Die Bernauer Straße – meine Schicksalsstraße. In Sicherheit hat sie mich gewiegt: Berlin kann nie zerrissen werden. Diese Sicherheit hat sie mir genommen, die Bernauer Straße: Berlin ist zerrissen worden. Doch eine ganz neue Sicherheit hat sie mir gegeben, eine unantastbare: Geschichte kennt keine Ewigkeiten.
„Niemand hat die Absicht, die Menschenwürde anzutasten" Ein Denkanstoß zum Thema Mauerbau - gestern und heute.
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Der Berliner Publizist Jörg Hildebrandt wuchs in einem Pfarrhaus an der Bernauer Straße auf, dort, wo lange Zeit die Versöhnungskirche stand. Sie wurde 1985 von DDR-Grenztruppen gesprengt, um freies Sicht- und Schussfeld im Mauerstreifen entlang der Bernauer Straße zu erhalten. Alljährlich am 13. August wird an diesem Ort in der "Kapelle der Versöhnung" eine Gedenkrede zum Mauerbau gehalten - 2019 von Jörg Hildebrandt. Hier sein Zeitzeugenbericht.
Wieso eigentlich waren wir so sorglos im Sommer 1961? Wir – damit meine ich nahezu alle Bewohnerinnen und Bewohner dieser meiner Bernauer Straße, Ost und West, unten vom Nordbahnhof bis oben zur Oderberger Straße. Gerade wir, wir hätten es wissen müssen, fürchten müssen: Schließlich war auf Ulbrichts Lügen immer schon Verlass. Ich bin am Morgen des 13. August früh raus, um mir drüben, auf der Westseite am Zeitungskiosk im französischen Sektor, meinen Sonntags-Tagesspiegel zu holen, Monatsabonnement für Ostberliner Selbstabholer 6 Mark Ost. Da stehe ich Strelitzer Straße, Ecke Bernauer – und sehe es: Stacheldraht ausgerollt kniehoch auf Ostberliner Seite. Menschenansammlungen diesseits, jenseits. Im Osten die „bewaffneten Organe“, drohend postiert vor den erregten Anwohnern. Auch im Westen – fassungslos die Berliner.
Doch in unsere Köpfe gerät nicht an diesem Morgen die große Kalte-Kriegs-Politik (Washington-Moskau, Bonn-Pankow), sondern wir fragen uns: Was wird heute, an diesem Sonntag, und was wird morgen, am Montag? Die Eltern auf der anderen Seite, sie erwarten Tochter und Schwiegersohn zum Mittagessen, Oma und Opa aus der Rheinsberger wollen mit den Enkeln aus der Hussitenstraße spazieren gehen im Humboldthain, andere im Vox-Kino den neuen Caterina-Valente-Film sehen, nachmittags der Besuch im Hedwigskrankenhaus oder abends das Hertha-Spiel am Gesundbrunnen.
Der Stacheldraht Sonntagfrüh – vom Osten eine der üblichen Schikanen nur: Wir kennen das aus den letzten Jahren: Wasser darf nicht mehr fließen von West nach Ost, Telefon wird gekappt, Strom unterbrochen, West-Berlinern wird der Zugang in die „Zone“ verwehrt, Straßenbahnen fahren nicht mehr über die Sektorengrenze, später dann das Auslandsporto auf den Briefen von der Ackerstraße 43 in die Ackerstraße 45. Und die Abriegelung des Ostsektors von den Westsektoren – die haben wir auch schon zweimal erlebt. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 stehen die sowjetischen T 34-Panzer hier in den Verbindungsstraßen Ost West (Strelitzer Straße, Brunnenstraße), stehen mit laufenden Motoren, Gedröhn und Gestank. Für zwei, drei Tage gelangen wir Ostbewohner der Bernauer Straße nicht in unseren eigenen Sektor.
Und kaum einer erinnert sich oder weiß davon, dass Walter Ulbricht Anfang September 1960 nach dem Tod des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck ebenfalls die innerstädtische Grenze sperren lässt für einige Tage. Dicke Baumstämme liegen plötzlich diagonal über den Straßen, angeschrägt eingeteert, damit wenigstens die Alliierten passieren können. Ulbricht hat sich zum Staatsratsvorsitzenden hochgeputscht und fürchtet größere Fluchtbewegungen der aufgeschreckten Bevölkerung.
Wechselbad der Gefühle und Erkenntnisse. Ja, lange Jahre diese trügerische Gewissheit, diese ständig angefochtene Hoffnung: Wir sind eine Stadt, wir bleiben eine Stadt. Sind wir es wirklich, bleiben wir es wirklich? Und mit einem Schlag die schreckliche Erfahrung: Nein, wir sind es nicht mehr. Tatsächlich eine Mauer.
Die ersten Hohlblocksteine sehe ich am Dienstag, 15. August, in der Ackerstraße. Dann werden Fenster und Türen vermauert, zunächst nur ebenerdig. Die Wohnung meiner Nachbarin und Freundin Regine Sonnabend, 19. August. Unser Pfarrgrundstück, Kirche und Gemeindehäuser, Montagfrüh, 21. August. Meinen Bruder Herbert, Kantor und Organist an Versöhnung, später am Berliner Dom, ihn können wir gerade noch in Empfang nehmen über die ersten Steinreihen hinweg. Die Maurer haben auf unsere Bitte hin eine Lücke gelassen. Alle Zeit der Welt hat sich der Bruder gegönnt, kommt seelenruhig und braungebrannt von seinem illegalen Westurlaub am Lago di Como. Von dort hat er uns noch wissen lassen: „So schlimm wird’s schon nicht sein bei euch.“
Doch – es kommt so schlimm: Die Mauer wächst – und mit ihr wachsen Enttäuschung und Ratlosigkeit. Wo bleiben die „Schutzmächte“, die Amerikaner, Engländer, Franzosen? Kennedy schickt seinen Vize Lyndon B. Johnson. Ich höre ihn selber noch auf dem Rudolf-Wilde-Platz vor dem Rathaus Schöneberg: „Euch, ihr tapferen West-Berliner, euch garantieren wir Freiheit und Selbstbestimmungsrecht.“ Nicht der Rede wert sind wir Ost-Berliner.
Bis Ende Oktober leben wir hier auf dem Pfarrgrundstück, leben recht und schlecht hinter der hochgezogenen Mauer. Nachts schallt von der anderen Seite das Rias-Studio am Stacheldraht, dröhnen die Sprechchöre: „Die Mauer muss weg. Die Mauer muss weg.“ Bald wird es heißen: „Mit der Mauer leben.“ Oder gar: „Wandel durch Annäherung.“ Wechselbad der Gefühle und Erkenntnisse. In jedem Fall aber: Keine Zeit zu verlieren – es ist fünf vor zwölf. Unser Rausschmiss am 26. Oktober 1961. Ich glaube, wir sind die letzten Anwohner hier, die die Bernauer Straße verlassen müssen. Und wir haben es vergleichsweise gut. Uns wird Zeit gelassen am helllichten Tage. In den Wochen zuvor haben regelrechte Vertreibungen stattgefunden, zu mitternächtlicher Stunde oder in aller Herrgottsfrühe, in Stundenfrist – Verschleppungen geradezu, niemand weiß, wohin es geht. Suizide sind die Folge, verfehlte Stürze in Sprungtücher der Westberliner Polizei und Feuerwehr, Nervenzusammenbrüche.
Die Kirchturmuhr 1961 auf fünf vor zwölf gestellt
Unsägliche Wut packt mich am letzten Tag. Weggejagt von zu Hause! Wenigstens Spuren hinterlassen. Turmuhrenwart bin ich. Mein Bruder Johannes, später langjähriger Pfarrer der benachbarten Sophiengemeinde, er ermutigt mich. Ich rauf auf unseren Kirchturm, über die Glocken hinaus – und stelle alle vier Uhren rundum auf fünf vor zwölf. Keine Zeit mehr zu verlieren! Vergesst uns nicht! Pathos eines Zweiundzwanzigjährigen. Gewiss. Doch mehr noch: Notwehr. Hat sie geholfen? Kirche und Turm sind knapp zweieinhalb Jahrzehnte später dem Erdboden gleichgemacht worden – im SED-Sprech: „Gemäß Maßnahmeplan zur Durchführung von baulichen Maßnahmen für die Erhöhung von Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit an der Staatsgrenze zu Berlin-West.“ Zu Deutsch: Für ein freies Sicht- und Schussfeld.
Geblieben sind die Glocken, die Christus-Skulptur, sie steht jetzt vor der Gethsemanekirche, geblieben auch die Kirchturmuhr, die in Erinnerung an die Einweihung der Versöhnungskirche vor nunmehr 125 Jahren ihren Platz finden wird Ende dieses Monats in der Diakonie Deutschland / Brot für die Welt, einige hundert Meter entfernt von uns, neu zum Leben erweckt, sichtbar und hörbar für die Mitmenschen aller Erdteile. Geblieben sind Schutt und Mauerreste, aus denen unsere kleine Kapelle der Versöhnung herausgewachsen ist. Wir danken sie Manfred Fischer, dem Pfarrherrn und Bauherrn.
Und geblieben ist uns das Kreuz, von Friedhofsarbeitern geborgen nach der Turmsprengung. Gekrümmt und verbogen – nicht siegreich, nicht triumphalistisch. Sein Anblick ruft für mich immer wieder zurück wunderbare Erinnerungen an das friedvolle Zusammenleben der Ost-West-Versöhnungsgemeinde, doch lässt es mich auch denken – und dies nicht nur an Jahrestagen wie dem heutigen – denken an böse Geschichten, hier und anderswo an der Berliner Mauer, an der innerdeutschen Grenze. Ja, die tödlichen Fensterstürze, die Flüchtlingsmorde. Es beginnt mit Ida Siekmann und Günter Litfin und findet sein schlimmes Ende mit Chris Gueffroy und Winfried Freudenberg. Soweit ich unterrichtet bin, sind allein in dieser meiner Straße acht Frauen und Männer bei ihren Fluchtversuchen ums Leben gekommen.
Schicksalsstraße – Bernauer Straße: Ein heilsames Wechselbad der Gefühle und Erkenntnisse. Überlebensnotwendig geblieben sind seit jenen Jahren: das hellwache Beobachten, das Prüfen und Bewerten, das Aufbegehren, das Zeichengeben. Und ich danke Gott, dass es meiner Frau Regine und mir gelungen ist, dies auch unseren Kindern und Enkeln zu vermitteln.
"2019 neue Hohlblocksteine für geschlossene Gesellschaften"
Ich weiß, die unsichtbaren Mauern der Welt unserer Tage sind oft perfider als die sichtbare Mauer aus Stein, die hier errichtet wurde – hinterhältiger, niederträchtiger. Viele von uns, die wir die DDR nicht einfach nur eben mal ausgehalten haben in den 28 Jahren der Gefangennahme, sondern die dem Ulbricht-Honecker-Staat eigene Ansprüche entgegengestellt haben, unvollkommen, maßvoll, auch furchtsam – viele von uns sind über 1989/90 hinaus hellwach geblieben. Und daran darf sich nichts ändern.
Es gilt Augen, Ohren weit aufzusperren, zu urteilen, standzuhalten, ja, sich selber in die Gefahrenzone zu wagen: Gegen Judenhass, gegen Fremdenhetze, gegen die Geltungssucht der Fundamentalisten, seien es islamische oder christliche, gegen alles, wirklich alles, was für sich den Alleinvertretungsanspruch erhebt, die religiöse Überlegenheit, die nationale, die ethnische Dominanz, sogar die völkisch-genetische. Schauen wir uns um, wie in unserem Deutschland des Jahres 2019 neue Hohlblocksteine aufgerichtet werden für geschlossene Gesellschaften, unverfroren Schicht für Schicht für die Mauer einer scheinbar bequemen Alternative zur tatsächlich unbequemen Demokratie.
Nicht hereinfallen dürfen wir diesmal auf die neue Lüge – diese: „Niemand hat die Absicht, die Menschenwürde anzutasten.“ Und ob! Dieses mörderische Werk nimmt bereits Gestalt an, scheußliche Gestalt: in Wort, Bild und Tat.
Lassen Sie mich schließen mit einem Predigtsatz meines Vaters, Helmut Hildebrandt; er war Pfarrer hier von 1950 bis 1961. Es existiert eine Tonbandaufnahme vom letzten Kirchweihgottesdienst am 3. September 1961 – „ein Zeitdokument inmitten aller Erschütterungen“, so hat mein Vater den Mitschnitt beschriftet. Gleichwohl findet er tröstliche Worte wenige Wochen nach dem DDR-Mauerbau und wenige Wochen vor dem allerletzten Gottesdienst im Todesstreifen. Er sagt:
„Wenn unsere Kirche eine Brücke gewesen ist, eine Brücke der Versöhnung bis zum heutigen Tag, von hüben nach drüben, dann bleibt sie es trotz Mauer auch weiterhin mit ihrem Glockengeläut, mit ihrer Verkündigung, mit ihrem Orgelspiel.“
Und ich will meinen Vater ergänzen: Sie bleibt es weit über den Mauerfall hinaus – einerseits als Zeichen hoffnungsvoller Versöhnung, das heißt Überwindung von viel Unrecht, das entlang dieser Mauer geschehen ist in den Jahrzehnten der Teilung, das heißt aber auch als Zeichen hoffnungsvoller Versöhnung, Überwindung von viel Unrecht, das uns heute auseinanderzureißen droht. Ich denke, das ist die Geschichte dieser Kirche, dieser Straße – eine Geschichte, die Mut fordert, eine Geschichte, die Mut gibt. So bleibt es ein für allemal unsere Sache, einzig unsere Sache, uns nicht gefangenen nehmen zu lassen, uns nicht zerreißen zu lassen.
Ergänzender Ausstellungs-Hinweis:
Was wäre, wenn die Mauer heute wieder neu errichtet würde, mitten in Berlin? 30 Bildmontagen, die das simulieren, präsentiert das Deutschland Archiv (DA) der bpb vom 9. bis 30. November 2019 in einer Ausstellung „Die Mauer. Sie steht wieder!“ im Lichthof Ost der Berliner Humboldt-Universität. Damit erinnert das Externer Link: Deutschland Archiv 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer an die Grenze, die die Stadt über 28 Jahre lang teilte.
Gezeigt werden 30 Bildmontagen von Alexander Kupsch, die aus historischen Aufnahmen der Berliner Mauer der Polizeihistorischen Sammlung Berlin und aus aktuellen Fotos derselben Orte collagiert wurden. Hier erfahren Sie mehr zur geplanten Ausstellung „Die Mauer. Sie steht wieder!“
Weitere Textangebote der bpb:
- Mehr zum Thema in der Externer Link: Chronik der Mauer der bpb
- Aktuelle Debatte:
- Stasi-Filme über die Mauer
Publizist, Lektor und Hörfunkjournalist, Mitbegründer des Ostdeutschen Rundfunks Brandenburg (ORB) 1990.
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