Der Antisemitismus nach dem Krieg
„Wenn wir […] jedoch auf die vergangenen zwei Jahre seit dem Zusammenbruch des Naziregimes zurückblicken, so erfüllt uns das, was sich in den letzten Monaten wieder abspielt, mit großer Besorgnis und tiefster Trauer. […] Inzwischen werden wieder Friedhofsschändungen am laufenden Band gemeldet, […] 44 Friedhofsschändungen in den verschiedensten Gegenden Deutschlands“, resümierte Leon Löwenkopf, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Dresden und Mitbegründer und Präsidiumsmitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), in seiner Rede Anfang 1948 auf der 2. Hauptkonferenz der VVN die ersten Nachkriegsjahre. „Die Millionen plötzlicher Auch-Demokraten und Auch-Antifaschisten, die gestern noch für Hitler durch dick und dünn gingen und morgen wieder gehen werden, haben lediglich ihr Mäntelchen gewendet. […] Es ist daher unsere heiligste Pflicht, schonungslos den kranken Kern aufzudecken und immer wieder zu warnen.“ Diffamiert als „zionistischer Agent“, wurde Löwenkopf am 21. Januar 1953 aus der VVN ausgeschlossen, nachdem er wegen der zugespitzten antijüdischen Repressionen aus der DDR geflohen war. Als 1947 eine Welle antisemitischer Ausschreitungen ganz Deutschland erfasste, waren es vor allem die Repräsentanten der nach Kriegsende wieder gegründeten jüdischen Gemeinden, die das Aufleben des Antisemitismus anprangerten. Auch als Mitglieder der VVN erfüllten gerade die jüdischen Überlebenden diese Aufgabe.
Befremdet bemerkte Julius Meyer, Vorstandsmitglied der Berliner Jüdischen Gemeinde und der VVN sowie deren Vertreter in der Volkskammer und Anfang der fünfziger Jahre Präsident des Verbands der Jüdischen Gemeinden in der DDR, im Juni 1947 im VVN-Zentralvorstand, „daß bisher nur von den rassisch Verfolgten selbst der Kampf gegen den Antisemitismus geführt werde, während dies eigentlich die Aufgabe der nichtjüdischen demokratischen Kreise wäre“. Auch er floh im Januar 1953 aus der DDR und wurde als „zionistischer Agent“ verunglimpft. Der Nachkriegsantisemitismus, der sich vor allem in Übergriffen auf die jüdischen Begräbnisstätten manifestierte, ist noch im historischen Rückblick eklatant. Der DDR-Historiker Olaf Groehler schrieb, allerdings erst 1995: „Im Herbst 1947 verging keine Woche, in der nicht in Deutschland ein jüdischer Friedhof geschändet wurde, teilweise schlimmer verwüstet als durch die Nazibarbaren.“
Übergriffe in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, zum Teil gezeichnet von regelrechter Zerstörungswut, gab es beispielsweise 1946 in Salzwedel und Stralsund und 1947 in Zittau, Leipzig und Chemnitz, in Oranienburg und Berlin; einer der Friedhöfe war nach der nationalsozialistischen Verwüstung gerade erst instand gesetzt worden. Die jüdischen Begräbnisstätten, Zeugnisse vergangenen jüdischen Lebens, waren nach dem Holocaust weitestgehend verwaist. Nur selten wurden sie von nichtjüdischen Anwohnern gepflegt. Die wenigen nach Kriegsende wiedergegründeten jüdischen Gemeinden versuchten, die zahlreichen Friedhöfe, die ihnen größtenteils nicht bekannt waren, zu erfassen und zu betreuen. Gelangte ihnen eine neue Schändung zur Kenntnis, bemühten sie sich um Strafverfolgung und Schadensbeseitigung. Über Ausschreitungen auf jüdischen Friedhöfen wurde in der Presse der SBZ und der frühen DDR kaum berichtet; nur die jüdische Wochenzeitschrift Der Weg, die in der breiten Bevölkerung wenig rezipiert wurde, kam dem zuverlässig nach.
„Etwa 40 Grabsteine, weit mehr als zuerst gemeldet, waren gewaltsam aus ihren Fundamenten gehoben und mit harten Gegenständen zertrümmert worden. Die Einrichtungsgegenstände in der Leichenhalle waren gestohlen, die Dachrinnen abgerissen, die Türfüllungen herausgeschlagen und das gesamte Gelände verunreinigt.“ Zudem seien „aus der Friedhofsmauer, die bisher erhalten war, […] Steine entfernt“ worden, berichtete Der Weg über eine massive Schändung der jüdischen Begräbnisstätte in Oranienburg im Oktober 1947. Darüber hinaus waren Bäume abgesägt worden. Der damals etwa 100 Jahre alte jüdische Friedhof in Oranienburg, der Stadt, in der sich das Konzentrationslager Sachsenhausen befunden hatte, das nun als sowjetisches Speziallager diente, hatte die NS-Zeit unbeschadet überstanden, er war lediglich „stark verwildert“. Etwa 70 Grabsteine zählte die Stätte. Nun aber handele sich „ohne Zweifel um eine vorsätzliche Zerstörung, die nicht von Kindern ausgeführt werden konnte, da nur starke Männer die Grabsteine von ihren Sockeln heben konnten, die sie dann mit schweren Instrumenten zertrümmert haben“. Die Polizei ermittelte 8- bis 14-jährige Jungen als Täter, ohne ihre genaue Anzahl anzugeben.
Mit Versuchen der Umdeutung, Verharmlosung und Leugnung der Schändungen sahen sich die jüdischen Gemeinden in den nächsten 40 Jahren regelmäßig konfrontiert. In der ersten Zeitschriftennotiz zu diesem Fall hieß es: „Von amtlicher Seite wird immer wieder bestritten, daß es einen aktiven Antisemitismus überhaupt noch gibt.“ Beamte der Eberswalder Landeskriminalpolizei forderten die Jüdische Gemeinde auf, „in der Zeitschrift ‚Der Weg‘ zu widerrufen, daß es sich um eine antisemitische Tat handele, es sei vielmehr ein sogenannter ‚Dummenjungenstreich‘ gewesen.“ Die Berliner Gemeinde wandte sich an die Sowjetische Militäradministration, verwies auf die ihres Wissens bereits zweite Friedhofsschändung in der Sowjetischen Besatzungszone, bat, „umgehend alle Maßnahmen zu ergreifen, um in Zukunft solche Vorkommnisse zu vermeiden, zum anderen aber auch eine gerechte Sühne für diese Schandtaten herbeizuführen“. Sie warnte davor, die Tat zu unterschätzen: „Wir müssen gegen die Schändung jüdischer Friedhöfe aufs schärfste Verwahrung einlegen. Wir sind der Auffassung, dass derartige Schändungen der Beginn einer neuen antisemitischen Welle“ sind.
Ende 1951 waren die Schäden entgegen der kommunalen Zusage nicht behoben, doch waren laut Brandenburgischer Landesregierung Grabsteine abgeräumt worden. Den Zustand der Stätte bezeichnete die Landesregierung als schlecht, die vier Jahre zurückliegende Schändung erwähnte sie nicht, sondern suggerierte Kriegseinwirkung als Ursache für den desolaten Zustand des Friedhofes. Auch eine ebenfalls gravierende Friedhofsschändung in Berlin wenige Monate vor der in Oranienburg hatten die Behörden verharmlost. „Wir verlangen, daß den Friedhöfen endlich der Schutz gewährt wird, der notwendig ist, um die Ruhe der Toten zu gewährleisten, und daß die jüdischen Friedhöfe, die durch die Heldentaten der Nazis verwüstet wurden, endlich wiederhergestellt werden“, forderte Der Weg 1947 nach der Schändung des jüdischen Friedhofes in der Berliner Schönhauser Allee. Ermittlungen wurden wegen der späten Entdeckung der Tat und der ohnehin schweren Kriegsschäden nicht eingeleitet, zumal „nicht völlig von der Hand zu weisen ist, daß die Schäden durch Kinder verursacht sind“. Selbst wenn dies zuträfe, hieß es in dem Zeitschriftenartikel, zeugten die entstandenen Schäden „von einer Gefühlsrohheit, die nicht genügend gekennzeichnet werden kann“. Auch die Berliner Zeitung bezog Position: „Die in diesem Zusammenhang erhobene Forderung nach einer Wiederherstellung und einem Schutz der jüdischen Friedhöfe muß als nur zu berechtigt anerkannt werden.“ In vereinzelten Strafverfahren wurden in der SBZ und der frühen DDR Friedhofsschändungen geahndet, doch mussten die jüdischen Repräsentanten bereits deutlichen Anzeichen für eine politische Strategie der Verharmlosung der Schändungen entgegentreten.
In der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1950, zwei Wochen nach der Einweihung des Denkmals für die Opfer des Judenmords auf dem großen jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee, wurde dieser geschändet. Mindestens zwölf Grabsteine waren umgestoßen worden. Der Vorstand der Jüdischen Gemeinde zu Berlin forderte den Ostberliner Oberbürgermeister Friedrich Ebert in einem offenen Brief auf, „die Täter einer so ruchlosen Tat schnellstens und nachdrücklichst zur Verantwortung zu ziehen. Die Aufklärung einer derart verabscheuungswürdigen Handlung liegt nicht nur im Interesse der Jüdischen Gemeinde, sondern die gesamte Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, daß solche Akte schnellstens untersucht werden und nicht ungesühnt bleiben.“ Er werde doch sicher verstehen, dass „gerade die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft, die so unendliche Opfer in der Zeit des Nazi-Regimes bringen mußten, auf das Tiefste von solchen ruchlosen Taten berührt werden“. Ausdrücklich wurde auf den Volkskammerpräsidenten Bezug genommen, der bei der Einweihung den Schutz der Gräber durch die Behörden zugesichert hatte. Möglicherweise deshalb wurde in diesem Fall ein Strafverfahren eingeleitet. Im August wurden drei Jugendliche im Alter von 16 und 18 Jahren zu 9 bzw. 15 Monaten Jugendgefängnis verurteilt. Gleichfalls virulent waren die Fragen der Wiedergutmachung des NS-Unrechts an den Juden, der Versorgung der Überlebenden und der Unterstützung der jüdischen Gemeinden. Die jüdischen Friedhöfe betraf dies insofern, als sie verwaist waren und dringend der Instandsetzung und Pflege bedurften. Verwahrlost oder geschändet, befanden sich viele in sehr schlechtem Zustand. Doch die Kommunen schenkten ihnen meist nur wenig Aufmerksamkeit. Nach der NS-Zeit verfügten die jüdischen Gemeinden über keinerlei dokumentarische Überlieferung zu den Friedhöfen für die Zeit vor 1945. Auch gab es kaum ein kontinuierliches Wissen vonseiten der Gemeindemitglieder über die etwa 300 Begräbnisstätten auf dem Gebiet der DDR. Offiziell zählte der Staat nur etwa 125 jüdische Friedhöfe; nicht einmal die Hälfte war bis zum Ende der DDR registriert worden.
Im Gegensatz zu den jüdischen Gemeinden hatte die Bevölkerung der jeweiligen Orte Kenntnis von den Friedhöfen und ihrem Zustand. Doch dieses Wissen war nach der Auslöschung der jüdischen Gemeinden mit Schuld, Abwehr und womöglich antisemitischer Feindlichkeit behaftet, was zu tabuisierendem Schweigen führte. Die jüdischen Gemeinschaften waren bemüht, sich einen Überblick über die große Anzahl verwaister Begräbnisstätten zu verschaffen, hatten dabei aber mit großen Entfernungen und oft abgelegenen Lagen zu kämpfen, hinzu kamen die unbefugte Nutzung von privater Seite sowie Ansprüche und Interessen der Kommunen. In Brandenburg gründete sich nach 1945 keine einzige jüdische Gemeinde neu, doch gab es hier fast 60 jüdische Friedhöfe. In Sachsen entstanden nach Kriegsende drei jüdische Gemeinschaften, in Chemnitz, Dresden und Leipzig. In Thüringen versuchte die jüdische Gemeinde in Erfurt für jeden der zahlreichen Friedhöfe engagierte Privatpersonen, oft Rentner, als Friedhofspfleger zu gewinnen. Entsprechend ist hier die überlieferte Dokumentation von Übergriffen auf die vielen Stätten relativ durchgängig gegeben. Dauerhaft bestanden in der DDR acht jüdische Gemeinden.
Die antisemitischen Übergriffe nach 1945 deuten unzweifelhaft auf die Verbreitung eines ungebrochen und latent virulenten Antisemitismus. Viele frühe Gedenkfeiern waren „in ihrem Kern eine einzige Anklage gegen den deutschen Nachkriegsantisemitismus“. Die VVN erklärte 1947, diese „Zwischenfälle und Ausschreitungen in verschiedenen Teilen Deutschlands beweisen, daß der Antisemitismus in einer latenten Form nach wie vor in unserem Volke schlummert“. Jüdische Repräsentanten erinnerten nach 1945 an die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswüchsen des Antisemitismus vor und nach 1945. Sie und die jüdischen Gemeinden waren die wichtigste Stimme, die die Gesellschaft und die Politik auf die Folgen und die Ursachen der NS-Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung und die erneuten antisemitischen Ausschreitungen hinwiesen. Die deutsche Gesellschaft verspürte und übernahm Verantwortung in nur geringem Maße. In der frühen DDR stand im staatspolitischen Umgang mit den Friedhofsschändungen vor allem die Befürchtung im Vordergrund, antisemitische Straftaten würden vom Westen propagandistisch gegen die DDR genutzt. Die Übergriffe sollten angesichts ihrer antisemitischen Aggression verheimlicht werden. Dennoch wurden Taten zum Teil strafrechtlich verfolgt. Der ideologisierte und verdrängende Umgang mit den Friedhofsschändungen verschärfte sich 1952/53 im Zuge der stalinistischen antizionistischen Repressionen gegen Juden.
Als im Sommer 1953 der jüdische Friedhof in der Schönhauser Allee in Berlin erneut geschändet wurde, machten ostdeutsche Medien „Agenten aus dem Westen“ dafür verantwortlich. Die antizionistische Ausrichtung des DDR-Staates und die antifaschistische Staatsdoktrin, die den Antisemitismus in der DDR als nicht existent erklärte, griffen hier ineinander. Das Konstrukt „von Agenten aus dem Westen“ als Verursacher enthält deutliche Aspekte einer Verschwörungstheorie und ähnelte darin strukturell dem Stereotyp des „zionistischen Agenten“ in der Propaganda des stalinistischen Antisemitismus und des Antizionismus. Die antisemitischen Straftaten als „vom Ausland gesteuert“ abzuwehren, sprach die Verantwortlichen in Staat und Partei frei und entband sie von jeglicher politischen Auseinandersetzung mit der fortgesetzten Judenfeindschaft im eigenen Land nach 1945. Neue Aspekte von Judenfeindschaft überlagerten die alten Vorurteilsmuster. Nach dem Holocaust kamen Formen und Mechanismen der Schuldprojektion auf die Opfer sowie der Schuldabwehr, der Leugnung oder der Tabuisierung hinzu. Zudem war der Antisemitismus nun vielerorts in Europa eine Judenfeindschaft nahezu ohne Juden, was die Feindbilder noch mehr von den mit ihnen Stigmatisierten entkoppelte. Nicht selten mit Bezug auf die Staatsgründung Israels 1948 bzw. der Existenz Israels entwickelte sich eine „antizionistische Komponente im Antisemitismus“. In den Staaten, die Bündnispartner der Sowjetunion waren, wurden insbesondere Verschwörungstheorien wie die „zionistische Weltverschwörung“ bemüht, einer Camouflage des älteren Stereotyps einer „jüdischen Weltverschwörung“. Vermeintliche „zionistische Agenten“ wurden in Schauprozessen angeklagt und hingerichtet. Seit 1952 kam es in einem Klima antijüdischer politischer Ausgrenzung in der VVN zur Forderung eines Verbots der jüdischen Wochenzeitschrift Der Weg, die als „Schmutzblatt“ geschmäht wurde. Neben der Anprangerung des erneuten Antisemitismus thematisierte das Blatt vor allem die soziale Situation der jüdischen Überlebenden und die politisch heikle Frage der Restitution. Am 15. Januar 1953 verbot das ZK-Sekretariat der SED den Vertrieb der jüdischen Zeitschrift. Damit endete jegliche öffentliche Berichterstattung über die Friedhofsschändungen.
Am 21. Februar 1953 wurde die VVN als Massenorganisation der NS-Verfolgten mit mehrheitlich jüdischen Mitgliedern aufgelöst und durch eine kleine Kaderorganisation, das Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer, ersetzt. Zur Begründung hieß es: Die „Ausrottung aller Wurzeln des Faschismus“ habe in der DDR die Tätigkeit der VVN „hinfällig“ gemacht. Damit verlor die Gesellschaft die Stimme einer eigenständigen Organisation von NS-Verfolgten. Mit der VVN hatte gerade durch die Präsenz ihrer jüdischen Mitglieder für einige Jahre in der SBZ und der frühen DDR ein gesellschaftspolitisches Forum zur Auseinandersetzung mit der NS-Judenverfolgung und dem Nachkriegsantisemitismus bestanden. Die neue Kaderorganisation widmete sich der Frage der Kontinuität von Judenfeindschaft oder den Friedhofsschändungen nicht mehr. Die Deutungshoheit über Antisemitismus im Land war damit vollends auf Partei und Staat übergegangen. Die gelegentliche Anprangerung der Taten als Schändung oder als Ausdruck von Antisemitismus ging nun nur noch von den jüdischen Gemeinden aus und beschränkte sich zudem auf die Korrespondenz mit den Behörden. Auch hier zeigt sich eine Vermeidung der direkten Benennung der Übergriffe als antisemitisch motiviert. Die antisemitische, stalinistisch geprägte Politik von Staat und Partei Anfang der 1950er-Jahre bis zu Stalins Tod 1953 mit Verhaftungen und Durchsuchungen löste bei den in der DDR lebenden Juden große Verunsicherung und Angst vor einer erneuten judenfeindlichen Eskalation aus. Einen Höhepunkt markierte die Veröffentlichung der „Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský“ Anfang Januar 1953. Sie war Teil einer antisemitisch ausgerichteten Kampagne der SED und richtete sich vor allem gegen den nichtjüdischen Westemigranten Paul Merker, der sich als einziges Politbüro-Mitglied für eine Wiedergutmachung des NS-Unrechts an den Juden eingesetzt hatte und die Staatsgründung Israels befürwortete. Er wurde als „Judenknecht“ oder „König der Juden“ verhöhnt; ebenso wurden er und einige führende jüdische Kommunisten als „Kosmopoliten“, „Zionisten“ und „Agenten“ einer „zionistischen Agentur des amerikanischen Imperialismus“ oder des „wurzellosen Kosmopolitismus“ diffamiert. Die ideologische Argumentation der „Lehren“ beruhte auf dem Prinzip der Camouflage. Die Begriffe „Jude“, „jüdisch“ oder „antisemitisch“ wurden vermieden und stellvertretend die Begriffe „zionistisch“ und „Zionisten“ etc. verwendet, um nicht des Antisemitismus bezichtigt zu werden. Fortan wurde in der DDR ideologisch zwischen Antisemitismus und Antizionismus unterschieden. Jüdischen Kommunisten wurde bei den bis Mai 1953 fortgesetzten „Überprüfungen“ der Parteikommissionen „ihre Abstammung damals stets als ein Makel ausgelegt“. Unter den Juden in der DDR herrschte ein Klima des Misstrauens und der Angst.
Nach der Anfang 1953 einsetzenden Fluchtwelle von über 500 Juden in den Westen verblieben nur sehr kleine jüdische Gemeinden im Land, die sich neu formieren mussten. Die Gemeindemitglieder waren oft Überlebende der Konzentrationslager, die vor der NS-Herrschaft oft nicht in Deutschland gelebt oder den NS-Terror versteckt in der Illegalität überstanden hatten oder mit nichtjüdischen Ehepartnern verheiratet waren; viele von ihnen waren krank. Die Jüngeren versuchten zu emigrieren. Die Gemeinden überalterten rasch. Die Berliner Gemeinde spaltete sich in Ost und West. „Besonders schwer wog, daß Vorsitzende und Vorstandsmitglieder geflohen“ waren. „Die in den sieben Jahren seit Kriegsende mühsam aufgebauten Gemeindestrukturen rissen in der Mitte durch. Enorm geschwächt, hatten die Gemeinden in Ostberlin und der DDR wieder einen Neuanfang zu machen.“ In den folgenden Jahrzehnten waren die jüdischen Gemeinden in der DDR marginalisiert und staatlicher Kontrolle unterworfen. Der sich in den ersten Jahren der DDR etablierende stalinistisch geprägte Antisemitismus und der sich zunehmend ausbildende Antizionismus, beides staatlich propagierte Ideologeme, formten ein spezifisches Konglomerat des Antisemitismus in der DDR für die folgenden Jahrzehnte. Die Basis bildete der tradierte latente, eben erst rassistisch ausgelebte Antisemitismus, verwoben mit der Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden. Gerade auch die bruchlos stattfindenden Friedhofsschändungen belegen das.
Friedhofsschändungen 1953 bis 1987 – eine totgeschwiegene Normalität
Neun Schändungen, sieben von ihnen in den Jahren von 1954 bis 1956, finden sich in einer Aufstellung, vermutlich des Verbands der Jüdischen Gemeinden in der DDR: In Eberswalde waren 1954 „sämtliche Denksteine umgeworfen und einzelne zerschlagen“ worden. 1956 war der Friedhof nach der umfangreichen NS-Schändung zum dritten Mal „vollständig zerstört“, „die Grabdenkmäler umgeworfen und die Gräber verwüstet“ worden. In Bernburg wurden 1955 „64 Gräber verwüstet und ein großer Teil der Gedenksteine zerschlagen“, 1956 in Zittau drei Grabsteine umgeworfen, in Rostock, wo bereits zuvor das VVN-Denkmal beschädigt und Gräber geschändet worden waren, „20 Gräber […] verwüstet, etwa 20 Grabsteine, darunter einige große mit Sockel, umgeworfen“, in Schleusingen 20 bis 25 Grabsteine umgeworfen; in Marisfeld wurde ein Großteil der Grabsteine umgestoßen – die Täter zwei Schuljungen. In Egeln wurde der Friedhof geschändet. Die Zerstörungen gingen teilweise über das Genannte hinaus.
Ende 1957 waren die fortgesetzten Friedhofsschändungen Thema einer Verbandstagung; währenddessen wurde eine weitere Schändung in Gotha mit neun beschädigten Grabstätten neu gemeldet. Jede Gemeinde sollte fortan bei Friedhofsschändungen die Staatsorgane informieren, sie zur Vorsorge gegen weitere Übergriffe auffordern, die sofortige Wiederherstellung in die Wege leiten und die örtlichen Organe in ihrer Aufgabenerfüllung stärker in die Pflicht nehmen. Viele der in der Aufstellung genannten Friedhöfe waren jedoch weiterhin Schändungen ausgesetzt, beispielsweise die jüdische Begräbnisstätte von Egeln in den Jahren 1958, 1965, 1978 und 1980. Auch der Neue Jüdische Friedhof in Eberswalde erfuhr massive Schändungen. In diesem Fall oblag der Stadt die Pflege und Erhaltung des Friedhofes, die die Stätte aber grob vernachlässigte. Als ein US-Bürger das Grab seiner Eltern 1965 besuchen wollte, schaltete sich kurzfristig der Rat des Kreises ein. Doch die Übergriffe setzten sich fort. 23 Grabsteine wurden in Eberswalde am 13. März 1972 umgeworfen, nachdem erst am 22. Februar 49 Grabsteine wieder aufgerichtet worden waren. Nur beiläufig erwähnte der Bürgermeister im Zuge seiner polizeilichen Anzeige, dass seit Längerem „die vorhandenen Grabsteine durch unbekannte Personen umgestoßen“ würden. Im Oktober lagen 63 Grabsteine am Boden. Aus Kostengründen schlug die Friedhofsverwaltung vor, einen Gedenkstein auf einer Rasenfläche ohne Wege zu errichten, die alten Grabsteine zu verkaufen, die etwa 80 Grabsteinfundamente zu entfernen und die Bäume zu roden. Auch sie erwähnte nebenbei: „Nach unseren langjährigen Erfahrungen sind die Grabsteine im Jahr mehrmals umgeworfen worden.“ Im August 1973 waren alle Grabsteine umgestoßen. Es gibt keinen Hinweis auf eine Anzeige bei der Polizei. Um die drohende Abräumung des Friedhofes durch die Stadt und die laufenden Schändungen zu verhindern, erwog der Verbandspräsident der Jüdischen Gemeinden eine Eisenkonstruktion zur Befestigung der Grabsteine. Anfang 1975 erfolgte diese sogenannte Instandsetzung. „Um das bisherige Umfallen der Grabsteine zu verhindern“, wie es in der städtischen Korrespondenz hieß, „wurde an zwei Seiten des Friedhofs aus Profilrohren eine Eisenkonstruktion betoniert, an der die 52 Grabsteine mit Eisenklammern befestigt sind.“ Dies war ein massiver Eingriff in den gesamten Friedhof, bei dem sehr viele Grabsteine von den Gräbern genommen worden waren. Die Sichtweise der Stadt war eine andere: „Durch den Einsatz der Friedhofsverwaltung u. Stadtwirtschaft wurden alle Grabsteinfundamente entfernt, so daß die Gestaltung der Gesamtanlage bis zum 30. Jahrestag der Befreiung erfolgen kann.“ Nach den Tätern der zahlreichen Übergriffe wurde nicht mehr gefragt.
Eine erneute Schändung des Friedhofs meldete 1979 der Superintendent Scheel: Er habe sich die Stätte angesehen und sei sehr erschüttert. Er habe den derzeitigen Zustand fotografiert und dabei bemerkt, dass einige Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert waren. Neun Grabsteine waren umgeworfen, vier hatten „mit Kreide Hakenkreuze aufgezeichnet“, die „sofort beseitigt“ wurden, zwei waren „mit brauner Farbe übergossen“ worden. Auf Veranlassung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) sollte der Referent für Kirchenfragen den Superintendenten „bitten, dem Ratsvorsitzenden die Bilder zur Auswertung auszuleihen. Damit wir feststellen können, was er fotografiert hat.“ Systematisch wurden Beweise antisemitischer Delikte eingezogen. Maßnahmen zur Ergreifung der Täter erwähnte das MfS nicht. Eine polizeiliche Anzeige oder eine Mitteilung an die jüdische Gemeinde sind nicht dokumentiert. „Die Beschmierung ist normalerweise sofort meldepflichtig“ mahnte das MfS und meinte wohl ihm selbst gegenüber.
In Suhl-Heinrichs stand ebenfalls am Ende wiederholter Übergriffe seit 1970 eine Schändung mit antisemitischen Parolen 1982. Zweimal sollen Kinder im Alter von 8 bis 13 Jahren die Taten begangen haben, 1970 und 1976, während 1973 und 1978 laut Polizei Kindern die Taten nicht nachgewiesen werden konnten. Gegen die zusätzliche polizeiliche Abwiegelung des Übergriffs 1978 als mögliches Umfallen aller 16 Grabsteine innerhalb von sechs Tagen und das Absehen von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens protestierte die jüdische Gemeinde erfolglos. Mitte 1982 waren wiederum zwölf Grabsteine umgeworfen und mehrere Zaunfelder abgerissen worden, wie es der entsetzte Friedhofspfleger der jüdischen Gemeinde meldete, die daraufhin Anzeige erstattete und den zuständigen Referenten für Kirchenfragen im Rat des Bezirkes um Unterstützung bat, damit „die Täter eventuell ermittelt werden können“. Die Kriminalpolizei schätzte die Schäden als nicht vorsätzlich verursacht ein. Der Friedhofspfleger kommentierte dies gegenüber der Gemeinde sarkastisch: „Allein aus der Zeugenvernehmung konnte man schließen, daß wir wahrscheinlich selbst die Täter waren.“
Ende November 1982 waren Grabsteine aus dem Erdreich herausgerissen und umgestoßen worden. Man hatte, vermutlich mit einer Axt, auf einige Grabsteine „Juden-Sau-Raus“ und „Jude“ sowie einen „Judenstern“ eingeritzt. Bei einem Ortstermin, der „vorwiegend der Gewinnung des Steinmetzmeisters für die Arbeiten auf dem jüdischen Friedhof galt“, nahmen neben zwei Mitgliedern der Gemeindeleitung der Stellvertreter des Suhler Oberbürgermeisters, der Vertreter des Referats für Kirchenfragen und der Abteilung Brandschutz, der CDU-Kreissekretär sowie ein Steinmetzmeister die Schändung in Augenschein. Durch das Berichtsschreiben „Schmierereien auf dem Judenfriedhof Suhl-Heinrichs“ des Stellvertreters des Oberbürgermeisters erfuhren der Erste Sekretär der SED-Kreisleitung, der Oberbürgermeister, die Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit, der Amtsleiter des Volkspolizeikreisamtes und ein Vertreter des Rates des Bezirkes von der Schändung. Die jüdische Gemeinde erstattete Anzeige beim Volkspolizeikreisamt und informierte ihrerseits die Staatssicherheit des Bezirkes. Ein Mitarbeiter des MfS versicherte der jüdischen Gemeinde daraufhin bei einem persönlichen Besuch, dass der Staat alles tue, um den Friedhof wieder in Ordnung zu bringen. Doch Täter wurden weder ermittelt noch gar gefasst.
Hier können Sie den Interner Link: zweiten Teil des Beitrages lesen.
Dieser Beitrag von Monika Schmidt entstammt dem Buch: Wolfgang Benz (Hrsg.), Antisemitismus in der DDR - Manifestationen und Folgen des Feindbildes Israel, erschienen 2018 im Metropol Verlag.