Antisemitische Schmierereien
Antisemitische Schmierereien auf jüdischen Friedhöfen in der DDR sind im Wesentlichen ab den 1970er-Jahren dokumentiert. Das Umwerfen von Grabsteinen und andere Zerstörungen der Gräber und Friedhöfe haben sich bis 1990 bruchlos fortgesetzt. In der alten Bundesrepublik waren Friedhofsschändungen mit Schmierereien judenfeindlicher Parolen und Symbole, die als „leisere Schändungsart“ gelten, weitaus häufiger, während in der DDR „Schändungsarten, die Lärm verursachen“,
Eine besonders aufwendige Friedhofsschändung mit Schmierereien fand in der Nacht zum 9. Juli 1983 auf dem jüdischen Friedhof in Erfurt statt. Unbekannte ritzten 23 SS-Runen, Hakenkreuze, Parolen wie „Juden raus!“ in Grabsteine ein und zogen sie anschließend mit Kerzenwachs nach. Zudem warfen sie zwei Grabsteine um, von denen einer zerbrach.
Auf Veranlassung der Stadt und der SED wies der Gemeindevorsitzende Herbert Ringer die Gemeindeleitung an, über dieses Vorkommnis keine Äußerungen weder in Schrift- noch in Interviewform abzugeben.
Einerseits stand die jüdische Gemeinde selbst unter Beobachtung, ihre Handlungsmöglichkeiten waren reglementiert, sie galt gleichsam als parallel zu kontrollierendes und sanktionierendes Objekt und war in den Augen der Behörden offenbar ein Unsicherheitsfaktor. Andererseits gab es den eigentlichen Ermittlungsgegenstand, den Tatbestand einer massiven, unzweifelhaft antisemitischen Friedhofsschändung, deren Aufklärung aus Sicht der jüdischen Gemeinde oberste Priorität hatte, aber nicht im Mittelpunkt des Handelns der damit befassten Organe stand.
Im vorliegenden Fall sind zwei parteiinterne Schriftstücke, ein Bericht und ein Gesprächsprotokoll, überliefert. Offensichtlich wird das doppelte Erkenntnisinteresse der staatlichen Organe, ein Parallelvorgang und das vorrangige Interesse an lückenloser Geheimhaltung. Der Stellvertreter des Erfurter Oberbürgermeisters bewertete die Schändung schließlich zwar unumwunden, jedoch ohne die Tat als antisemitisch zu bezeichnen. Er äußerte: „Das Vorkommnis ist als eine eindeutig neofaschistische Handlungsweise einzuschätzen.“
Polizeiliches Ermittlungsergebnis: Die Täter sind Kinder
Im Fall der Friedhofsschändungen sind fast keine Zeugnisse über Motivationen der Täter überliefert, lediglich in zwei Fällen machten Kinder, sämtlich unter zwölf Jahren, einige Angaben. Eine Äußerung aus dem Jahr 1982, bezogen auf die Chemnitzer Stätte, konnte nur der erwachsenen Welt entstammen oder war eine direkt von Erwachsenen übernommene Formulierung: „Der Friedhof muss weg!“
Auch der Alte Jüdische Friedhof in Dresden war mehrfach Übergriffen ausgesetzt. 1977 wurden laut Friedhofsgärtner ungefähr 25 kleinere und größere Grabsteine umgestoßen und „verschiedene Ornamente und Symbole abgebrochen“, zudem wurden laufend „Müll und Unrat“ über die Friedhofsmauer geworfen.
Nur in Städten mit einer jüdischen Gemeinde führten zwischen 1953 und 1987 die polizeilichen Ermittlungen zur Ergreifung jugendlicher Täter: 1974 in Schwerin, 1977 in Dresden und in Berlin-Weißensee, 1981 in Leipzig. Den Jugendlichen wurden neben der Schadensbegleichung erzieherische Maßnahmen auferlegt.
Mehr als drei Viertel der Friedhofsschändungen von 1952/53 bis 1989 in Thüringen, wo die Überlieferung am dichtesten ist, wurden nicht aufgeklärt. Die übrigen 14 der insgesamt 63 bekannten Schändungen begingen laut der polizeilichen Ermittlungsergebnisse ausschließlich Kinder unter 14 Jahren; da sie noch nicht strafmündig waren, wurde kein Verfahren eingeleitet, die polizeilichen Ermittlungen wurden eingestellt. Gelegentlich kamen erhebliche Zweifel an der Täterschaft von Kindern auf, sodass die jüdische Gemeinde die Polizei zur Wiederaufnahme der Ermittlungen aufforderte – in allen Fällen erfolglos.
Das nahezu durchgängige Ermittlungsergebnis „kindliche Täter unter 14 Jahren“ wirft Fragen auf. Ein unmündiger Täterkreis sollte zweifelsfrei bestätigen, dass keine antisemitischen Einstellungen vorlägen. Die Frage nach den Ursachen und Hintergründen der vielen, nicht aufgeklärten Übergriffe auf jüdische Stätten sowie die Frage nach der Verbreitung und Ausprägung von Antisemitismus in der DDR bleibt angesichts der zahllosen Friedhofsschändungen virulent. Die Relativierung der Schändungen als Kinderspiel oder „Dumme-Jungen-Streich“ hatte sich als gängige Argumentation etabliert. Funktionären des SED-Zentralkomitees gegenüber kritisierte der Präsident des Verbands der Jüdischen Gemeinden in der DDR 1973 als besonders eklatantes Beispiel die Schuldzuweisung an drei- bis vierjährige Kinder für eine Schändung 1972 in Dresden. Nach einer Tat würde zwar sofort, nicht aber mit akzeptablen Argumenten reagiert.
Spektakuläre Strafverfolgung 1988
„Bei neonazistischen Taten […] habe es grundsätzlich den Auftrag gegeben, nachzuweisen, dass die ‚Wurzeln‘ in der BRD lagen“,
Wie ein Schauprozess muten die Inszenierung, das Strafmaß und die stereotype Berichterstattung an. Die Jugendlichen hätten sich durch ihre Taten von der Gesellschaft isoliert, da in der DDR durch die konsequente Erfüllung des Vermächtnisses der antifaschistischen Widerstandskämpfer der Antisemitismus und seine gesellschaftlichen Grundlagen nicht mehr existierten. Ihre antisemitischen Einstellungen hätten sie, so der Grundtenor der Verhandlung, ausschließlich vom „Westfernsehen“, vom „Klassenfeind“ übernommen.
Vier Monate später, am Abend des 27. Juli 1988, warfen vier Jugendliche auf dem Potsdamer jüdischen Friedhof 17 Grabsteine, bei einigen auch deren Sockel, eine Marmorplatte, die zerbrach, und eine Granitsäule um und zerstörten Teile der Umrandung eines Familiengrabes. Einen der umgestoßenen Grabsteine richteten sie danach wieder auf. Festgestellt wurde, dass die Täter „mit hoher Intensität und beachtlicher Kraftanstrengung vorgegangen“ waren.
In der Hauptverhandlung Mitte Oktober 1988 wurden gegen drei der Jugendlichen Haftstrafen von einem Jahr und zwei Monaten bis zu einem Jahr und zehn Monaten ausgesprochen; der vierte wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Die Umgestaltung zur DDR-Gedenkstätte
Die Juden nicht als Hauptopfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu benennen, wie im Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945, entsprach der Haltung der Sowjetunion, wo man „nicht über die Ausrottung der Juden zu sprechen“ pflegte.
Während die „Kämpfer“ heroisiert wurden, vergaß man die jüdischen „Opfer“ oder subsumierte sie unter Nationalitäten, wodurch sie ebenfalls unsichtbar wurden. Dies hatte auch für einen Teil der jüdischen Friedhöfe Folgen. Nicht wenige von ihnen wurden in Gedenkstätten für die OdF umgewandelt und neu gestaltet, oft wesentlich verkleinert; in diesem Zusammenhang kam es in Einzelfällen zu brutaler Zerstörung. Manche Stätten waren kaum noch als jüdische Friedhöfe zu erkennen, sondern wurden durch die Zentrierung der Anlagen auf einen OdF-Gedenkstein und die Abräumung der alten Grabsteine bzw. deren ornamentale Neuaufstellung zu antifaschistischen Gedenkanlagen umfunktioniert. Nicht selten ging damit jeglicher Hinweis auf die eigentlich jüdische Stätte verloren, bei einigen selbst der Hinweis auf die jüdische Identität der Opfer des Faschismus.
In Alt-Strelitz etwa entstand auf einem Achtel der Friedhofsfläche eine sehr kleine Gedenkanlage mit drei Grabsteinen, der mittlere als Gedenkstein neu beschriftet, umgeben von einigen liegenden Grabsteinbruchstücken. Die Stelen und Obelisken des Friedhofes wurden zerschlagen und im Stadtgebiet wiederverwendet.
Zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome von 1938 plante die DDR-Regierung landesweit Gedenkfeiern, die auch auf den jüdischen Begräbnisstätten mit Veranstaltungen und Kranzniederlegungen begangen werden sollten. Hierfür trat die Staatsführung über die Bezirke an die Kreise und Kommunen heran. Die jüdischen Gemeinden, deren Repräsentanten zur zentralen Gedenkfeier geladen waren, wurden in diese lokalen Aktivitäten kaum einbezogen.
Die Bedeutung der jüdischen Friedhöfe für Überlebende
Für Überlebende der Shoah war es äußerst schmerzhaft, wenn die Grabstätte ihrer nächsten Angehörigen zerstört oder aufgelöst wurde. Entstanden waren Begräbnisstätten für Überlebende, die noch in den Wochen nach der Befreiung an den Folgen ihres Martyriums gestorben waren. Eine leicht retouchierte Fotografie einer solchen Begräbnisstätte in Hillersleben zeigt lange Reihen von Grabhügeln mit jeweils einer Grabtafel im Halbschatten unter Bäumen.
Nach Gerüchten über die Auflösung des Friedhofes wandte sich 1948 in Sorge um das Grab der Mutter eine Frau aus Debrecen in Ungarn an die Synagogen-Gemeinde in Magdeburg. „Wir haben erfahren, dass der Friedhof von Hillersleben vernichtet wurde. […] Wir hatten bisher immer als einzigen Trost, dass wir ein Grab haben, das wir besuchen können, und wenn es eine Möglichkeit gibt, können wir unsere Geliebte exhumieren und nach Hause tragen. […] Wenn wir daran denken, so fühlen wir, dass man es nicht aushalten kann. […] wirken Sie bitte darauf hin […], dass die dort befindlichen Personen diesen Platz nicht benutzen sollten, sondern umgeben Sie ihn mit einem Holzzaun, wie einen heiligen Platz.“
Eine solche Anzeige in einer US-amerikanischen jüdischen Zeitung aufzugeben war jedoch für eine jüdische Gemeinde in der DDR undenkbar, da dies als Kontaktaufnahme mit dem „Klassenfeind“, mit „kosmopolitischen“ oder „zionistischen Agenten“ ausgelegt worden wäre. Doch waren, nachdem Juden vor den Nationalsozialisten in alle Welt hatten fliehen müssen und Überlebende nach 1945 vielfach emigrierten, gefahrlose und ungehinderte Kontakt- und Korrespondenzmöglichkeiten von elementarer Bedeutung, ob zum Auffinden von Angehörigen oder aus anderen Gründen wie aus Sorge um die Gräber der Nächsten. Eine Fortsetzung der oben aufgeführten Korrespondenz ist nicht dokumentiert.
Fazit
Antizionismus oder auch nur Israel-Bezüge finden sich in der gesamten gesichteten behördlichen Korrespondenz mit den jüdischen Gemeinden über die Friedhöfe oder deren Schändungen nicht ein einziges Mal. Auch die wenigen dokumentierten Aussagen von Tätern enthalten keinerlei Andeutungen Israel betreffend oder Manifeste antizionistischer Ideologie, ebenso wenig die antisemitischen Schmierereien im Rahmen von Friedhofsschändungen. Die einzige Erwähnung eines antizionistischen Kontextes ist die zitierte Äußerung einer Mitarbeiterin der jüdischen Gemeinde in Erfurt von 1983. Die Friedhofsschändungen, nach 1945 in ganz Deutschland Ausdruck des nach wie vor bestehenden Antisemitismus, setzten sich auch in der DDR in ungebrochener Kontinuität bis 1990 fort, verschärften die judenfeindliche Aggression ab den 1970er-Jahren noch durch Schmierereien, Parolen und nazistische Symbole. 1953 verlor die DDR-Gesellschaft ihre kritischen Stimmen für die Anprangerung und Abwehr von Antisemitismus durch die antizionistischen Repressionen des SED-Regimes nachhaltig. In dieser Zeit etablierte sich die staatliche antizionistische Ideologie vollends. Antisemitismus und Antizionismus waren scheinbar entkoppelt und die Camouflage perfektioniert. Gerade die Friedhofsschändungen, der Eifer und die Zerstörungswut in diesen anonymen, hinterhältigen und primitiven Handlungen offenbarten das Fortbestehen eines aggressiven Antisemitismus.
Das staatlich verordnete und allgemeine behördliche Verharmlosen und Verheimlichen der Friedhofsschändungen war äußerst erfolgreich. Es funktionierte wie eine ideologische Immunisierung gegenüber der Wahrnehmung von Antisemitismus. Der Antizionismus war eine der zentralen Staatsideologien der DDR. Er weist antisemitische Züge auf, was aber von den Verantwortlichen per se verneint wurde. Das Dogma der Nichtexistenz von Antisemitismus im antifaschistischen sozialistischen Staat führte zu einem komplizierten Umgang mit den tatsächlichen antisemitischen Phänomenen wie den Friedhofsschändungen. Beide Ideologeme, der Antizionismus als Camouflage und das sozialistische Dogma der Nichtexistenz von Antisemitismus, waren jeweils auf ihre Weise darauf ausgerichtet, Antisemitismus zu leugnen. Es bildete sich ein eigenes Konglomerat der Judenfeindlichkeit in der DDR aus, das von den allgegenwärtigen ideologischen Facetten des staatlichen Antizionismus überlagert wurde. Der Antizionismus fungierte dabei als Ersatzventil für antisemitische Vorurteile. Dies lässt sich allerdings nicht explizit in den Friedhofsschändungen erkennen. Der staatliche Umgang mit den jüdischen Friedhöfen gewann an Bedeutung, weil nach 1945 betreuende jüdische Gemeinden fehlten. Die Stätten wurden nicht beachtet, vergessen, waren Schändungen und Verwahrlosung ausgesetzt, auch der radikalen Umgestaltung in OdF-Gedenkstätten. Die DDR, ein laizistischer atheistischer Staat, setzte ihre Gedenkkultur autoritär und bewusst auf ausgewählten jüdischen Friedhöfen durch, aber nicht um der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken, sondern um sich als antifaschistischer Staat zu legitimieren.
Dieser Beitrag von Monika Schmidt entstammt dem Buch: Wolfgang Benz (Hrsg.), Antisemitismus in der DDR - Manifestationen und Folgen des Feindbildes Israel, erschienen 2018 im Metropol Verlag.