Ein Plädoyer zu Aufbrüchen in der Erinnerungskultur
Die Generation der um 1989 Geborenen hat die deutsche Teilung nicht miterlebt. Für uns sind Freiheit, Einheit und Demokratie selbstverständlich geworden. Doch sollen die Lehren der Geschichte auch für die 1989er lebendig sein, braucht es eine Veränderung der Erinnerungskultur.
Selbstverständlich ist, was Teil des Alltags ist, worüber man nicht weiter nachdenken muss und was sich von selbst erklärt. So ist es für viele aus der Generation der um das Jahr 1989 Geborenen (Generation 1989),
Doch darin liegt zugleich ein Problem, denn der mahnende Charakter der Geschichte ist immer weiter zurückgetreten, je weniger über die deutsche Teilung in unserer Generation bekannt ist. Wir sehen Freiheit und Einheit als gegeben an, weil wir keine andere Situation kennen. Schon vor 15 Jahren wurde deutlich, dass die schulischen Lehrpläne in dieser Hinsicht Defizite aufwiesen.
Das Problem der Erinnerungskultur zur Wiedervereinigung ist, dass sie in ihren Formen, Symbolen und Ritualen auf Wissen aufbaut, welches die älteren Generationen durch ihre Biografie erworben haben. Sie haben die Montagsdemonstrationen vor dem Fernseher verfolgt oder waren selbst auf der Straße. Sie lebten in der Situation der Teilung und kennen deren Charakter. Doch wir Jüngeren, nach 1989 Geborenen, kennen sie nicht mehr gut genug, wenn wir uns nicht explizit und eigenständig mit ihr beschäftigt haben. Der britische Historiker Niall Ferguson sieht den Sinn von Geschichte gerade in der „Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart“.
Wenn es das Ziel der Erinnerungskultur ist, im Sinne einer lebendigen Mahnung die Lehren aus der Vergangenheit wach zu halten, dann ist es dringend geboten, mit Blick auf die Generation 1989 mit einer Aktualisierung der Erinnerungskultur zu beginnen. Denn die Folgen könnten dramatisch sein, wenn sich die Formen des Gedenkens nicht weiterentwickeln. Die DDR selbst liefert dafür ein Beispiel: Sie erhob den Antifaschismus zu ihrem Gründungsmythos und machte ihn zum Kern ihrer Erinnerungskultur, um in der Nachkriegszeit auf personelle Kontinuitäten in der Bundesrepublik verweisen zu können.
Die Warnsignale, dass auch die deutsche Erinnerungskultur im Jahr 2019 ihre Bindungskraft verliert, sind überdeutlich. Bei den Tumulten in Chemnitz 2018 wurde der Hitlergruß offen gezeigt, Journalisten attackiert und ein bestimmter Teil der Bevölkerung aufgrund seiner Herkunft marginalisiert; auch von jungen Menschen, die nach der Wiedervereinigung geboren wurden. An dieser Stelle muss weiter gedacht werden. Wir als 1989er müssen uns fragen, welches Geschichtsbild wir unseren Kindern weitergeben wollen. Es braucht neue Impulse bei der Vermittlung von Inhalten, den Trägerformen und der Ausrichtung der Erinnerungskultur, wenn sie auch für die Generationen nach 1989 integrative Kraft besitzen soll.
Inhalte – Aufbrüche in den Alltag
Fragen der 1989er an die Geschichte sollten in Bezug zur Lebenswirklichkeit gesetzt werden: Welche Folgen hatten die vertraglichen Regelungen der Neuen Ostpolitik in den 1970er Jahren für die Einreise von Westbürgern in die DDR? Was bedeuteten die neuen Grenzvereinbarungen für Bewohner des DDR-Sperrgebiets? Die Alltagsgeschichte liefert den leichtesten Zugang für unsere Generation zur DDR-Vergangenheit, denn sie ermöglicht es, dass wir uns historisches Wissen durch Gegenüberstellung von täglichen Erfahrungen im Gestern und Heute erschließen. Das haben einige Akteure der Erinnerungskultur bereits erkannt. Das Grenzmuseum Point-Alpha an der hessisch-thüringischen Grenze setzt seit einigen Jahren bewusst darauf, seinen Besuchern Einblicke in das Leben im Sperrgebiet zu vermitteln.
In der Hinwendung zur Alltagsgeschichte liegt noch ein weiterer, tieferer Aspekt. Sie öffnet den 1989ern auch den Blick für das, was der Historiker Alf Lüdtke den „Eigen-Sinn“ nannte und sein Kollege Stefan Wolle mit der „heilen Welt der Diktatur“ umschrieb.
Die Alltagsgeschichte könnte dazu beitragen, dass die 1989er einen leichteren Zugang zur Historie finden und zu einer differenzierten Betrachtung der DDR-Vergangenheit gelangen, vom Holzschnittartigen zur Tiefenschärfe. Eine so vermittelte Geschichte ohne vorgefertigte Denkmuster ist zudem dringend notwendig. Denn das Bild, das die 1989er voneinander in Ost und West haben, ist weniger von Vorurteilen belastet als noch eine Generation zuvor.
Vermittlungswege – Aufbrüche ins Digitale
Medien übernehmen eine wichtige Aufgabe in der Erinnerungskultur. Sie sind eine Voraussetzung dafür, dass wir uns mit dem von ihnen vermittelten Vergangenheitswissen beschäftigen können.
Die Erinnerungskultur wird sich in ihren Vermittlungsformen öffnen müssen, wenn sie für die 1989er anschlussfähig werden will. Sie muss den Aufbruch ins Digitale wagen. Denn soziale Medien sind längst Teil des Alltags. 280 Zeichen bei Twitter können bei uns mehr bewirken als eine fünfteilige Fernsehdokumentation über die DDR. Erste Ansätze einer verstärkten Nutzung digitaler Medien für Erinnerungsprojekte sind bereits erkennbar. In den vergangenen Jahren hat sich angedeutet, welches Potenzial in dem Kurznachrichtendienst für die Vermittlung der deutsch-deutschen Erinnerungskultur liegen könnte. Unter #3oktober und #9november haben Zehntausende Nutzerinnen und Nutzer ihre Meinungen und Eindrücke zu zwei wichtigen Daten der Deutschen geteilt. Journalistinnen und Journalisten, Politikerinnen und Politiker sowie Historikerinnen und Historiker, allesamt zentrale Akteure für die Erinnerungskultur, haben verstärkt Twitter für Botschaften und Bilder genutzt.
Ein weiterer wichtiger, aber bisher noch weniger für die Erinnerungskultur relevanter Kanal sind Videoportale. Die Zeitzeugenplattform „Gedächtnis der Nation“ wird vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland betrieben. Sie erstellt und sammelt seit 1998 Zeitzeugeninterviews und veröffentlicht diese in kurzen Sequenzen seit einigen Jahren auf YouTube.
Auch soziale Plattformen können einen Beitrag zur Veränderung der Erinnerungskultur leisten. Facebook-Gruppen wie „DDR Kinder“, in denen Kindheitserinnerungen an Dosenwurst und Vita Cola geteilt werden, haben bereits annähernd 300.000 Mitglieder aus der Generation derer, die den Sozialismus noch selbst erlebten. Dies zeigt, welchen Stellenwert soziale Medien für den Prozess der Erinnerung bereits haben, auch wenn Gruppen dieser Art den Zeitzeugen vorbehalten sind. Natürlich besteht hier die Gefahr, dass „Ostalgie“ die Vergangenheit verklärt. Umso mehr braucht unsere Generation ein fundiertes, fakten- und forschungsbasiertes Wissen über die DDR, um die „Ostalgie“ einordnen zu können. In sozialen Netzwerken ergeben sich Räume, in denen die Jüngeren in Kontakt mit den Erinnerungen der Älteren treten können. Dies ist durchaus in einem archaischen Sinne zu betrachten: Facebook ersetzt das Lagerfeuer, an dem in der Vorzeit die Erzählungen von den Ahnen weiter gegeben wurden. So entsteht das kommunikative Gedächtnis im digitalen Raum.
Diesen Raum in der Breite durch einen vernünftigen Diskurs über die Vergangenheit zu besetzen ist dringend notwendig. Denn der Wirkungskreis und die Offenheit von Facebook ermöglichen es, Geschichtsumdeutern ihre Botschaften in die Öffentlichkeit zu bringen, etwa wenn es um die Angst vor Zuwanderung geht. „Auch wenn die DDR ein genauso falsches System war wie das jetzige, wurde da wenigstens unsere Grenze geschützt und die innere Sicherheit war zu 100 Prozent gegeben“, schreibt einer der User.
Individualisierung – Aufbrüche in die eigene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
Die bestehende Erinnerungskultur ist in Deutschland in hohem Maße zentralisiert. Staatlich organisierte Gedenkveranstaltungen haben dazu beigetragen, bestimmte Formen des Erinnerns zu ritualisieren. Die Wiederholung von Formeln und Handlungen wurden zur Tradition und formten das kulturelle Gedächtnis.
Doch stellt sich die Frage: Sind diese Formen verständlich und damit anschlussfähig für die 1989er? Denn es deutete sich bereits an, dass diese Akte der Erinnerungskultur nicht einmal mehr von allen verstanden werden, die die Teilung selbst miterlebten. Bei den zentralen Gedenkveranstaltungen im Erinnerungsjahr 2009 hatte sich gezeigt, dass die vergangenheitspolitische Inszenierung der friedlichen Revolution auf wenig Interesse in der Bevölkerung stieß. Die Notwendigkeit zur Individualisierung des Erinnerns wurde bereits damals betont.
Natürlich liegt in der Individualisierung auch eine Gefahr. Fehlinterpretationen können entstehen, ja sie sind sogar vorprogrammiert. Daher kann diese Art der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kein Exklusiv- oder Alternativweg zur bestehenden Erinnerungskultur sein, sondern nur eine Ergänzung. Denn es braucht nach wie vor eine Vergangenheitspolitik, die auf objektivierbarem Faktenwissen über die Vergangenheit aufbaut, und diese auch vermittelt, etwa in der Erwachsenenbildung und der politischen Bildung.
Es geht nicht darum, die bestehende Erinnerungskultur radikal zu ändern. Stattdessen geht es um eine bewusste Erweiterung bestehender Formen des Erinnerns, die auf die Lebenswirklichkeit der 1989er, die selbst die Teilung nicht miterlebten und die Freiheit und Sicherheit für weithin selbstverständlich halten, angepasst ist, aber nicht exklusiv nur ihr zur Verfügung steht. Das Erinnerungsjahr 2019 kann der Beginn eines Aufbruchs sein, der die Auseinandersetzung aller Generationen mit der Vergangenheit der deutschen Teilung beeinflusst. Aus Sicht von uns 1989ern ist dieser dringend notwendig, damit nicht selbstverständlich wird, was nicht selbstverständlich ist: Freiheit, Einheit, Demokratie.
Zitierweise: Maximilian Kutzner, Die Generation 1989 und die deutsch-deutsche Vergangenheit - Ein Plädoyer zu Aufbrüchen in der Erinnerungskultur, in: Deutschland Archiv, 21.2.2019, Link: www.bpb.de/286431
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