„Todesvögel“, „Feuerdrachen“ und brunnenvergiftende „Langnasen“
Mit Rücksicht auf die Gefühlslage ihres jüngeren Publikums verzichtete die ABC-Zeitung auf die Ablichtung von Kinderleichen. Stattdessen versuchte sie, das Trauma des israelischen Bombenkriegs aus Sicht überlebender Kinder begreiflich zu machen. So entführte im Mai 1983 ein effektvoll auf schwarzem Grund gedruckter Text die Leser in den Albtraum eines palästinensischen Jungen, der Nacht für Nacht von den Erinnerungen an den Angriff israelischer „Todesvögel“ geplagt wird. Erst im gemeinsamen Erwachen aus diesem Inferno durfte man erleichtert feststellen, dass der traumatisierte Junge längst Sicherheit in einem Krankenhaus der DDR gefunden hatte.
Der Ewige Drache
Auch das inm Teil I vorgestellte Märchen „Der Feuerdrache Zion“ ist nur als Spätausläufer der Pressekampagne gegen Israel zu verstehen. Der offene Antisemitismus der Fabel steht zugleich jedoch auch stellvertretend für die problematische Wirkung einer antifaschistischen Erziehung, die eine gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Shoah über Jahrzehnte verhinderte und ein subkutanes Fortleben antisemitischer Einstellungen beförderte. Offener Antisemitismus im Märchengewand stellte allerdings auch für DDR-Verhältnisse eine einmalige Entgleisung dar. „Der Feuerdrache Zion“ sorgte für einen Sturm der Entrüstung. Eine Flut von Leserbriefen erreichte die Redaktion der ABC-Zeitung und den Zentralrat der FDJ. Die Mehrzahl der Absender war dem kirchlichen Milieu und namentlich der Arbeitsgemeinschaft Judentum und Christentum in der Evangelischen Kirche zuzurechnen. Eugen Gollomb, der nicht nur als Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzig, sondern vor allem als Auschwitz-Überlebender protestierte, wies die ABC-Zeitung darauf hin, dass es auch in der DDR noch „genügend Antisemiten [gebe], die freudigen Herzens bereit“ seien, ihren fragenden Kindern zu erläutern, wer „wirklich mit dem Feuerdrachen“ gemeint sei.
Der Theologe Richard Schröder machte sich die Mühe, der Redaktion das gesamte „Inventar antisemitischer Klischees“ vor Augen zu führen, das sie in Form dieses Märchens in die Schulen des Landes getragen hatte. In seinen Anmerkungen entwarf Schröder eine höchst anschauliche Skizze, wie er sich die unterrichtspraktische Verwendung des Märchens vorstellte: „Man wird den Kindern erklären, dass dieser Drache kein Märchendrache ist, sondern dass es ihn wirklich gibt. […] Wer mit dem Drachen gemeint ist, wäre vor 40 Jahren jedermann klar gewesen: lächerlich von Aussehen, undankbar, habgierig, hässlich, sehr gefährlich und zudem unverbesserlich: Niemals vertrauen wir wieder einem Juden, denn ein Jude bleibt doch immer ein Jude.“
Die Redaktion der ABC-Zeitung sah sich angesichts der Vorwürfe zu einem Entschuldigungsschreiben veranlasst, das in identischem Wortlaut an alle Kritiker versandt wurde. Darin räumte man ein, sich mit „dem erwähnten Märchen eine bedauerliche Unkorrektheit“ geleistet zu haben, und erklärte, es habe den Verantwortlichen selbstverständlich ferngelegen, „das Judentum mit dem imperialistischen Staat Israel und seiner zionistischen Politik gleichzusetzten“. Darüber hinaus versprach man, im Aprilheft 1985 eine Fortsetzung des Märchens folgen zu lassen, „in der von der Freundschaft zwischen palästinensischen und jüdischen Kindern erzählt“ werden sollte. Mit der Abfassung dieses Wiedergutmachungsmärchens wurde abermals der Schöpfer des „Feuerdrachen Zion“, Paul Horst Basedow, betraut.
Der Storch von Wadi Achat
Auf dem Weg zum Kaufmann macht der durstige Palästinenserjunge Chedli halt an einem Brunnen. Beim Genuss des bis dato noch glasklaren Wassers bemerkt er „ein Rascheln! Steinchen plumpsen ins Wasser, Sand rutscht“ in den Brunnen. Verantwortlich für die Störung ist ein verletzter Storch. „Auf dem Damm stehend, der schützend den Brunnen umgibt […], findet [das Tier] keinen festen Halt im Boden“ und lässt auf diese Weise immer mehr Sand in das zusehends „verschmutzte Wasser“ rieseln. Um den verletzten Vogel davor zu bewahren, „von den Hyänen gefressen“ zu werden, versucht Chedli das Tier zu fangen. Der in diesem Zusammenhang freundschaftlich als „Bruder Langschnabel“ angesprochene Storch erweist sich trotz eines gebrochenen Flügels als äußerst störrisch und wehrhaft. Ein anderer Junge wird Zeuge dieser „wilden Jagd“. Es handelt sich um „Chaim, den Sohn von Doktor Isaak, dem jüdischen Arzt“. Nach kurzem Wortgefecht kommen beide überein, Hilfe bei Chaims Vater zu suchen.
Doktor Isaak erweist sich nicht nur als wunderheilende Koryphäe der Tiermedizin, ihm fällt darüber hinaus auch die Rolle eines salomonischen Streitschlichters zu. Sein Urteil lautet: Chedli und Chaim sollen sich gemeinsam um die Versorgung des Vogels kümmern. Am Tage seiner vollständigen Genesung müsse der Storch jedoch umgehend freigelassen werden, denn „Störche sind bei uns nur auf der Durchreise“.
Mit Wissen um die Vorgeschichte fällt es schwer zu übersehen, wie treu sich der angeblich um Wiedergutmachung bemühte Autor in seiner stilistischen Vorliebe für antisemitische Stereotype blieb. Wer sich davon angesprochen fühlte, konnte im Fabelwesen des verletzt nach Halt suchenden und dabei brunnenvergiftenden „Bruder Langschnabel“ tatsächlich ein Sinnbild für das zerstörerische Wirken Israels und damit einen Verwandten des „Feuerdrachen Zion“ erkennen. Darüber hinaus stand abermals die behauptete Unveränderbarkeit eines vermeintlichen jüdischen Volkscharakters im Mittelpunkt der Handlung: Der am Ende der Fabel stehende Lehrsatz über den Vogelzug der Störche war als Andeutung auf das Nomadendasein des jüdischen Volkes zu verstehen, das seine natürliche Bestimmung ebenso in der Diaspora und nicht am Berge Zion gefunden hatte. Der Zionismus geriet in diesem insgesamt arg konstruierten Gleichnis zu einem widernatürlichen Projekt zur Sesshaftmachung von Zugvögeln.
Trotz seines Andeutungsreichtums zog „Der Storch von Wadi Achat“ keine weiteren Proteste nach sich. Die krude Konstruktion der Fabel ließ diesmal allerdings auch nicht befürchten, dass Kinder – selbst unter boshafter Anleitung von Erwachsenen – in der Lage gewesen wären zu erkennen, was der Autor ihnen hatte sagen wollen. Der Schöpfer des „Feuerdrachen Zion“ blieb der ABC-Zeitung auch in den folgenden Jahren als Lieferant orientalischer Märchenstoffe erhalten.
Fortwirkende Prägungen
Die zahlreichen Befundstellen lassen nur wenig Raum zur Beschönigung. Die Berichterstattung über den Nahostkonflikt war von einer offensiven Parteilichkeit zugunsten der PLO geprägt. Bestürzender als diese Unausgewogenheit mutet jedoch vor allem die Selbstverständlichkeit an, mit der auch die Autoren der Kinderpresse mit Beginn des Libanonkrieges dazu übergingen, ihre einseitigen Schuldzuweisungen an die Adresse Israels mit historischen Analogien auf den Nationalsozialismus zu garnieren. Geradezu beiläufig wurde dabei der in der DDR über Jahrzehnte hinweg unbewältigte Schuldkomplex des nationalsozialistischen Massenmords an den europäischen Juden auf Israel abgewälzt. Dieser Akt historischer Selbstentlastung stellte letztlich wohl auch eine entscheidende Vorbedingung für den später begangenen Tabubruch dar, antisemitische Ressentiments im Kinderformat zu schüren. Es passt ins Bild einer sich selbst befeuernden Pressekampagne, dass auch der Autor des „Feuerdrachen Zion“ sich rückblickend darauf berief, sein Märchen unter dem medialen Eindruck des israelischen Einmarsches in den Libanon und der damit einhergehenden Ermordung palästinensischer Frauen und Kinder geschrieben zu haben.
Die sich aufdrängende Frage, welche bis heute nachwirkenden Effekte die beschriebene Kampagne wohl bei ihren Lesern hinterlassen haben mag, lässt sich allenfalls spekulativ beantworten. Zunächst gilt es, sich vor Augen zu führen, dass die hier im Rahmen einer gezielten jahrgangsübergreifenden Recherche identifizierten Befundstellen letztlich nur den Ertrag einer äußerst selektiven Wahrnehmung ergeben. Die vorgenommene Zusammenstellung ermöglicht zwar, einzelne Eskalationsstufen einer von wachsender Drastik und zunehmender antisemitischer Enthemmung gekennzeichneten Nahostberichterstattung sichtbar zu machen. Umso wichtiger ist es zu betonen, dass diese verdichtete Lesart keineswegs bereits eine hinlängliche Beschreibung der zeitgenössischen Rezeption ergibt. Vor einem solchen Trugschluss warnte die Erziehungswissenschaftlerin Christine Lost bereits im Jahr 2004. Lost hielt seinerzeit den Schlussvortrag auf der ersten und bisher auch einzigen Tagung zum Fortwirken der Kinderzeitschriften der DDR. Sie machte mit Blick auf diese selbsterklärten Propagandaorgane auf ein bedauerliches Missverhältnis aufmerksam: „Während der gesellschaftspolitische Auftrag in Beschlüssen dokumentiert ist, […] sind die Leser als die eigentlichen Adressaten in ihren Reaktionen unerforscht und nicht mehr fassbar.“ Tatsächlich lagen dauerhafte und systematische Untersuchungen zum Nutzungsverhalten der eigenen Leserschaft außerhalb jeder Logik eines zentral gelenkten Zeitschriftensystems. Zudem waren die Organe der Pionierpresse mit einzelnen festen Rubriken von Beginn an auf einen intensiven – wenngleich naturgemäß unkritischen – Austausch mit ihren Lesern ausgerichtet, der viele ihrer Macher selbst in der Rückschau noch vom vermeintlich gelungenen „Dialog mit ihren Lesern“ schwärmen lässt. Eine nachträgliche Befragung der letzten Lesergeneration dürfte dagegen vermutlich nur zum Ergebnis führen, dass sich die Mehrzahl der Befragten rückblickend ein Mindestmaß an kritischem Bewusstsein oder zumindest eine Neigung zur selektiven und primär von kindlichen Interessen gesteuerten Lektüre zusprechen würde.
Charakteristischerweise fand die sozialistische Tugenderziehung der Pionierpresse unter weitgehender Ausblendung aller Widersprüche und Widrigkeiten des DDR-Alltags statt, was ihren Erfolg – selbst in den Augen ihrer Macher – zunehmend zweifelhaft erscheinen ließ. Erschwerend hinzu kamen die nahezu unveränderte optische Aufmachung und die offenbar seit der Hochphase des Kalten Krieges beibehaltene Ansprache der meisten Blätter. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die Pionierpresse zumindest in den 1980er-Jahren wohl auch nur noch eingeschränkt in der Lage war, in der ihr ursprünglich zugedachten Art und Weise die kindliche Identitäts- und Traditionsstiftung zu fördern. Stattdessen mag ihre sichtbare Unzeitgemäßheit weit eher dazu beigetragen haben, spätestens die letzten Lesergenerationen der DDR für den erzieherischen und propagandistischen Charakter ihrer Zeitungen zu sensibilisieren. Es ist sogar wahrscheinlich, dass auf diese Weise eher ein grundsätzliches Misstrauen und ein gesteigertes Kompetenzgefühl im Umgang mit Medien geweckt wurde, das unter Umständen sogar bis heute fortwirken mag.
„Wir sind auch das Volk!“
Die paradoxe Wirksamkeit der eigenen Medienerziehung sollte die ABC-Zeitung und die Trommel spätestens im Herbst 1989 einholen. Beide Blätter wurden von der Geschwindigkeit der Ereignisse überrollt und waren unfähig, ihren dabei erlittenen Bedeutungsverlust zu akzeptieren. Während das Pressemonopol der SED und der Erziehungsauftrag der Pionierorganisation längst öffentlich infrage gestellt worden waren, hielten beide Zeitungen bis 1990 an den Inhalten und etablierten Formen ihrer Arbeit fest. Im Januar 1990 versuchte die ABC-Zeitung nachholend auf die Ereignisse des zurückliegenden Herbstes zu reagieren. Unter dem trotzigen Titel „Wir sind auch das Volk“ (Hervorhebung im Original) versuchte man, sich als Anwalt einer verunsicherten Kinderschar zu inszenieren, deren heimatliebende Interessen im Zuge des friedlichen Revolutionsgeschehens vermeintlich unbeachtet geblieben waren. Diese Projektion redaktionsinterner Befindlichkeit auf das eigene Publikum war flankiert von der Frage: „Wie wünscht ihr euch eure ABC-Zeitung?“, gefolgt von der nahezu bedrohlich klingenden Beteuerung: „Wir wollen noch mehr für euch da sein. Deshalb schreibt uns. Nur Mut!“ Mit diesem Aufruf zur Kritik war zugleich die Bitte verbunden, ein Resümee der eigenen Erfahrungen in der Pionierorganisation zu ziehen und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten.
Es dauerte bis zum März 1990, bis die ersten Antworten präsentiert werden konnten. Während bereits das Ende der DDR abzusehen war, kamen Schüler der 78. Oberschule in Dresden zu Wort. Den grundsätzlichsten Unmut formulierte Peggy aus der Klasse 3a, die unmissverständlich klarstellte: „Mir gefällt die Pionierorganisation nicht.“ Spannender als dieses Verdikt erscheint rückblickend aber vor allem die mitgelieferte Begründung: „Da werden wir immer aufgefordert anderen zu helfen.“ Darin stimmte sie mit ihrer Klassenkameradin Kristin überein, die erklärte, ihr missfalle nicht nur das Halstuch, sondern vor allem der Umstand, „daß wir immer spenden müssen“. Ganz im Tenor stärker wahrgenommener Eigeninteressen votierte Klassenkamerad Christian nachdrücklich für „mehr Obst und Gemüse“ im Schulessen. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen bemerkte der offenbar bereits allzu revolutionsmüde Sebastian: „Die Menschen im Land sollen sich wieder vertragen. Es soll nicht immer über Neues geredet, sondern auch mal was gemacht werden.“ Dieser Leserdialog fand in den folgenden Ausgaben eine rege Fortführung, obwohl längst davon auszugehen war, dass die dort zur Diskussion gestellten Reformen des Pionierlebens wohl nur noch die wenigsten Schüler der DDR interessiert haben dürften. In der zweiten Märzausgabe 1990 kam die dritte Klasse der Teiloberschule Haßleben auf die offenbar in besonderem Maße polarisierende Pflicht zur internationalen Solidarität zurück. Zunächst berichteten die Schüler über ihre Verstörung angesichts eines ihnen zu Ohren gekommenen „Mißbrauchs von Soligeldern“ und Waffenlieferungen der DDR. Abschließend jedoch verkündeten sie: „Trotzdem wollen wir die vielen armen Kinder in Afrika, Asien und Amerika nicht einfach im Stich lassen.“ Ihren Ausklang erlebte diese Reihe im Mai 1990. Die Redaktion entschuldigte sich abschließend dafür, nicht alle Anfragen beantwortet zu haben. Als letzte Lesermeldung blieb folgender Hilferuf von Raoul aus Berlin unbeantwortet: „Ich bekomme so schnell Wutanfälle! Was kann ich dagegen tun?“
Sicherlich ließe sich einwenden, dass es sich bei der Auswahl und Zusammenstellung der präsentierten Wortmeldungen wohl doch vor allem um ein letztes Selbstgespräch der Redaktion handelte. Auffällig erscheint dennoch, dass nahezu jede der aufgerufenen Kinderstimmen Bezug auf die ihnen jahrelang abverlangten Solidaritätsleistungen nahm. Auch wenn dabei vereinzelt Ermüdung anklang, wurde die internationale Solidarität mehrheitlich als ein bewahrenswertes Ideal der Pionierorganisation gelobt. So wenig diese Stichprobe aus den letzten Monaten der DDR als repräsentativ gelten kann, so sehr liefert sie doch ein Indiz dafür, dass die Jungpionierzeit und das eigene Engagement zur Linderung weltweiten Kinderleids zu den prägendsten Bestandteilen der sozialistischen Kindheitssozialisation gehören, die bis heute von vielen Ostdeutschen als überwiegend positiv erinnert werden. Es überrascht nicht, dass dieses positiv besetzte Thema auch in den retrospektiven Selbstrechtfertigungsversuchen der ehemaligen Macher einen Ehrenplatz einnimmt. Als Beispiel sei auf Susanne Lost verwiesen, die 1990 zur letzten Chefredakteurin der Trommel avanciert war. Zu ihren Verdiensten gehörte es, eine letztlich vergebliche Generalüberholung des 1991 in „siehste“ umbenannten Blattes eingeleitet zu haben. Mit dieser Erfahrung qualifizierte sich Lost im Jahr 2004 für einen Platz auf dem Podium der erwähnten Tagung an der Universität Potsdam. In ihrem Vortrag warb sie für eine differenziertere Betrachtung der Trommel und versuchte sich beiläufig sogar an einer retrospektiven Ehrenrettung ihres ehemaligen Arbeitgebers. Bei aller grundsätzlichen Kritik, die ihr in der Rückschau auf die fragwürdige gesellschaftserzieherische Funktion der Pionierpresse angebracht erschien, gab es für Lost zumindest einen Bereich ihres vormaligen Wirkens, den sie sich und ihrer Redaktion als uneingeschränktes Verdienst anrechnete: Die über Jahrzehnte gelungene Sensibilisierung der eigenen Leserschaft für die weltweite Not ihrer Altersgenossen und die Wichtigkeit internationaler Solidarität. Auf diesem Feld habe man vermocht, aus den „dürren Worten [des Pionierauftrags] begreifbare Argumente und nachvollziehbare, echte Gefühle“ zu formen und „das Leid der Kinder in Nikaragua, Südafrika oder Äthiopien erlebbar zu machen [sowie] zu Mitgefühl und Solidarität zu erziehen“.
Was Lost in ihrer Selbstwürdigung zu erwähnen vergaß, war der Umstand, dass diese Sensibilisierung für weltpolitische Konflikte und humanitäre Katastrophen stets mit antiimperialistischen Apellen einherging. Wie am Beispiel der inszenierten Freundschaft zu den Kindern Palästinas gezeigt, waren diese ideologischen Schulungen keineswegs nur beiläufiger Natur. Sie folgten dem immer gleichen Erfolgsrezept: Jedes globale Konfliktgeschehen wurde als Ergebnis einer konzertierten Aktion des Imperialismus definiert und zu einem beweisführenden Exemplum für die Existenz und das weltumspannende Handeln dunkler Mächte erhoben. Die Berichterstattung über Israel markierte also auch in dieser Hinsicht keineswegs einen Sonderfall. Ganz generell ließ die kindlich-vereinfachte Version des „marxistischen Klassenkampf-Universalismus“ den globalen Systemwettstreit zu einem Dualismus zwischen imperialistischer Aggression und sozialistischer Friedensaktivität zusammenschmelzen, der letztlich nur dem Schema Gut gegen Böse entsprach. Die Kinder wurden nicht nur zu einer rein abstrakten Auseinandersetzung mit dem Imperialismus angehalten, sie waren vielmehr dazu eingeladen, sich möglichst intensiv mit den Adressaten ihrer Solidarität zu identifizieren. Zur Belohnung für ihre fleißige Sammlungsarbeit durften sie sich als aktive Mitglieder einer weltweiten Solidargemeinschaft begreifen. Mit diesem positiven Selbstbild wurde zugleich stets auch die Vorstellung einer strukturellen Rückständigkeit und Hilfsbedürftigkeit fremder Völker genährt. Teils kam es dabei sogar zur Tradierung rassistischer Ressentiments.
Vor dem Hintergrund dieser engen thematischen Verzahnung ist davon auszugehen, dass die mehrheitlich wohl positive Erinnerung an das eigene Engagement in der Kindheit sich als begünstigender Faktor erwies, um den monokausalen und weltverschwörerischen Argumenten der Imperialismustheorie ein Fortleben in manchen Köpfen zu sichern.
Dass diese Prägungen nicht zwingend nur verderbliche Folgen haben müssen, zeigen zahlreiche Beispiele kreativer und künstleririscher Verarbeitung. Als Ikone darf in diesem Zusammenhang das illustre Bild eines in Häftlingskleidung gehüllten kommunistischen Pelzwesens namens „Teddy Thälmann“ gelten, das spätestens seit der Romanverfilmung von Thomas Brussigs „Helden wie wir“ nicht mehr nur in der kindlichen Vorstellungswelt des Ich-Erzählers ein amüsantes Eigenleben führt. „Teddy“ ist zugleich auch der Titel eines Songs der Berliner Band „Auge.blau“. Die 2009 gegründete Gruppe bringt darin die Quintessenz ihrer frühkindlichen Sensibilisierung für weltpolitische Konfliktlagen in unübertroffener Präzision auf den Punkt:
„Die Schule dort in Weißensee hat mir einst beigebracht: Es liegt am IMPRALISMUS [sic!], wenn’s irgendwo mal kracht!“
Diese frühe Politisierung mag wiederum auch erklären, warum viele Ostdeutsche, die 1990 geschärften Blickes für die sozialen Missstände kapitalistischer Gesellschaften im vereinten Deutschland ankamen, es bis heute vielfach als schwere Kränkung verstehen, wenn ausgerechnet ihnen ein Mangel an Politikverständnis und Demokratieerfahrung attestiert wird.
„Ausgetrommelt“
Die Geschichte der Trommel endete im Februar 1991. „Ausgetrommelt!“ hieß es auf dem letzten Titelblatt. Darunter rief die Redaktion ihrer geschrumpften Leserschar zum Abschied ein letztes „‚tschüß!‘ und ‚Kopf hoch!‘“ hinterher. Es darf als Ausdruck später Einsicht in begangene Verfehlungen verstanden werden, dass man zum Abschied auch noch ein letztes Mal auf Israel zu sprechen kam. Ein Reisebericht bewarb den einstigen „Terrorstaat“ als ein „fernes, fremdes Land“, das vielen Menschen bisher leider nur durch „seine Konflikte und Auseinandersetzungen mit arabischen Völkern“ bekannt geworden sei: „Aber Israel ist mehr.“ In der sich anschließenden Ode an das Gemeinschaftsleben im Kibbuz, wo noch alle „Produktionsmittel […] dem Kollektiv“ gehören, klang ein letztes Mal der Jargon der Trommel an. Statt der Kinder Palästinas standen hier nun „Sigi, Einar und Rahel“ im Mittelpunkt. Wie im Märchen waren die „Kibbuzkinder“ „von klein auf […] für ein Tierkind verantwortlich. […] Da gibt es Kaninchen, Küken, auch Fohlen und jede Menge bunte Vögel, sogar ein Strauß [war] dabei.“ Ein Feuerdrache war nicht mehr darunter.
Hier können Sie denInterner Link: ersten Teil des Artikels lesen.
Dieser Beitrag von Christian Gaubert entstammt dem Buch: Wolfgang Benz (Hrsg.), Antisemitismus in der DDR - Manifestationen und Folgen des Feindbildes Israel, erschienen 2018 im Metropol Verlag.