Vor 30 Jahren: Das Loch im Eisernen Vorhang
Wie Ungarn den Mauerfall einleitete
Andreas Förster
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Ohne großes Aufsehen wurde ab Mai 1989 in Ungarn der Grenzzaun nach Österreich entfernt. Der Eiserne Vorhang als Symbol des Kalten Krieges verlor seine Funktion. In der Folge flohen mehrere Tausend DDR-Bürgerinnen und Bürger via Ungarn in den Westen. Dies forcierte den Niedergang der DDR. Eine Spurensuche von Andreas Förster.
Es hat die ganze Nacht hindurch geregnet in Sopron. Seit dem Morgen scheint wieder die Sonne, aber die Waldwege in der ungarischen Grenzstadt sind vom Regen noch aufgeweicht. László Nagy, der vor drei Jahrzehnten der politischen Opposition in Ungarn angehörte und Weltgeschichte schrieb, was noch zu erzählen sein wird, stört das nicht. Unbeirrt stapft der 61-Jährige nun schon seit einer halben Stunde durch den Wald und sucht das Denkmal.
„Hier muss es doch irgendwo sein“, sagt er, und es klingt inzwischen doch ein wenig genervt. „Die hohen Herrschaften wollten doch nicht so weit in den Wald laufen für das Foto und sich die Schuhe schmutzig machen.“ Nagy blickt nach unten, deutet auf unsere lehmverschmierten Schuhe. „Das haben wir schon mal nicht hinbekommen“, sagt er und lacht.
Es kann beschwerlich werden, Orten und Menschen auf die Spur zu kommen, die Geschichte geschrieben haben. Weil die Orte sich verändern und ihre Authentizität verlieren; und weil es unter den Menschen Handelnde gibt und solche, die der Windhauch der Geschichte nur umweht und doch ein Leben lang geprägt hat. Auf all das stieß ich auf einer Reise durch das ungarisch-österreichische Grenzgebiet, wo vor 30 Jahren mit dem Abbau der Grenzanlagen das erste Loch in den bis dahin so ehern scheinenden Eisernen Vorhang geschnitten wurde.
Ein Ort des Gedenkens
László Nagy hat inzwischen einen Freund in der Stadtverwaltung von Sopron angerufen. Da kein Schild an der nahen Straße und im Wald den Weg zum Denkmal weist, muss der Freund uns nun per Handy lotsen. Es funktioniert. Plötzlich öffnet sich der Wald, und auf einer kleinen Lichtung erblicken wir einen mannshohen Obelisken. Ein schmuckloser viereckiger Granitblock, an dem drei schwarze Tafeln in ungarischer und deutscher Sprache befestigt sind. „An dieser Stelle durchschnitten am 27. Juni 1989 die Außenminister Alois Mock für Österreich und Gyula Horn für Ungarn den sogenannten Eisernen Vorhang‘", steht in beiden Sprachen dort geschrieben. Und dass eine daneben stehende neu gepflanzte Linde „an diese bedeutende Tat am Beginn einer historischen Wende“ erinnern soll. Es sei eben ein eher stiller Ort des Gedenkens, bemerkt Nagy trocken. Und offenbar ein beschädigter dazu – auf der vierten Seite des Steins deuten Löcher darauf hin, dass dort etwas angebracht war und entfernt wurde. „Da hing das berühmte Foto mit Horn und Mock, wie sie den Zaun durchschneiden“, erklärt Nagy. Und warum hat man es abgemacht? „Das hat gute Gründe“, sagt er ernst.
Rund 80 Kilometer weiter nördlich in Wien, an der Landstraßer Hauptstraße im 3. Gemeindebezirk, steht Bernhard Holzner in der Tür seines Fotostudios und winkt. Es ist Sonntag, und eigentlich hat sein „Hopi-Media Fotodienst“ an diesem Tag geschlossen. Aber wenn es um den berühmtesten Schnappschuss des einstigen Pressefotografen geht, der natürlich auch in der Auslage seines Geschäfts zu sehen ist, dann sperrt er die Tür ausnahmsweise auf. Holzner – 62 Jahre alt, schlank, großgewachsen, Brillenträger, kurzes graues Haar – ist gut vorbereitet auf das Gespräch mit dem Gast aus Berlin.
Auf dem Schreibtisch seines angenehm unaufgeräumten Ladens liegt eine Mappe mit Auszeichnungen: Goldenes Verdienstkreuz der Republik Ungarn, Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, ein Glückwunschschreiben des ehemaligen österreichischen SPÖ-Bundeskanzlers Werner Faymann an den „lieben Bernhard“. Er habe sich immer als politischer Fotojournalist verstanden, sagt Holzner. „Draufhalten, wenn einem etwas auffällt, nicht wegschauen – das ist meine Maxime. Wir sind doch Journalisten geworden, weil wir etwas bewegen, etwas hinbekommen wollen.“ Deshalb habe es ihn auch immer geärgert, wenn Kollegen Themen und Fotos, die er angeschleppt habe, ignorierten. So sei es auch Anfang Mai 1989 gewesen, als die ungarische Regierung verkündete, sie werde die Grenzanlagen an der rund 360 Kilometer langen Grenze zu Österreich abbauen lassen.
„Ich arbeitete damals für die Nachrichtenagentur AP, als die Meldung über den Ticker kam“, erinnert sich Holzner. Er sei hingefahren, als im Morgengrauen des 2. Mai die ungarischen Soldaten mit dem Abbau begannen. Unweit der grenznahen Städte Hegyeshalom und Sopron beseitigten sie mit Bolzenschneidern und Blechscheren die ersten der häufig in drei, manchmal sogar sechs Reihen stehenden Stacheldrahtverhaue im Vorfeld der eigentlichen Grenze.
Kaum Schlagzeilen im Mai, sondern erst sieben Wochen später
Für die deutschen und österreichischen Tageszeitungen war der Abbau der Grenzsperren damals kein Thema, die Nachrichtenagenturen verbreiteten nur dürre Meldungen darüber. „Meine Fotos wurden von AP erst gar nicht verschickt“, erzählt Holzner, und noch heute merkt man ihm seine Empörung darüber an. „Auch waren außer mir und ein paar ungarischen Militärfotografen keine weiteren Bildberichterstatter vor Ort an jenem 2. Mai. Die haben das alle verschlafen.“
Weil auch in den folgenden Wochen das Loch im Eisernen Vorhang immer größer wurde, ohne dass die Welt das zur Kenntnis nahm, wurde Holzner aktiv. Wenn man seinen Erzählungen glauben will, hat er den österreichischen Außenminister Alois Mock von der ÖVP auf die Idee gebracht, ein Zeichen zu setzen. „Ich hatte damals sehr gute Kontakte zur Presseabteilung des Außenministeriums, und ich habe denen gesagt, ihr müsst was unternehmen, damit die Sache bekannt wird“, erzählt er.
„Mein Vorschlag war, dass Mock und sein ungarischer Amtskollege Horn gemeinsam vor der Weltpresse den Zaun symbolisch zerschneiden.“ Es habe anfangs ziemliche Widerstände in der Wiener Regierung gegeben: Wir können doch nicht etwas zerstören, was wir gar nicht aufgebaut haben, hieß es. Dann aber habe Mock das durchgezogen und Horn angerufen, um ihn zu dem gemeinsamen Fototermin zu überreden. Mitte Juni kam die Zusage aus Budapest.
Am 27. Juni trafen sich die beiden Minister auf ungarischem Gebiet an der Landstraße, die Sopron mit dem österreichischen Grenzort Klingenbach verbindet. Rund zwei Kilometer vor dem Grenzübergang verließen sie ihre Limousinen und gingen ein paar Hundert Meter in den Wald zu der Stelle, wo heute der Obelisk steht.
Dort stand noch ein wenige Meter breiter Abschnitt des alten Stacheldrahtzauns. Angeblich war das Zaunstück für das Foto an dieser Stelle noch einmal aufgebaut worden, was Holzner jedoch vehement bestreitet. „Das Foto war keine Inszenierung, sondern authentisch“, sagt er. Die beiden Politiker hätten sich anfangs „a bisserl bläd“ angestellt mit den Bolzenschneidern, aber dann hatte es geklappt. „Die hatten einen Heidenspaß.“
Fortdauernde Grenzbewachung, aber keine Festnahmen mehr
Was aber viel mehr zählte, war der Effekt der Show. Gut 20 Fernsehteams und Fotografen aus aller Welt waren dabei und hielten den Moment fest. Am Abend dieses Junitags zeigte auch die Tagesschau in der ARD die Bilder aus Sopron. „Und dann ging’s los“, sagt Holzner lapidar. In der DDR verbreitete sich rasend schnell die Legende, dass man dem SED-Staat nun über Ungarn gefahrlos entkommen könne. Viele Familien planten ihren Sommerurlaub um. Was den meisten aber nicht bewusst war – die Grenze nach Österreich wurde trotz des fehlenden Stacheldrahts nach wie vor bewacht. Jedoch lieferten die ungarischen Behörden nun DDR-Bürger, die sie bei einem Fluchtversuch schnappten, nicht mehr wie früher nach Ostberlin aus, sondern ließ sie wieder laufen – Richtung Osten allerdings.
Holzners Foto von den beiden Außenministern, die den Eisernen Vorhang zerschneiden, ist nicht das einzige von diesem Tag und vielleicht noch nicht einmal das beste. Aber es wurde zur Ikone, auch deshalb, weil der Fotograf aus Wien die Aktion auf den Weg gebracht hat. Dass der Termin in Sopron aber vor allem durch politische Absprachen zwischen Wien und Budapest zustande kam, weil er den Interessen beider Regierungen diente, weiß Holzner auch. „Es ist ein tolles Gefühl, solch ein Foto gemacht zu haben, das Weltgeschichte festhält“, sagt er.
Zurück auf die Lichtung im Wald von Sopron, wo Holzners Foto vor 30 Jahren entstand. Warum fehlt denn nun das Bild am Gedenkstein? „Schon zwei Tage, nachdem der Stein enthüllt wurde, hatte es jemand abmontiert. Es ist seitdem nicht mehr ersetzt worden“, erzählt László Nagy. „Und es wird hier auch nie mehr zu sehen sein.“ Das liege an Gyula Horn, der im Westen und vor allem in Deutschland zwar verehrt wird, in Ungarn aber verhasst ist. Als Horn 1994 Ministerpräsident wurde, kam laut Nagy heraus, dass er sich 1956, beim ungarischen Aufstand, der Arbeitermiliz angeschlossen hatte, die von den Ungarn auch „Steppjackenbrigade“ genannt wird.
Endgültiger Durchbruch: Das Paneuropäische Picknick
„Diese Miliz war nach der Niederschlagung des Aufstandes an der Säuberungswelle beteiligt, holte die Oppositionellen ab, die später hingerichtet wurden“, sagt Nagy. Aufklären ließen sich die Vorwürfe nie, weil Horns Akte im Archiv des Innenministeriums vernichtet worden sei, kurz bevor sie veröffentlicht werden sollte. „Der Leiter des Archivs musste damals eine Strafe zahlen, gerade mal 200 Euro“, erregt sich der 61-Jährige.
Wenn Nagy sich nicht über Horn empört, dann ist er ein freundlicher und gelassener Mann, der mit viel Humor und in fehlerfreiem Deutsch stundenlang über den Sommer 1989 erzählen kann, über den Machtpoker zwischen dem damaligen Budapester Ministerpräsidenten Miklós Németh und Kreml-Chef Michail Gorbatschow, über seine eigene Tätigkeit in der Oppositionsbewegung Ungarisches Demokratisches Forum (MDF) und vor allem über das von ihm mitorganisierte "Paneuropäische Picknick" von Sopron am 19. August 1989, das weltberühmt wurde, weil Hunderte DDR-Bürger es zu einer Massenflucht nach Österreich nutzten. „Was wir mit dem Picknick auslösten, ahnten wir damals allerdings nicht“, gibt er zu. „Du gehst ja nicht mal so am Sonntag nach dem Mittagessen mit der Familie aus dem Haus und erwartest, Weltgeschichte zu machen.“ Und doch ist es so gekommen.
Im November 1988 hatte Nagy gemeinsam mit fünf Freunden in Sopron einen Ortsverband des MDF gegründet. Im Sommer 1989 war der Verband auf 200 Mitglieder angewachsen – bei 60.000 Einwohnern. „Das muss man wissen, weil sich die Stadt heute gern mit dem Picknick schmückt. Aber das Picknick war eine Aktion des Forums. Niemand anderes hatte etwas damit zu tun“, sagt Nagy. „Doch wie sagt schon ein ungarisches Sprichwort: Der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg ist ein Waisenkind.“
Die Idee zum Picknick sei am 20. Juni 1989, bei einer MDF-Veranstaltung im nahen Debrecen, geboren worden. Während eines Abendessens mit Otto von Habsburg, der damals für die CSU im Europäischen Parlament saß und der Paneuropa-Union angehörte, habe man beklagt, dass die Welt vom Abbau der Grenzanlagen an der ungarisch-österreichischen Grenze keine Notiz nimmt, erzählt der 61-Jährige.
Das Foto mit Horn und Mock sollte ja erst eine Woche später geschossen werden. „Wir überlegten uns, die österreichischen Nachbarn einzuladen zu einem Fest, wo wir am Feuer sitzen, Speck und Brot braten und Schnaps trinken. Das Feuer sollte direkt auf der Grenze brennen, sodass die eine Hälfte in Österreich sitzt und die andere in Ungarn. Dazu sollte das seit 40 Jahren verschlossene Grenztor an der alten Bernsteinstraße zwischen Sopron und St. Margarethen geöffnet werden. Als Schirmherren des Festes wollten wir Habsburg und den ungarischen Staatsminister Imre Pozsgay gewinnen. Das war der Plan.“
Mehrere Tausend Flugblätter kursierten
Nach einigen Wochen Bedenkzeit stimmte die reformorientierte Führung der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei um Pozsgay und Miklós Németh, der mit seinen 40 Jahren damals jüngster Regierungschef des Ostblocks war, der Idee zu. Allerdings wurde der Festplatz vor das Sperrgebiet, etwa zwei Kilometer von der Grenzlinie entfernt, verlegt. Und das alte Grenztor an der seit Jahrzehnten unbenutzten, von Sträuchern fast zugewucherten Bernsteinstraße, die einst von den Römern angelegt worden war, sollte am 19. August nur von 15 bis 18 Uhr aufgesperrt bleiben dürfen.
„Wir druckten Flugblätter, auf denen wir zum Paneuropäischen Picknick am Eisernen Vorhang in Sopron einluden“, erzählt Nagy. „Ein paar Tausend in ungarischer Sprache, die wir in Sopron verteilten, und 1500 auf Deutsch, die wir in den österreichischen Grenzgemeinden St. Margarethen, Eisenstadt, Mörbisch und Klingenbach unter die Scheibenwischer der Autos klemmten.“ An die vielen Ostdeutschen, die in diesem Sommer am rund 150 Kilometer entfernten Balaton Urlaub machten, um von dort irgendwie in den Westen zu gelangen, hätten sie gar nicht gedacht, beteuert er. „Die hatten wir nicht auf dem Schirm.“
Dann aber geschah Rätselhaftes. Wenige Tage vor dem 19. August tauchten auf den Campingplätzen am Plattensee Tausende Picknick-Flugblätter in deutscher Sprache auf. Woher die kamen, ist bis heute ungeklärt. „Mir erzählten Deutsche später, ein Mann sei über den Campingplatz gelaufen und habe die Flugblätter verteilt. Bevor man ihn dazu ausfragen konnte, sei er schon wieder verschwunden gewesen“, sagt Nagy. Das habe auch dazu geführt, dass viele DDR-Urlauber an eine Falle der Stasi glaubten, die Fluchtwillige angeblich auf diese Weise in einen Hinterhalt locken wollte.
„Wenn es diese Zweifel nicht gegeben hätte, wären wir wahrscheinlich von Tausenden Ostdeutschen überrannt worden.“ Er sei überzeugt davon, dass die Schreiben damals in der westdeutschen Botschaft heimlich kopiert wurden. Möglicherweise habe der westdeutsche Bundesnachrichtendienst (BND) dahinter gesteckt, er habe so etwas gehört. „Aber bestätigen wird das Berlin niemals, da eine solche Aktion gegen die diplomatischen Gepflogenheiten verstößt.“
Zur Ironie der Geschichte gehört, dass Nagy als einer der Hauptorganisatoren des Picknicks den historischen Moment des Grenzdurchbruchs am 19. August verpasste. Eine Stunde vor Beginn der Feier hielt er in einem Soproner Hotel eine Pressekonferenz ab, die länger als geplant dauerte, sodass er sich erst mit dreiviertelstündiger Verspätung im Auto auf den Weg zum Grenzzaun machen konnte. Aber er kam gar nicht bis dorthin, da Dutzende abgestellte Trabbis die alte Bernsteinstraße blockierten. Es gibt ein Foto von ihm, wie er neben seinem Wagen steht, die Hand am Kopf und mit fassungslosem Gesicht. „Wieviel Jahre gehst du dafür ins Gefängnis, habe ich gedacht in diesem Moment“, sagt er.
Eine knappe Stunde zuvor dürften auch die sechs Soldaten am alten Grenztor noch nichts davon geahnt haben, was ihnen an diesem Sonntag widerfahren wird. Um Punkt 15 Uhr sollten sie das Tor öffnen, um die österreichischen Besucher des Picknicks nach Ungarn zu lassen. Rund 5000 Einwohner aus den Grenzgemeinden im Westen warteten bereits darauf, viel mehr, als Nagy und seine Mitstreiter erwartet hatten. Da geschah etwas Seltsames: Aus Richtung Sopron näherte sich auf der Straße plötzlich schweigend eine Gruppe von etwa 150 Männern, Frauen und Kindern, auch Kinderwagen waren zu sehen.
Massenflucht durch Holztor
Der diensthabende Grenzoffizier hielt sie zunächst für eine Abordnung der Stadt, bekam dann aber mit, dass es offenbar Ostdeutsche sind. „Die Menschen gingen bis zum Tor, blieben dann direkt vor den Grenzwachen stehen. Wortlos, Gesicht an Gesicht“, erzählt Nagy. „Was sollten die Wachen machen? Vor ihnen 150 Fluchtwillige, hinter ihnen 5000 Österreicher. Da konnte man doch nicht zur Waffe greifen.“ Die Beamten wichen schließlich zur Seite, die Menschen drückten das Tor auf – und liefen jubelnd in die Freiheit. „Plötzlich strömten noch Hunderte weitere Leute aus einem Maisfeld neben der Straße. Dort hatten sie sich offenbar versteckt, um abzuwarten, ob der Durchbruch gelingt. Das war unglaublich.“
Aber nicht nur Nagy, sondern auch die meisten Pressevertreter hatten die Massenflucht durch das Holztor verpasst. Und so gibt es nur wenige Fotos von diesem historischen Moment. Nagy holt ein ungarisches Buch hervor, „Áttörés“ heißt es, Durchbruch. 1999 ist es aufgelegt worden und dokumentiert die Ereignisse des 19. August 1989. Darin sind auch Schnappschüsse von der Massenflucht. Sie zeigen chaotische Szenen, in denen Menschen sich durch die schmale Lücke des noch nicht vollständig geöffneten Tores zwängen, Kinder und Begleiter hinter sich herzerren, andere wegschubsen, um schneller voranzukommen. Die Gesichter sind ernst, ungläubig, erschöpft, selten sieht man ein Lächeln. Viele weinen. Es sind Motive, wie man sie aus der Nacht des 9. November 1989 kennt, als die Menschen in Berlin die Mauer durchbrachen.
Alexander Wind stand an jenem Augusttag vor 30 Jahren auf österreichischer Seite und hat die Menschen, die sich durch das schmale Tor drängten, gesehen. Noch heute übermannen ihn die Gefühle, wenn er an diese Momente denkt. „Die Kinder haben geweint, weil sie spürten, dass irgendetwas passiert, die Erwachsenen zitterten, hatten immer noch Angst. Wir haben sie umarmt, ihnen gut zugeredet: Ihr seid in Österreich, in Sicherheit, ihr habt’s geschafft“, erzählt Wind.
Bedrückende Erinnerungen an die Jahre zuvor
Der 73-Jährige ist in St. Margarethen geboren. Sein ganzes Leben hat er in der Grenzgemeinde verbracht, war hier Volksschuldirektor und hat die Kinder des Dorfes in Deutsch, Naturkunde und Geschichte unterrichtet. Der nur fünf Kilometer entfernte Eiserne Vorhang war immer gegenwärtig. „Es verging keine Woche, in der wir nicht Ohrenzeugen waren von mutmaßlichen Tragödien, die sich dort abspielten“, sagt er. Bis in den Ort hinein habe man die Schüsse an der Grenze gehört, das rasende Gebell von Schäferhunden, explodierende Minen aus dem Todesstreifen. „Vielleicht hatte ein Tier die Explosion ausgelöst, vielleicht verblutete dort aber auch gerade ein Mensch. Wir lebten mit dieser grausamen Ungewissheit.“
Dann kam der 19. August 1989, das Picknick in Sopron. In St. Margarethen war Weinfest, aber die Einladung zu der gemeinsamen Feier auf ungarischer Seite wollte sich dennoch keiner aus dem Dorf entgehen lassen. Als nun aber die DDR-Flüchtlinge kamen, half man ihnen zuerst. Mit Autos wurden sie in das vom Grenztor fünf Kilometer entfernte St. Margarethen gefahren, Dorfbewohner gaben den Menschen zu essen und ließen sie in ihren Häusern duschen. „Manche hatten ganz wunde Füße, weil sie in Sandalen über die Felder gelaufen waren. Wir versorgten ihre Wunden“, erzählt Wind.
Mit einem Pärchen kam er ins Gespräch, sie verstanden sich auf Anhieb und blieben noch den Abend im Dorf, um beim Weinfest mitzufeiern. „Wir haben getanzt und getrunken zusammen, es war wunderschön. Leider habe ich die beiden nie wiedergesehen.“ Der Schuldirektor fehlt als Zeitzeuge seit Jahren auf keiner Gedenkveranstaltung zum Picknick. Bis nach New York habe man ihn eingeladen, damit er über ein Ereignis berichten kann, das er im wahrsten Wortsinn doch nur als Zaungast verfolgt hat, erzählt er. „Dabei sind die wahren Helden doch die, die das Tor im Grenzzaun aufgedrückt haben.“
Wie viele DDR-Bürger an diesem Augusttag über die alte Bernsteinstraße in die Freiheit gelangten, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Zwar hatte die deutsche Botschaft den Abtransport der Flüchtlinge mit Bussen nach Wien und die Weiterreise von dort per Sonderzug ins Notaufnahmelager in Gießen organisiert, wo exakt 661 Ankömmlinge registriert wurden. László Nagy schätzt aber, dass es noch rund 300 Menschen mehr gewesen sein können, die das Picknick zur Flucht nutzten. Viele Flüchtlinge hätten sich auf eigene Faust in die Bundesrepublik durchgeschlagen oder seien auf österreichischer Seite von Verwandten und Bekannten in Empfang genommen worden, sagt er.
Einen knappen Monat nach dem Paneuropäischen Picknick, am 11. September 1989, öffnete Ungarn für die im Land teils seit Wochen ausharrenden 60.000 DDR-Bürger seine Grenzen zum Westen. Keine zwei Monate später fiel die Mauer in Berlin.
Änderung durch Flüchtlingskrise 2015
Die Bernsteinstraße zwischen Sopron und St. Margarethen ist schon in den 90er-Jahren ausgebaut worden. Nachdem Ungarn Ende 2007 dem Schengen-Raum beigetreten war, konnte man auf der alten Landverbindung jahrelang ungehindert zwischen Ungarn und Österreich hin und her fahren. Nur die blauen Schilder mit den gelben EU-Sternen zeigten an, wo das eine Land beginnt und das andere endet.
Mit der europaweiten Flüchtlingskrise 2015 jedoch änderte sich das wieder. Auf österreichischer Seite wurde eine Fertigteilbaracke für einen Grenzposten aufgebaut. Dort, wo vor 30 Jahren Hunderte Ostdeutsche eine – wie es auf einer Gedenktafel heißt – „Schleuse zur Freiheit“ fanden, winken Grenzbeamte heute einreisende Autos auf der Suche nach Menschen heraus, die Elend und politischer Verfolgung entkommen wollen.
Die Erstveröffentlichung dieser Reportage erschien am 9. Juni 2019 in der Berliner Zeitung unter dem Link: https://www.berliner-zeitung.de/berlin/mauerfall-in-berlin-und-friedliche-revolution/30-jahre-ohne-mauer/juni-1989-das-loch-im-eisernen-vorhang-32669532
Jahrgang 1958, ist freier Journalist und Buchautor in Berlin. Er schreibt vor allem über DDR-Aufarbeitung, Terrorismus und politischen Extremismus, Geheimdienste, Zeitgeschichte und Organisierte Kriminalität, vornehmlich für die Berliner Zeitung.
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