2017 präsentierte der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin eine Studie über 327 Tote an der innerdeutschen Grenze, seien es Flüchtlinge, Grenzer oder Suizidfälle. Die Zählweise hat Widerspruch hervorgerufen. In der nachfolgenden Buchkritik fasst der Historiker Michael Kubina seine Sicht zusammen.
Im November 2018 machte ein rbb-Bericht der Journalistin Gabi Probst auf aus ihrer Sicht fragwürdige Fälle in der Studie von Klaus Schroeder und Jochen Staadt über die „Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze“ aufmerksam. Weder aus Politik noch aus der Wissenschaft war bis dahin Kritik an dieser Studie zu hören gewesen.
Die seit der Veröffentlichung der Studie im Sommer 2017 von Politik und Medien verbreitete, nun vermeintlich wissenschaftlich gesicherte Zahl von 327 Menschen, die von 1949 bis 1989 an der innerdeutschen Grenze zu Tode gekommen sein sollten, war plötzlich in Frage gestellt. Die Bundeszentrale für politische Bildung nahm die Studie, die sie bereits kurz nach ihrem Erscheinen in ihr Programm genommen hatte, vorübergehend aus ihrem Angebot. Im April 2019 relativierte die Kulturstaatsministerin Monika Grütters schließlich die bis dahin verbreitete Zahl von 327 aus dem Handbuch von Schroeder und Staadt. Bei einer Rede am 9. April 2019 auf einer Diskussionsveranstaltung zum 30. Jahrestag der Aufhebung des Schießbefehls an der DDR-Grenze nahm sie die Kritik an der Studie auf und sagte wörtlich:
„Betonen will ich aber auch: Selbst wenn man alle strittigen Opfer abzieht, kommen zu den 138 Toten an der Berliner Mauer mindestens 140 Menschen, die im Vergleichszeitraum zwischen 1961 und 1989 an der innerdeutschen Grenze ihre Leben verloren. Und über ihr Schicksal […] wissen wir durch die Studie von Schroeder und Staadt erheblich mehr als zuvor. Bleibt die Frage, ob es gute, wissenschaftlich fundierte Gründe für die von Schroeder und Staadt gewählten Opferkategorien gibt: Dies abschließend zu beurteilen, ist weder Aufgabe noch Kompetenz der Politik. Forschung und Wissenschaft sind frei - und deshalb muss auch die fachliche Auseinandersetzung mit den Ergebnissen freier Forschung der Wissenschaft überlassen bleiben“.
Gegenstände der Kritik sind die Frage, was unter einem „kausalen Zusammenhang“ mit dem Grenzregime zu verstehen ist, die Einbeziehung von Selbstmordfällen von Grenzern und Todesopfern vor dem Mauerbau sowie von neun in Moskau hingerichteten Menschen.
„Fragwürdig ist“, sagte die Kulturstaatsministerin hierzu in ihrer Rede, „die Einbeziehung der an der innerdeutschen Grenze Getöteten vor 1961, weil vor der endgültigen Abriegelung der Sperranlagen auch Schmuggel oder blanker Hunger die Gründe sein konnten, die Zonen- und spätere DDR-Grenze zu überqueren“.
Die Rede verdeutlichte auch, dass die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (BKM) die Verhältnisse vor dem Mauerbau nicht mehr mit denen nach dem 13. August 1961 für kompatibel hält. Offenkundig schließt sie zudem alle von Schroeder/Staadt in deren Fallgruppen B, C und D aufgenommenen Opfer aus. Das sind (S. 16 f.) B („Todesfälle in Ausübung des Grenzdienstes“; S. 449-500), C („im kausalem Zusammenhang des DDR-Grenzregimes“; S. 501-528) und D („Suizide in den Grenztruppen“; S. 529-580).
Die Kritik an der Studie macht sich im Wesentlichen an drei Fallgruppen fest: den Todesopfern vor dem Mauerbau sowie jenen in den erwähnten Fallgruppen C und D bei Schroeder/Staadt. Es ist eine komplizierte und sensible Materie, deren Probleme hier nur angerissen werden können.
Mauer und innerdeutsche Grenze als Unterdrückungssymbol
Innerdeutsche Grenze und Berliner Mauer sind ein Symbol des Kalten Krieges und stehen für die Unterdrückung des Freiheitswillens von Menschen „hinter dem Eisernen Vorhang“. Jene Menschen, die beim Versuch, diese Grenze in Richtung Westen zu überwinden, zu Tode kamen, machten die existentielle Bedeutung dieser Grenze jedem deutlich und indizierten die fehlende Legitimation der Herrschenden, die die Bewohner des ostdeutschen Teilstaates DDR nur mit einer Gefängnismauer am Weglaufen hindern konnten.
Zweck der vom BKM unterstützten Studie war, neben der Feststellung einer wissenschaftlich gesicherten (Mindest-)Zahl, nicht zuletzt auch, wie es die Herausgeber im Vorwort zu Recht schreiben, „zur Erinnerung an die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Landgrenze“ beizutragen. Viele der überwiegend jungen Flüchtlinge aus der DDR hätten sich „bewusst für den gefahrvollen Weg in die Freiheit und gegen die SED-Diktatur [entschieden], die ihnen eine selbstbestimmte Zukunft verwehrte“. Ihnen gebühre „ein ehrendes Gedenken“ (Vorwort, S.7).
Wie schon bei der Vorgängerstudie von Hans Hermann Hertle und Maria Nooke zu den Todesopfern an der Berliner Mauer war auch hier klar, dass es zahlreiche Todesfälle geben würde, die nicht mit der Entscheidung „für den gefahrvollen Weg in die Freiheit und gegen die SED-Diktatur“, nicht mit einem Fluchtversuch in Zusammenhang standen. Um die Vergleichbarkeit der Zahlen zu gewährleisten, sollten die von Hertle/Nooke für die Berliner Mauer aufgestellten Erfassungskategorien sinngemäß auch für die innerdeutsche Grenze übernommen werden. Allerdings war bei dieser Vorgabe nicht hinreichend bedacht worden, was sich aus den unterschiedlichen Untersuchungszeiträumen für die Frage der Vergleichbarkeit der Fälle ergab. In den 1950er Jahren war nämlich der Zweck des Grenzregimes nicht oder lange nicht primär die Fluchtverhinderung um nahezu jeden Preis. Erst nach dem Mauerbau waren praktisch alle Todesfälle im unmittelbaren Grenzraum – egal ob Flucht oder nicht - auf den in dieser Zeit primären Zweck dieses Grenzregimes zurückzuführen, nämlich nahezu um jedem Preis eine Flucht von Ost nach West zu verhindern.
„Grenzgänger“
Damit sind wir bei der ersten Gruppe von Todesopfern, deren Aufnahme bzw. undifferenzierte Aufnahme in der Kritik steht, den sogenannten „Grenzgängern“, also Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen (von gewerbsmäßigem Schmuggel, über „Gewohnheitsrechte“ bis zu einem verweigerten Interzonenpass) die Grenze illegal in beide Richtungen überquerten, Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre zu Hunderttausenden Monat für Monat.
Die Verhältnisse vor und nach 1961 unterschieden sich also deutlich. So gab es nach dem Mauerbau z.B. weder in Berlin noch an der innerdeutschen Grenze einen solchen massenhaften, grenzüberschreitenden Verkehr in beide Richtungen und auch keinen Schmuggel, da die einstige „Demarkationslinie“ zur Systemgrenze und einer wirklichen „Todeszone“ geworden war. Zielsetzung und Ausgestaltung des Grenzregimes unterschieden sich stark. Nach 1961 zielte es fast ausschließlich auf die Verhinderung von „Republikflucht“, und die Grenze war nur unter Lebensgefahr überwindbar. Vor 1961 war die Grenze, wenn auch abnehmend im Laufe der 1950er Jahre, durchlässig und wurde jährlich von vielen Hunderttausenden legal und illegal in beide Richtungen überschritten. Das Grenzregime zielte zunächst auf das, was an allen Grenzen der Zweck ist: die Kontrolle des grenzüberschreitenden Personen- und v.a. auch Warenverkehrs, also auf die Verhinderung von Schmuggel.
Dies zeigen nicht zuletzt auch die tatsächlichen Opferfälle in den Studien über die Zeit vor dem Mauerbau, unter denen es kaum „Republikfluchtfälle“ gegeben hat. Zudem wurden nicht nur „Grenzgänger“ in Ost-West-Richtung, sondern genauso in West-Ost-Richtung zu Opfern. Schroeder/Staadt erwähnen in ihrer Einleitung auch, dass es sich „bei der überwiegenden Zahl der Todesfälle an der innerdeutschen Grenze in den ersten Jahren nach Gründung der DDR überwiegend um „Grenzgänger“ [handelte], die aus unterschiedlichen Gründen ohne Interzonenpässe die Demarkationslinie zwischen Ost- und Westdeutschland überquerten“ (S.10). Sie erläutern aber nirgends, warum sie diese Fälle, die es nach dem Mauerbau nicht mehr gegeben hat, mit denen gleichstellten, die bei einem Fluchtversuch ums Leben kamen.
Obwohl sich die Verhältnisse und die Opferkategorien deutlich unterscheiden, gibt es in der Studie die Zäsur von 1961 einfach nicht. Man muss selbst zählen, wie viele Todesopfer es bis zum Mauerbau waren und wie viele danach. Nur durch mühsame Auswertung jedes Einzelfalles auf den 418 Seiten der „Fallgruppe A“ („Todesfälle im Grenzgebiet“) kann man feststellen, wer davon ein „Republikflüchtling“ war und wer zum Beispiel ein schlichter „Grenzgänger“ war, zu welchem Zweck auch immer. Auf die Angaben in den Tabellen im Anhang kann man sich leider auch nicht verlassen. Als auf der „Flucht erschossen“ wird hier z.B. auch gezählt, wer nach seiner Festnahme wegen Schmuggels etwa aus sowjetischer Haft floh und dabei erschossen wurde.
Von den gemäß Auszählung 92 zivilen Todesopfern bis zum Mauerbau fallen 62 auf die Zeit bis 1952. Unter diesen 92 waren lediglich 13 mehr oder weniger eindeutige Fluchtfälle. Nimmt man noch einige nach Darstellung in der Studie unklare Fälle hinzu, kommt man auf höchstens 20 Prozent. In der Studie findet sich keine Zahlenangabe, die ausweist, wie viele genuine Fluchtfälle es unter den Todesopfern vor dem Mauerbau gegeben hat, noch sind sie anderweitig gesondert aufgeführt. Zumindest die Zahl der 62 Todesopfer bis 1952, also zwei Drittel aller Fälle in nur einem Viertel des Zeitraumes bis 1961, ist auch vor dem Hintergrund der in dieser Zeit noch völlig unbehinderten millionenfachen Grenzüberschreitungen zu sehen.
Damals gab es pro Jahr Hunderttausende Festnahmen von „Grenzgängern“, meist nur kurzzeitig und ohne Verhängung ernsterer Sanktionen. „Wenn Waffengebrauch erfolgte“, so kann man in einem Standardwerk zur Grenze lesen, aber nicht bei Schroeder/Staadt, „war das bis in die frühen fünfziger Jahre die absolute Ausnahme,“ „ernstzunehmende Hindernisse in Form von Stacheldrahtzäunen“ habe es noch im Sommer 1961 „nur auf einer Länge von 10 Prozent“ der innerdeutschen Grenze“ gegeben.
Zudem: Wie ist zum Beispiel zu bewerten, dass bis Anfang der 1950er Jahre, also in der Zeit, in der auch an der innerdeutschen Grenze die meisten Todesopfer zu beklagen waren, an der westdeutschen Westgrenze vergleichbare Verhältnisse herrschten mit vergleichbaren Todeszahlen? So kam es zwischen 1949 und 1953 beim sogenannten Kaffeekrieg zwischen Schmugglern und Zöllnern im Aachener Raum zu mehr als 20 Toten. Wo an diese Zeiten und Opfer in Westdeutschland erinnert wird, geschieht dies weniger „ehrend“, als leicht nostalgisch unter dem Motto, das seien wilde Nachkriegs- und Besatzungszeiten gewesen, mit Armut, Jugendbanden, schnellem Reichtum und eben auch Todesopfern.
Die Todesfälle unter Schmugglern und anderen „Grenzgängern“ müssen meines Erachtens klar von den tatsächlichen Fluchtfällen unterschieden werden. Hier ging es nicht um Menschenrechtsverletzung, nicht um die Verweigerung von politischer Freiheit und Selbstbestimmung. Zudem war die innerdeutsche Grenze zunächst schlicht eine Demarkationslinie in einem besetzten Land im Ergebnis eines barbarisch geführten und verlorenen Krieges. Die Verhältnisse in Deutschland waren in vielerlei Hinsicht nicht „normal“ und die innerdeutsche Grenze in dieser Zeit auch schlicht Ausdruck dessen.
Umstrittene Todesfälle. Waren auch schon sogenannte Grenzgänger, die vor dem Mauerbau im innerdeutschen Grenzbereich ums Leben kamen, "Opfer des DDR-Grenzregimes"? Hier ein Ausschnitt aus einer Namensliste in der Studie des SED-Forschungsverbunds.
Zugespitzt formuliert, würden wir heute ohne die tragischen „Mauerjahre“ 1961 bis 1989 über die Grenze vor 1961 kaum reden, auch nicht über die Todesfälle, die es an ihr gab, wie an vielen anderen Grenzen auch. In rein formaler und ahistorischer Anwendung der Kriterien für die Aufnahme der Todesfälle an der Berliner Mauer wurden durch Schroeder/Staadt so in großem Maße Schmuggler, kleine private und gewerbsmäßige, schlichte Kriminelle, und einfache Grenzgänger in das Gedenkbuch mit aufgenommen, deren Tod zwar tragisch war und in den meisten Fällen nach heutigen Maßstäben auch unverhältnismäßig, aber nichts mit der Verweigerung von Menschenrechten oder Reisefreiheit zu tun hat. Bis 1961 überquerten etwa 15 Millionen Menschen mit einer offiziellen Reisegenehmigung diese Grenze in Ost-West-Richtung, Hunderttausende blieben danach einfach im Westen, und ca. 120.000 verließen in dieser Zeit Ostdeutschland mit einer legalen Übersiedlungsgenehmigung.
„Kausaler Zusammenhang“ mit dem DDR-Grenzregime?
Schroeder/Staadt haben aber die von Hertle/Nooke für die Berliner Mauer aufgestellten Aufnahmekriterien nicht nur rein formal und ahistorisch auf die Zeit vor dem Mauerbau übertragen, sondern sie auch um völlig neue Opfergruppen erweitert. Kernfrage ist hier, und damit sind wir bei der zweiten umstrittenen Fallgruppe, was unter einem „kausalen Zusammenhang“ eines Todesfalles mit dem spezifischen Grenzregime der DDR zu begreifen ist, also einem Grenzregime, das sich – aber eben wirklich erst seit dem Mauerbau – fundamental, sowohl was die Methoden als auch was die Zielsetzung angeht, von den meisten anderen Grenzen in der damaligen Welt unterschied.
Schroeder/Staadt haben das, was ein „kausaler Zusammenhang“ mit dem DDR-Grenzregime sei, sehr weit gefasst, deutlich weiter als Hertle/Nooke. Ersteren reicht in der Praxis ein irgendwie möglicher Zusammenhang, nicht notwendig ein ursächlicher. „Kausaler Zusammenhang“ bedeutet aber, dass diese Todesfälle, wie auch die noch zu behandelnden Suizide von Grenzern, tatsächlich als spezifische Resultate der institutionellen, administrativen, legislativen und technischen Maßnahmen und Einrichtungen der Grenzsicherung- und Kontrolle zu verstehen sind. So finden sich in der Studie zum Beispiel auch Fälle von in Moskau hingerichteten Menschen. Sie waren von Sowjetischen Militärtribunalen (SMT) wegen damals gängiger Tatbestände wie „Spionage“, „Boykotthetze“ etc. zum Tode verurteilt worden. Der Zusammenhang mit dem „DDR-Grenzregime“ ist hier bestenfalls ein punktueller, zufälliger, aber ganz klar kein „kausaler“, ursächlicher.
Die Fälle können hier nicht alle geschildert werden, nur einige Beispiele: Etwa der westdeutsche Geschäftsmann Hans-Christian Witt, der Mitglied der KPD war (S. 508). Er war im Oktober 1950 legal mit einem PKW geschäftlich in die DDR eingereist. Sieht man von dem Umstand ab, dass er bei seiner Rückreise in den Westen am Grenzübergang zwischen Herrnburg und Lübeck-Eichholz festgenommen wurde, gibt es meines Erachtens überhaupt keinen Zusammenhang mit dem „Grenzregime“. Ihm ist dann anscheinend die Flucht aus der MfS-Dienststelle gelungen. Nach der sofort eingeleiteten Fahndung wurde er nach Schroeder/Staadt „wenig später entdeckt und festgenommen“ und etwa zwei Monate später an die Sowjets übergeben. Von einem SMT „wegen Spionage, antisowjetische Tätigkeit und Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären Organisation“ zum Tode verurteilt, wurde er ein Jahr nach seiner Verhaftung in Moskau hingerichtet - „im kausalen Zusammenhang des DDR-Grenzregimes“?
Oder Julius Zürner (S. 509 f.), Leiter der Dienststelle des Bundesgrenzschutzes (BGS) in Hof. Er wurde offenbar vom MfS als Informant geführt, das ihn als „Gewährsmann von uns bei der westlichen Grenzpolizei“ bezeichnete, geriet dann aber in Verdacht, für die US-Spionageabwehr gearbeitet zu haben. Er wurde am 10. Januar 1952 „an die Freunde übergeben“ und am 8. Juli 1952 von einem Sowjetischen Militärtribunal wegen Spionage etc. zum Tode verurteilt und in Moskau erschossen. Es gibt auch hier meines Erachtens keinerlei Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime. Es ist schlicht ein Fall von Spionage bzw. eines Doppelagenten.
Oder aus späterer Zeit der Fall Dieter Rehn (S. 517 f.). Er war 1964 als Volkspolizist an der Fahndung nach fahnenflüchtigen tschechoslowakischen Grenzsoldaten beteiligt, die in der Nacht vom 14. zum 15. September 1964 in einem entwendeten LKW mit gestohlenen Waffen aus ihrer Kaserne Richtung DDR aufgebrochen waren mit dem Ziel über die DDR in die Bundesrepublik zu fliehen. Der Polizeianwärter Rehn hatte sie am Abend des 18. September bemerkt und wurde von ihnen beim Versuch, sie festzunehmen, erschossen. Dies geschah am Kottmarberg in der Oberlausitz dicht an der DDR-Grenze zur ČSSR, aber ca. 200 km Luftlinie von der innerdeutschen Grenze entfernt, was man bei Schroeder/Staadt nur erkennen kann, wenn man weiß, wo Kottmar liegt.
Kurt Schwerin (S. 518ff.) war Rausschmeißer einer Kneipe in Salzwedel und wurde am 23. Dezember 1967, als sich in dieser Kneipe zwei sowjetische Deserteure ihrer Festnahme durch zwei Volkspolizisten und einen sowjetischen Offizier entziehen wollten, von einem der beiden Deserteure erschossen. Festgenommen wurden sie zwei Tage später in der Nähe von Klein Gartz 12 km von der innerdeutschen Grenze entfernt. Einziger Zusammenhang mit dem Grenzregime ist hier, dass zu vermuten ist, dass die sowjetischen Deserteure planten, sich in den Westen abzusetzen. Inwiefern der Tod des Rausschmeißers in Salzwedel „im kausalen Zusammenhang des DDR-Grenzregimes“ steht, erläutern Schroeder/Staadt nicht. Da jede Fahnenflucht eines sowjetischen Soldaten nur dann Sinn machte, wenn der Fahnenflüchtige sich in den Westen abzusetzen plante, stünde nach Auffassung von Schroeder/Staadt wohl jeder Todesfall infolge einer Amok-Tat eines (sowjetischen) Deserteurs in „kausalem Zusammenhang des DDR-Grenzregimes“.
Auch etwa bei den Fällen von Gerhard Gergau (S. 523 f.) und Klaus Dieter Hebig (S. 526 f.) aus den 1980er Jahren ist ein kausaler Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime beim besten Willen nicht zu erkennen. Helmut C. hatte am 14. Januar 1981 in Leipzig einen Soldaten überfallen, Waffen erbeutet und dann versucht, Anwohner unter Waffenandrohung zur Herausgabe ihres Fahrzeuges zu zwingen. Er scheiterte jedoch. Als sich ihm eine Funkstreife näherte, eröffnete er das Feuer und verletze den Volkspolizisten Gergau tödlich. Der Täter wollte am Flugplatz Schkeuditz ein Flugzeug kapern und die Besatzung zum Flug in die Bundesrepublik zwingen.
Der Eisenacher Klaus-Dieter Hebig wurde am 6. März 1984 auf dem nächtlichen Rückweg von einer Faschingsfeier in Eisenach von einem angetrunkenen Unterfeldwebel des Grenzausbildungsregiments Eisenach erschossen, der unerlaubt mit seiner Dienstwaffe die Kaserne über einen Zaun verlassen hatte. Der Täter stürmte anschließend noch das örtliche Kulturhaus und konnte dort von den Gästen überwältigt werden.
Suizide von Grenzern
Interessanterweise sprechen Schroeder/Staadt bei den 43 von ihnen aufgeführten Suiziden nicht von einem „kausalen Zusammenhang“ mit dem DDR-Grenzregime, sondern bieten stattdessen gleich mehrere alternative Formulierungen als Aufnahmekriterium an. Zunächst sprechen sie von „dienstliche[n] Ursachen dieser Selbsttötungen“ (S. 529), dann heißt es, aufgenommen wurden die Fälle, in denen es „Hinweise auf dienstliche Probleme, wie Angst vor Bestrafung oder Maßregelungen, Widerwillen gegen den Kadavergehorsam, die tägliche Vergatterung zum Schießen auf Flüchtlinge und weitere Zumutungen des Grenzdienstes“ gegeben habe (S. 533). Zum Ende der Einleitung folgt dann die dritte Variante der Umschreibung der Suizidumstände, die aus Sicht des Autorenteams Voraussetzung für die Aufnahme in dieses Buch waren: "Maßgeblich“ seien „Hinweise auf einen möglichen [sic!] Zusammenhang des jeweiligen Todesfalls mit dem dienstlichen Alltag und den damit verbundenen Zwangslagen und Gewissensnöten" gewesen (S. 535).
Liest man nur diese Aufnahmekriterien, ohne sich die Einzelfälle anzusehen, ist man vielleicht geneigt, Schroeder/Staadt noch zu folgen. Leider findet sich aber z.B. kein Fall, wo „die tägliche Vergatterung zum Schießen auf Flüchtlinge“ als Ursache des Suizides erscheint. Unter den 43 Suiziden ist mit Frank Bretfeld (S. 562 f.) nur ein Fall, bei dem tatsächlich mit dem Grenzregime in Zusammenhang stehende „Gewissensnöte“ ausschlaggebend gewesen sein könnten. In den anderen Fällen stehen meist eindeutig individuell-psychische Dispositionen, oft verbunden mit Alkoholproblemen im Hintergrund, und als Auslöser sind private und/oder dienstliche Probleme zu sehen, wie sie mehr oder weniger überall in der DDR oder der NVA auftreten konnten, und eben zumeist gerade keine spezifisch mit dem Grenzregime verbundenen.
Zudem sind es nicht etwa nur gewöhnliche Wehrpflichtige, sondern oft Unteroffiziere und Offiziere und/oder Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, sogar ein Kompaniechef ist unter den „Grenzopfern“, also Grenzer, die dort aus eigenem Entschluss ihren Dienst versahen. Sie waren wesentlicher Teil des Grenzregimes, aber nicht dessen Opfer.
Hier kann nicht auf die oft komplizierten Einzelfälle eingegangen werden. Allerdings ergeben sich aus den Darstellungen im Buch bei fast allen Fällen erhebliche Zweifel daran, dass es nachvollziehbare Gründe für die Aufnahme dieser Suizide in das Buch mit den „Todesopfern des DDR-Grenzregimes“ geben könnte. Vielmehr erscheint die Aufnahme teilweise als geradezu skandalös und respektlos gegenüber den tatsächlichen Opferfällen. Allein wenn man sich nur die ersten sechs im Buch aufgeführten Fälle aus den Jahren 1949 bis 1955 ansieht (S. 535 ff.), bleibt vollkommen rätselhaft, was die Herausgeber zur Aufnahme dieser Fälle selbst unter Berücksichtigung ihrer eigenen Fallgruppendefinition(en) bewogen haben könnte.
Einen tatsächlichen, kausalen Zusammenhang mit dem Grenzregime gibt es beim Fall von Manfred Krause (S.538 f.). Krause als Postenführer hatte sich entschlossen, sich mit dem ihn begleitenden Gefreiten während ihres Postendienstes der Pilzsuche zu widmen. Dabei verloren sie sich aus den Augen. Krause erschoss sich schließlich offenbar aus Angst vor Bestrafung und hinterließ einen Abschiedsbrief: „Ich nehme an, daß der Genosse Ganzenberg desertiert ist. Ich weiß, was für Strafe für Beihilfe zur Desertion ausgesprochen wird und sehe deshalb keinen anderen Weg. Ich warne die Genossen vor solchen leichtfertigen Handlungen während der Streife.“ Letztlich hat sich Krause also das Leben genommen, weil er eine (vermeintliche) Flucht nicht verhindert hat. Meines Erachtens entbehrt es jeglichen Sinns, einen Fall wie diesen als „Todesopfer des DDR-Grenzregimes“ aufzunehmen.
Um noch einen, besonders abwegigen Fall zu nennen: Bodo Panke (S. 560 f.) hat sich nach einem Streit mit seiner Frau auf dem häuslichen Dachboden erhängt. Die primär privaten Hintergründe dieses Suizides sind nach Darstellung im Buch und noch mehr nach Kenntnis der Akten offenkundig. Der bereits länger andauernde Ehekonflikt hatte in den Tagen zuvor eine neue Dynamik bekommen. Die Familie war Pilze suchen mit Besuch aus Kanada. Zum Besuch aus Kanada gehörte ein 19-jähriges Mädchen. Irgendwann suchte die Familie nicht mehr Pilze, sondern Bodo Panke und die Besucherin. Offenbar ergab sich in Zeiten vermeintlicher ehelicher Wiederversöhnung ein unpassender außerehelicher Kontakt und somit auch ein verbotener „Westkontakt“, der, würde er bekannt, dem jungen Leutnant Panke sehr wahrscheinlich Probleme bereiten würde. Für den in diesem Fall alleinigen Rechercheur und Autor Staadt ist dies ein Suizid aus Angst vor den dienstlichen Konsequenzen dieses ganz speziellen „Westkontaktes“. Dementsprechend zitiert er aus einem MfS-Bericht, in dem es heißt, dass sich Panke „zur Selbsttötung entschloss, da er familiär zum wiederholten Male gescheitert war und zudem befürchtete, wegen seiner Kontakte zu den kanadischen Staatsbürgern dienstlich zur Verantwortung gezogen zu werden“.
Nach Aktenlage waren meines Erachtens aber ganz klar die privaten Probleme primär für den Suizid verantwortlich (Kurzschluss nach Erniedrigung durch Ehefrau). Aber einmal unterstellt, Staadts Interpretation träfe zu, wonach ausschlaggebend Pankes Sorge gewesen sei, seine Karriere als Grenzoffizier könnte nun beendet sein und in erster Linie aus Verzweiflung über diese möglichen beruflichen Folgen seines „Westkontaktes“ habe er sich erhängt - was bedeutete dies eigentlich? Der Leutnant hätte sich erhängt, weil er fürchtete, keine Chance mehr zu haben, wie geplant, die nächsten Jahre als Offizier der Grenztruppen Menschen, „die sich bewusst für den gefahrvollen Weg in die Freiheit und gegen die SED-Diktatur“ entschieden haben, ihren Weg „in eine selbstbestimmte Zukunft“ zu verwehren. Panke wäre also ein „Todesopfer des DDR-Grenzregimes“, weil er sich aus Kummer darüber erhängte, dass er die nächsten 10 Jahre keine Chance haben würde, Menschen an der Flucht zu hindern, nicht zuletzt dadurch, dass er auf sie schießen würde.
Direkt auf Panke folgt übrigens mit Frank Bretfeld der weiter oben erwähnte, meines Erachtens einzige akzeptable Suizid-Opferfall in diesem Buch, der mit dem DDR-Grenzregime in Verbindung steht. Bredtfeld hatte sich nach Darstellung im Buch am 21. August 1979 erschossen, weil er einerseits am „rauhen militärischen Alltag“, den er in Briefen an seine Eltern erwähnte, verzweifelte und konkret über das Schicksal eines Flüchtlings nicht hinwegkam, dem eine Mine unterhalb der Hüfte „alles zermatscht“ hatte, wie er in zwei Abschiedsbriefen an seinen Vater und seine Freundin schrieb. Der Kontrast zwischen beiden Fällen und den anzunehmenden Suizidmotiven ist eigentlich kaum zu ertragen.
Andere aufgenommene Suizide haben folgende vermeintliche oder tatsächliche Hintergründe: Entlassung aus dem Dienst der Grenzpolizei (Lehning, S. 535), aufgeflogene Beteiligung an Schmuggelaktivitäten (Wojcik, S. 536), „angedrohte“ Konsequenzen „eines Dienstvergehens“ (Jaskowitz, S. 535), angeblich wegen Schlafens im Dienst (Beck, S. 535; ähnlich Ziebold, S. 540), Verursachung eines „leichten Sachschadens“ durch einen KfZ-Fahrer (Schiller, S. 537), Aufforderungen eines Vorgesetzten, eine Beziehung zu beenden, da die Dame „einen unmoralischen Lebenswandel“ führe (Gültner, S. 537), Kritik eines Vorgesetzten an der eigenmächtigen Verlängerung der „Erlaubnis, für zehn Minuten die Dienststelle verlassen zu dürfen, um Zigaretten zu holen“ (Knauer, S. 539), aufgeflogener Diebstahl (Peters, S. 540), Munitionsdiebstahl für Silvesterböller (Blume, S. 541), Beschimpfungen der Standortstreife in betrunkenem Zustand (Schwenzer, S. 543) usw. usf. Später kommen noch etliche Fälle mit eindeutig privatem Hintergrund (Alkohol, Beziehungsprobleme, psychische Labilität u.ä.). Möglicherweise ist der eine oder andere Opfer fehlender Rechtsstaatlichkeit oder psychologischer Betreuung oder insgesamt repressiver Strukturen in der DDR bzw. in deren „bewaffneten Organen“ insgesamt. Mit Ausnahme des Falles Bretfeld müssen meines Erachtens aber alle Suizidfälle überprüft werden.
So, wie sie in der Studie dargestellt sind, können sie unter Berücksichtigung sachgemäßer Kriterien nicht als Todesopfer speziell des DDR-Grenzregimes gelten. Wenn Fälle wie die des oben genannten Postenführers Manfred Krause oder Bodo Panke aufgenommen blieben, würde dies bedeuten, dass jemand als „Todesopfer des DDR-Grenzregimes“ zu gelten habe, der Selbstmord begangen hat, weil er durch sein leichtfertiges Verhalten (vermeintlich) eine Flucht ermöglicht hat, oder, wie Panke, fortan nicht mehr würde auf Flüchtende schießen können.
"Steilvorlage für Apologeten der SED-Diktatur"
So, wie die Studie sich jetzt darstellt, ist sie meines Erachtens eine Steilvorlage für einen „Revisionismus“ und für Apologeten der SED-Diktatur. Zudem droht die Glaubwürdigkeit der Träger politischer Bildung untergraben zu werden, wenn deren Zielgruppe erkennt, in welcher Weise hier „Opfer“ des DDR-Grenzregimes definiert und so Zahlen nach oben gedrückt wurden. Anhand einer Ausstellung („An der Grenze erschossen“) und ihrer gleichnamigen Begleitbroschüre zu den Todesopfern im Bereich der Grenze zwischen dem heutigen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen, die auf die Ergebnisse der Schroeder/Staadt-Studie aufbaut und die Opfergruppen jetzt noch einmal ausweitet, sogar bis ins Jahr 1945, ist zu sehen, wie schnell solche Ergebnisse ihren Weg in die politische Bildung finden.
Wie wird wohl die Reaktion der Zielgruppe (vor allem junge Menschen) sein, wenn sie feststellen, dass es sich bei den meisten der aufgeführten Todesopfern vor dem Mauerbau eben nicht um „Republikflüchtige“ handelt, dass diesen Toten Hunderttausende gegenüberstehen, die in dieser Zeit weitgehend unbehelligt die Grenze überquerten, dass zur selben Zeit unter ähnlichen Bedingungen auch an der westdeutschen Außengrenze auf Schmuggler, die versuchten, sich einer Verhaftung zu entziehen, geschossen wurde und auch Todesopfer zu beklagen waren? Todesopfer des gleichzeitigen „BRD-Grenzregimes“, deren niemand „ehrend“ gedenkt. Die Todesopfer der Schroeder/Staadt-Studie, und auch der noch kommenden Studien zu den Todesopfern an der Ostsee und an den Westgrenzen der Ostblockstaaten, zu denen gerade vom Forschungsministerium geförderte Projekte laufen, unter anderem auch wieder unter der Leitung von Schroeder und Staadt, müssen klar historisch kontextualisiert und differenziert erfasst werden, die statistischen Angaben müssen kompatibel sein.
Die bloße Zahl der Todesopfer ist wissenschaftlich relativ unerheblich, sagt sie doch kaum etwas über den Charakter des Regimes. Es waren ja insgesamt nur deshalb so relativ wenig, weil die Menschen zu Mauerzeiten zu Zigtausenden bereits im Vorfeld verhaftet wurden. Wenn eine solche Zahl aber genannt wird, muss sie wissenschaftlich gesichert sein, also auf nachvollziehbaren und sachgemäßen Kriterien beruhen.
Zitierweise: "Wer war Opfer des Grenzregimes? Eine andere Sicht“, Michael Kubina, in: Deutschland Archiv, 13.8.2019, Link: www.bpb.de/295024
Studium der Theologie in Ost-Berlin sowie der Ost- und Südosteuropäischen Geschichte, Politikwissenschaft und Slawistik an der Freien Universität in West-Berlin, 2000 Promotion, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund SED-Staat der FU Berlin (und 2000-2012 Redakteur von dessen Zeitschrift), an der Gedenkstätte Hohenschönhausen, im Bundesarchiv und im Institut für Zeitgeschichte. Anfangs Mitarbeit in der Forschungsgruppe, die das Buch „Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes…“ erstellt hat, seitdem freischaffend
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