der Tatsache, dass 1853 eine freiheitliche Verfassung verabschiedet worden war. Diesen Gesellschaftsentwurf prägten insbesondere das Militär und die reaktionärsten Vertreter der katholischen Kirche („Kreuz und Schwert“). Ihre Macht sahen sie mit dem ideologischen Erstarken von Kommunismus, Sozialismus und Anarchismus bedroht, dessen Ideologien mit den Millionen europäischer Einwanderer in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts – unter ihnen vor allem Spanier, Italiener und Deutsche – das Land erreichten und zunehmend an Einfluss gewannen.
Der Vormarsch linker Ideologien und demokratischer Parteien bedrohte das Vorhaben, Argentinien zu einem Land der Privilegien zu gestalten, von denen die Mehrheit der Bevölkerung ausgeschlossen war. Infolgedessen kam es im vergangenen Jahrhundert in den Jahren 1930, 1943, 1955, 1962, 1966 und 1976 wiederholt zu Staatsstreichen, die demokratisch gewählte Regierungen stürzten und an ihre Stelle autoritäre Regime installierten. Im Argentinien des 20. Jahrhunderts regierten also mehr Diktaturen als Demokratien. Die politischen Verhältnisse führten zudem dazu, dass Lateinamerika während des Kalten Krieges nach 1945 von allen Seiten als eine Art „Einsatzgebiet“ betrachtet wurde, in dem sich die beiden antagonistischen Weltanschauungen – die kapitalistische und die sozialistische – gegenüberstanden. Somit sah sich das Land in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts selbst Diskursen und Praktiken ausgesetzt, die die globalen ideologischen Spannungen dieser Zeit widerspiegelten.
In diesem Kontext entwickelten argentinische Parteien in den 1960er und 1970er Jahren Widerstandsstrategien, die die Interessen der benachteiligten Mehrheiten vertraten und die während der aufeinanderfolgenden Diktaturen hart verfolgt und unterdrückt wurden. Gegen diese Parteien und deren – mitunter auch bewaffnete – Organisationen gingen die wechselnden argentinischen Diktaturen mit aller Härte vor. Sie verbannten deren Mitglieder, schufen spezifische neue Delikte im Strafrecht, etablierten Sonderstrafgerichte und führten die Todesstrafe wieder ein. Dessen ungeachtet breiteten sich linke Organisationen weiter im Land aus. Am 24. März 1976, als das letzte Militärregime – angeführt von Diktator Jorge Rafael Videla sowie den Militärs Emilio Massera und Orlando Agosti – die Macht ergriff, begannen diese mit der „Ausrottung der Subversion“. Ihr Plan sah die systematische physische Vernichtung aller Mitglieder linker militanter Organisationen vor sowie all jener, die diese aus dem gewerkschaftlichen, universitären, politischen und religiösen Bereich unterstützten. Ihr Ziel bestand darin, dauerhaft einen autoritären, antiliberalen und antidemokratischen Staat zu errichten.
1976-1983: Staatlicher Terror in Argentinien
Heute, dreiundvierzig Jahre nach dem Putsch von 1976, wissen wir, dass dieser mörderische Plan mit außerordentlicher Effizienz umgesetzt wurde. Das Militär – das Heer, Marine und Luftwaffe umfasst – sowie alle Sicherheitsbehörden und Geheimdienste wurden unter dem Kommando des Heeres in die Struktur eines einzigen gigantischen Machtapparats zusammengefügt, der von nun an in der Illegalität operierte.
Zudem wurde das Land in fünf Operationszonen unterteilt, die wiederum in Unterzonen und Einsatzgebiete aufgeteilt wurden, die jeweils in der Verantwortung der Oberkommandierenden der drei Streitkräfte standen. Darüber hinaus wurden landesweit in allen größeren Städten geheime Zentren eingerichtet. Sie dienten den sogenannten Einsatzgruppen als Basis, in denen diese ihre Opfer ermordeten oder folterten, um so an Informationen über linkspolitische Netzwerke und Aktivitäten zu gelangen. Etwa 500 dieser Terrorzentren soll es zwischen 1976 und 1977 schätzungsweise gegeben haben; in den größten von ihnen – die „Escuela de Mecánica de la Armada“ (ESMA) in Buenos Aires und „La Perla“ in Córdoba – waren zeitgleich bis zu 300 Menschen inhaftiert.
In diesen geheimen Haftzentren herrschte ein System totaler Entmenschlichung. Aus Individuen wurden Nummern, ähnlich wie in nationalsozialistischen Konzentrationslagern; und die meisten Gefangenen wurden nach der Folter ihrem finalen Schicksal zugeführt: ihrer Ermordung. Entweder wurden sie nach ihrer Hinrichtung in Massengräbern verscharrt bzw. verbrannt oder sie wurden in den sogenannten Todesflügen halb bewusstlos ins Meer geworfen, wodurch sie zu „Desaparecidos“ (Verschwundenen) wurden.
Schätzungsweise 30.000 Menschen wurden damals entführt oder „verschwanden“ spurlos; die meisten von ihnen – ihre Zahl ist heute nur noch schwer zu ermitteln – sind vermutlich ermordet worden. Nur ein kleiner Teil schaffte es, dem mörderischen System zu entkommen und zu überleben.
Unter den Inhaftierten befanden sich auch zahlreiche Frauen. Sie wurden häufig in der Gefangenschaft durch männliche Täter missbraucht. Viele der Frauen waren zum Zeitpunkt ihrer Entführung zudem entweder schwanger oder Mütter kleiner Kinder. Auch für diese Fälle verfolgte die Diktatur einen grausamen Plan: Mehr als 500 Kinder und Babys wurden ihren Müttern rechtswidrig weggenommen und an Angehörige der Streitkräfte oder deren Verwandte übergeben. Das Eigentum aller Opfer galt dem Regime als „Kriegsbeute“ und wurde systematisch geplündert. Unternehmensanteile wurden an Personen überschrieben, die dem Regime gegenüber loyal waren. Gewerkschaftsorganisationen und -vertreter hingegen wurden in Hunderten von Fabriken und öffentlichen Einrichtungen drangsaliert, verfolgt und ermordet.
Der Druck der internationalen Gemeinschaft
Zu Recht gelten diese Jahre der letzten Diktatur als das dunkelste und tragischste Kapitel in der jüngeren argentinischen Geschichte. Im Jahr 1985 – zwei Jahre nach dem Ende der Diktatur – fand während der Amtszeit von Präsident Raúl Alfonsín vor der Bundeskammer in Buenos Aires ein beachtenswertes Gerichtsverfahren gegen die Militärführung statt. Damals wurde nicht nur ein Dutzend Oberbefehlshaber zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt, sondern es wurde auch die Erwartung geweckt, dass damit zugleich ein heilender Prozess eingeleitet würde, der Tausende von Tätern und Mittätern zur Rechenschaft ziehen würde.
Doch dem war nicht so. Das Militär beendete die rechtsstaatliche Aufarbeitung, indem es mit einem neuen Staatsstreich drohte. Die damalige politische Klasse kapitulierte mit der Verabschiedung einer Reihe von Gesetzen, die den Tätern Straflosigkeit gewährten. Diese fatale Entwicklung fand ihren Abschluss, als Präsident Carlos Menem 1989 die wenigen Militärs begnadigte, die zuvor überhaupt verurteilt worden waren.
In der Zeit der Straflosigkeit und des Vergessens, die von 1986 bis 2001 andauerte, hatten die Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen keine andere Wahl, als die internationale Strafverfolgung in Anspruch zu nehmen, um so Wahrheit und Gerechtigkeit anzustreben. In Madrid, Rom, Nürnberg, Paris und vielen anderen Teilen der Welt wurden daraufhin im Falle europäischer Opfer der argentinischen Militärdiktatur Ermittlungsverfahren eingeleitet. Diese Prozesse übten zweifelsohne einen enormen Druck auf weite Teile der argentinischen Gesellschaft aus. Doch noch immer ließ Argentinien keine Aufarbeitung der Vergangenheit zu, um nicht die Verantwortung für das Geschehene übernehmen zu müssen. Stattdessen verbreiteten interessierte Kreise in jenen Jahren das Narrativ, dass in den 1970er und 1980er Jahren ein „schmutziger Krieg“ stattgefunden habe, in dem „zwei Dämonen“ einen Kampf ausgetragen hätten, und dass es nun notwendig sei, die „Seite umzublättern“, „nach vorne zu schauen“ und „die Argentinier zu versöhnen“.
2001: Der Fall „Simón“ als Trendwende
Allerdings verhinderte dies der internationale Druck. Im Jahr 2001 erhielt der Damm der Straflosigkeit dann auch innerhalb Argentiniens erste Risse: Ein Bundesrichter nahm damals – entgegen der üblichen Handhabung – den Fall „Simón“ wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wieder auf und verhaftete einen der zahlreichen Folterer des Diktaturregimes. Es war ebendieser Fall des Angeklagten Julio Simón, der vier Jahre später vor den Obersten Gerichtshof gelangte und einen Kurswechsel in Argentinien herbeiführte.
Dabei schloss sich der Gerichtshof der internationalen Gemeinschaft an und sendete so eine klare Botschaft ins ganze Land aus: Damit Recht auch Gerechtigkeit schaffen kann, müssen die rechtlichen Hindernisse, Verbrechen gegen die Menschlichkeit als solche zu ahnden, konsequent beseitigt werden. In den darauffolgenden 14 Jahren hat die argentinische Justiz im Zuge einer bemerkenswerten Entwicklung zahlreiche Ermittlungen in allen Großstädten des Landes eingeleitet oder wiederaufgenommen. Bislang kam es zu 750 Verurteilungen, 800 weitere laufende Verfahren steuern auf ein Urteil zu. In meiner Funktion als Bundesrichter habe ich persönlich in diesem Zeitraum rund 200 Personen festnehmen lassen und Gerichtsverfahren gegen sie in die Wege geleitet. Mehr als die Hälfte dieser Prozesse führte zu einer Verurteilung.
Die Strafverfahren zeichneten sich dadurch aus, dass sie von verfassungsgemäßen Amtsrichtern durchgeführt wurden. Sie haben folgerichtig das zum Zeitpunkt der Tat gültige Strafrecht wie auch das Verfahrensrecht konsequent angewandt, das die Unschuldsvermutung, das Recht auf Verteidigung und die Möglichkeit zur Anrufung einer zweiten Instanz vorsieht. Aufgrund dieser auf rechtsstaatlichen Prinzipien basierenden Verfahren wurden 300 Beschuldigte mangels Beweisen oder ähnlicher Begründungen freigesprochen.
All diese Verfahren trugen dazu bei, die historischen Ereignisse der letzten Diktatur aufzuarbeiten, und förderten zugleich die Erinnerungspolitik in Bildungseinrichtungen, in den Medien und in der Kunst. Zwar fällt zum jetzigen Zeitpunkt eine endgültige Bilanz schwer – es käme dem Versuch gleich, einen Film zu bewerten, dessen Ende noch nicht bekannt ist. Und doch lässt sich das bislang Erreichte bereits jenem gegenüberstellen, was verfehlt wurde.
Der Pakt des Schweigens
Beginnen wir mit dem, was auf der Soll-Seite steht: Die schiere Zahl der umfangreichen Prozesse stellt die argentinische Judikative zweifelsohne vor gewaltige Herausforderungen. Mühsam mussten zahlreiche strukturelle Widerstände überwunden werden, um insbesondere im Bereich der zivilen Mittäterschaft Fortschritte zu erzielen. Und immer noch tappen wir bei der Aufarbeitung der letzten Phase des „Kampfes gegen die Subversion“, der Vernichtungsphase, die von der Diktatur betrieben wurde, weitgehend im Dunkeln. Nach juristischen Maßstäben kennen wir auch heute weder die Täter noch den genauen Tathergang bei einer großen Zahl von ermordeten oder verschwundenen Menschen. Es ist der Justiz, so bleibt leider festzuhalten, nach fast vier Jahrzehnten nicht gelungen, den Pakt des Schweigens aufzubrechen, der zwischen den damaligen Tätern noch immer besteht.
Ebenfalls enttäuschend ist die hohe Zahl der unaufgeklärten und ungesühnten Fälle von Kindesentführungen. Noch immer gibt es rund 400 Menschen, deren wahre Identität unbekannt ist. Und noch immer sind viele Familien, Großmütter, Väter und Mütter sowie Schwestern auf der verzweifelten Suche nach ihren Kindern und Angehörigen.
Dennoch darf all dies nicht das bislang Erreichte überdecken. Seitdem die Bundeskammer der Stadt Buenos Aires 2003 im Fall „Poblete/Hlazuk“ die Verfassungswidrigkeit der Straffreiheitsgesetze bestätigte, haben sich die Prozesse wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit deutlich ausgeweitet – von Süden (Rawson, General Roca, Neuquén) nach Norden (Salta, Jujuy, Formosa, Misiones) und von Osten (Mar del Plata, La Plata) nach Westen (Mendoza, San Juán, La Rioja). Gleichzeitig erhielten zehntausende Leidtragende des argentinische Staatsterrorismus Recht. Sie sind heute anerkannte Opfer von Entführungen, Folterungen, Vergewaltigungen, gewaltsamem Verschwinden, von Mord, Plünderungen, Zwangsexil und Enteignung. Es ist ein bedeutender Meilenstein der jüngeren argentinischen Geschichte, dass diese Verbrechen sichtbar gemacht wurden, Opfer und Opferorganisationen Wiedergutmachung erfuhren und Gerechtigkeit wie auch Wahrheit hergestellt wurden.
In den vergangenen 15 Jahren haben wir erreicht, dass aus dem ersten Angeklagten, Julio Simón, rund 1500 Angeklagte wurden, von denen die Hälfte bislang verurteilt wurde. Die Einrichtung der unabhängigen „Comisión Interpoderes“,
Und es bedeutet auch einen Fortschritt, dass die Opfer von damals den verurteilten Tätern heute nicht mehr auf der Straße begegnen, sondern diese ihren gesellschaftlichen Status verloren haben. Denn auch in den Jahren nach der Diktatur waren viele Täter aufgestiegen. Gewiss, viele der damaligen Täter lebten als gewöhnliche Kriminelle, die sich weiterhin an Entführungen und Erpressungen beteiligten, oder sie boten ihre Fähigkeiten als Berater oder Söldner für „konterrevolutionäre“ Kämpfe in anderen Teilen des lateinamerikanischen Kontinents an. Viele andere aber bekleideten nach der Diktatur hohe Posten in der Gendarmerie oder in der Armee; wieder andere waren an der Gesetzgebung beteiligt, wurden Bürgermeister oder gar Gouverneur; einige besetzten sogar die Posten von Richtern, Staatsanwälten und Abgeordneten oder sie wirkten als Journalisten, Unternehmer und Sicherheitsexperten.
Der Prozess, der diesen Personen etliche Jahre nach dem Ende der Diktatur gemacht wurde, erfolgte stets unter vollständiger Beachtung der verfassungsmäßigen Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren – und zwar sowohl in strafrechtlicher (Grundsatz der Rechtmäßigkeit und Schuld) als auch in prozessualer Hinsicht (Grundsatz der Unschuld, Verteidigung vor Gericht und in zweiter Instanz). Und trotz vieler Parallelen heben sich die Gerichtsverfahren deutlich von den Präzedenzfällen der NS-Prozesse in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ab. Denn in Argentinien bewerten die Opfer wie auch die Gesellschaft als Ganzes die verhängten Urteile als weitgehend angemessen angesichts der Schwere und des Ausmaßes der begangenen Verbrechen.
Auf diese Weise haben die Verfahren der vergangenen Jahre zu einem Prozess der Erinnerung, der Wahrheit und der Gerechtigkeit geführt. Und sie haben damit zugleich maßgeblich dazu beigetragen, dass die autoritäre Kultur, die im Laufe des 20. Jahrhunderts tiefe Wurzeln in unserem Land geschlagen hat, heute in breiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird und stattdessen im Gegenzug demokratische Werte erheblich gefestigt wurden.
Der Beitrag ist zunächst in der Ausgabe 8/2019 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ erschienen. Die Übersetzung erfolgte in der Elisabeth Käsemann Stiftung.
Zitierweise: "Schweigen brechen und Straftaten aufklären", Daniel Rafecas, in: Deutschland Archiv, 2.9.2019, Link: www.bpb.de/296014
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