Flucht am 31. August 1986
Dietmar Mann, Oberstleutnant der DDR-Grenztruppen, steht an diesem 31. August 1986 unter gewaltigem Druck. Ihm, seit 1982 Kommandeur des II. Grenzbataillons (Bonese) im Grenzregiment 24 (Salzwedel), steht ein Disziplinarverfahren und ein Parteiverfahren bevor. Zwei erfolgreiche Fluchten hat es in dem 69,4 Kilometer langen Grenzabschnitt, den er befehligt, im Sommer 1986 gegeben. Beide blieben zunächst unentdeckt. Nun gibt es Zweifel an seiner militärischen Kompetenz. Zudem will seine Frau in wenigen Tagen die Ehescheidung beantragen – Mann hat seit längerer Zeit eine Beziehung mit einer Zivilangestellten seines Stabes. Für einen Bataillonskommandeur gilt das als schwere moralische Verfehlung, die ihn, so fürchtet er, seinen Dienstposten kosten wird. Er hält seine Lage für aussichtslos. Am Nachmittag des 31. August lässt er sich, obwohl mitten im Urlaub, beim Ort Holzhausen von seinem Fahrer an den hinteren der beiden Grenzzäune bringen. Dort will er Pilze sammeln. Der Fahrer schöpft keinen Verdacht, es ist nicht ungewöhnlich, dass der Kommandeur hier im Spätsommer, im streng geschützten Bereich zwischen dem Grenzsignalzaun und dem Metallgitterzaun, der kurz vor der Staatsgrenze zur Bundesrepublik steht, auf Pilzsuche geht. Als die beiden dort ankommen, passieren sie das erste Gittertor. Nach dem Passieren des Tors steigt der Fahrer aus, um es wieder zu schließen. Seine Maschinenpistole hat der Gefreite vorschriftswidrig auf dem Fahrersitz liegenlassen, was Dietmar Mann gelegen kommt. Er steigt nun selbst aus, zieht seine Dienstpistole und zwingt den Fahrer, ins Hinterland zu verschwinden. Bis Alarm ausgelöst wird, hat der Oberstleutnant einige Minuten Zeit. Er steuert den Kübelwagen noch selbst bis zum vorderen Zaun, den er im zweiten Anlauf überklettert. Die tödliche Grenze, die er 18 Jahre lang bewacht hat, überschreitet er nun selbst, lässt die DDR und sein bisheriges Leben hinter sich – wie er glaubt, für immer. Acht Monate später ist er zurück.
Manns erste Stunden in der Bundesrepublik
Nach seiner gelungenen Flucht marschiert Dietmar Mann in das niedersächsische Dorf Thielitz. Hier spricht er einen Landwirt an, der ihn mit ins Haus nimmt und den Bundesgrenzschutz (BGS) verständigt. Mit dem Hubschrauber wird der Oberstleutnant in eine Dienststelle des BGS nach Gifhorn geflogen. Er unterschreibt eine Erklärung, wonach er nicht bereit ist, mit offiziellen Vertretern der DDR zu sprechen; auch mit seiner Familie will der geflohene Oberstleutnant keinen Kontakt. Eine Ausnahme aber macht er: für seine Freundin Christine, die in der DDR geblieben ist.
Ein Anrufer aus Ost-Berlin
Nicht einmal 24 Stunden ist der geflohene Oberstleutnant in der Bundesrepublik, als sich ein Anrufer aus Ost-Berlin im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen meldet. Es ist Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der von der Staatsführung der DDR immer dann eingeschaltet wird, wenn ein Militärangehöriger oder gesellschaftlich prominenter Bürger der DDR den Rücken gekehrt hat. Er bittet darum, mit Mann sprechen zu können. Der Inhalt seines Auftrags: Der Offizier soll zur freiwilligen Rückkehr bewegt werden, bevor er von westlichen Geheimdiensten abgeschöpft wird. Fünf Jahre zuvor war Vogel mit seiner Mission erfolgreich gewesen. Der hochrangigste Offizier der DDR-Grenztruppen, der jemals die Flucht gewagt hatte, Oberstleutnant Klaus-Dieter Rauschenbach, Kommandeur des Grenzregiments 3 (Dermbach), war am 4. Juni 1981 auf Vogels Intervention hin nach nur zwei Tagen freiwillig in die DDR zurückgekehrt – ohne sein Wissen zuvor beim BND offenbart zu haben.
Das MfS macht einen Plan – Mann soll zurückkommen
Um Dietmar Mann zu einer Rückkehr in die DDR zu bewegen, waren also andere Mittel notwendig. Und dass der Ex-Offizier zurückkehren sollte, daran ließ die politische Führung in Ost-Berlin keinen Zweifel. Für diese Aufgabe zuständig ist fortan die Hauptabteilung I (HA I), Abteilung Äußere Abwehr, Unterabteilung 1 des Ministeriums für Staatssicherheit. Am 6. November 1986 verfasst die HA I einen umfangreichen Operativplan, auf dem in acht Punkten dargelegt wird, welche Verbindungen aus der DDR heraus zu Dietmar Mann bestehen und wie er, in den Worten des MfS, "bearbeitet" werden kann.
Dietmar Mann packt aus
Bei den Befragungen offenbart Dietmar Mann alles, was er über die DDR-Grenzsicherung weiß: zur Stationierung der Sowjettruppen im Falle eines Krieges, zur laufenden Umstrukturierung der Grenztruppen, zum Abbau der Splitterminen vom Typ SM-70, zur Zusammenarbeit der Grenztruppen mit dem MfS, über den geplanten Einsatz von Frauen in der Truppe, über gelungene Fluchten im Bereich des II. Bataillons Bonese, über die Dunkelziffer gescheiterter Fluchten, über die Selbstmordrate im Offizierskorps und auch über den Schusswaffeneinsatz gegen Flüchtlinge.
Eingliederung in der Bundesrepublik
Am 14. Dezember 1986 sind die Befragungen von Dietmar Mann beim BND im Wesentlichen abgeschlossen. Auf Manns Wunsch hin mietet der BND für den Ex-Offizier ein möbliertes Apartment im Münchner Stadtteil Fürstenried, nur für das Türschild besteht der BND auf den Decknamen "Ulrich Marx". Zu dieser Zeit ist Mann viel in Deutschland unterwegs. Von den Honoraren, die er von den westlichen Geheimdiensten für seine umfangreichen Informationen erhalten hat, kauft er sich einen Ford Capri. Über die Pressestelle des BND wird eine Reihe von Vorträgen bei der Bundeswehr und verschiedenen Verfassungsschutzämtern organisiert. Thema: "Das innere Gefüge der NVA und Grenztruppen".
Der ZOV "Verräter"
Bei der HA I wird seit 1982 der "Zentrale Operative Vorgang" (ZOV) "Verräter" geführt. Im ZOV "Verräter" sind – neben anderen – viele Angehörige der bewaffneten Organe der DDR aufgelistet, die in den Westen geflohen sind
Der Plan geht auf
Die Hauptrolle im "Operativplan" spielen die beiden Frauen, die Mann in der DDR zurückgelassen hat. Marlies, inzwischen von ihm geschieden, und seine Freundin Christine werden von der HA I als sogenannte Rückverbindungen eingesetzt, um den Kontakt zu halten. Dabei sind den beiden vom MfS unterschiedliche Rollen zugewiesen worden, nachdem sie zur Zusammenarbeit bereit waren.
Christine soll regelmäßigen Kontakt mit Mann halten und vorgeben, an einer gemeinsamen Zukunft interessiert zu sein. Für diese Zukunft schmiedet Dietmar Mann in seinem Münchner Apartment abenteuerliche Pläne. Er erklärt ihr in langen Telefonaten, wie er sich ihre Ausschleusung aus der DDR vorstellt. Mal soll sie über die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin in den Westen kommen, mal direkt mit einem Hubschrauber in der DDR abgeholt werden, mal während eines Bulgarien-Urlaubs in die Türkei übertreten. Wie konkret diese Pläne sind, ob mit dem BND abgestimmt und vor allem: wie realistisch, bleibt während dieser ganzen Zeit unklar.
Die DDR hat er mit dem Überklettern des Grenzzauns hinter sich gelassen, in der Bundesrepublik ist er aber nie angekommen. Er hört genau zu, als die Anrufe häufiger werden, als sich neben das Werben um seine Rückkehr auch Drohungen mischen. Die Garantie der Straffreiheit sei nicht unbegrenzt gültig. Am Abend des 10. April klingelt in München wieder das Telefon. Nur wenn Dietmar Mann bis zum 11. April 1987 in die DDR zurückkehre, werde die DDR ihr Versprechen halten.
Mann muss sich sofort entscheiden. Der Ex-Offizier packt seine Sachen, spült noch das Geschirr, nimmt ein Bündel Unterlagen mit, das sich in seinen acht Monaten in der Bundesrepublik angesammelt hat und setzt sich dann in den Ford Capri, um Richtung innerdeutsche Grenze zu fahren.
Verwirrung im Westen
Um 12.54 Uhr am 14. April 1987 läuft eine ADN-Meldung über den Ticker. "Dietmar Mann in die DDR zurückgekehrt". Er habe sich, so die Agenturnachricht reichlich großsprecherisch, der Obhut des Bundesnachrichtendienstes entziehen können und sei mit umfangreichem Material in die DDR zurückgekehrt. Dieses geheimdienstlich relevante Material werde nun umfassend ausgewertet. Dem SED-Parteiorgan "Neues Deutschland" ist Manns Rückkehr am 15. April 1987 sogar eine Notiz auf Seite eins wert. Für den BND kommt Manns Rückkehr in die DDR vollkommen überraschend. Zwar wurde der Ex-Offizier seit Dezember 1986 nur noch lose betreut, mit Beginn seiner Arbeit bei einem oberbayerischen Sicherheitsunternehmen im März 1987 schien auch seine berufliche Eingliederung geglückt. Während sich die Bundesregierung in Schweigen hüllt, spekulieren die großen Tageszeitungen darüber, ob Mann tatsächlich freiwillig zurückgekehrt ist oder Opfer einer Entführung wurde.
Neuanfang in Schwedt/Oder
Als Dietmar Mann um 7.47 Uhr am 11. April 1987 mit seinem in München zugelassenen Ford Capri die innerdeutsche Grenze bei Salzwedel passiert, in genau dem Grenzabschnitt, den er zuletzt als Kommandeur befehligt hatte, wird er von den Mitarbeitern der HA I in Empfang genommen. In seinem zweiten Leben in der DDR lässt ihn das MfS keine Minute mehr aus den Augen. Nun sind es die Mitarbeiter der HA I, die den Rückkehrer Mann über seine sogenannten Verratshandlungen detailliert befragen. Und genauso umfassend und präzise wie der Ex-Offizier beim BND sein Wissen preisgab, diktiert er nun ins Protokoll, was er im Westen verriet. Statt Empörung herrscht bei der HA I große Zufriedenheit über die "wahrheitsgemäßen" Angaben des Dietmar Mann.
Noch während Mann in verschiedenen "konspirativen Objekten" befragt wird, erarbeitet die HA I den Fahrplan für seine Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben der DDR. Eckpfeiler sind eine neue Stelle im VEB Tabakkontor Dresden, Außenstelle Schwedt/Oder, und die "Bindung an eine weibliche Person". Die Beziehung zu Christine ist inzwischen auseinandergebrochen. Als kurz darauf eine Kontaktanzeige von Dietmar Mann in der Zeitung erscheint, kommt die HA I auf Ideen: "Suche und Auswahl eines geeigneten weiblichen IM, der auf Grundlage der Annonce von "Schabe" in den TV [Teilvorgang, MS] eingeführt werden kann".
Der neue Bewohner ahnt von alldem nichts, als er die Wohnung kurz darauf bezieht. Am 15. Juni 1987 wird auch das Ermittlungsverfahren beim Militäroberstaatsanwalt gegen ihn eingestellt.
Mann wird verhaftet
Doch Mitte August 1987 ändert sich urplötzlich die zufriedene Grundstimmung bei der HA I. Mann verschweigt dem Betreuer vom MfS, worüber er mit seiner neuen Freundin in großer Ausführlichkeit spricht: dass er früher Offizier der DDR-Grenztruppen war, dass er in den Westen geflohen ist. Ein klarer Bruch gegen die Abmachung mit dem MfS. Noch etwas anderes lässt alle Alarmglocken bei der HA I schrillen: Mann spekuliert laut darüber, ob es nicht besser wäre, wieder in die Bundesrepublik zu fliehen, er wisse ja, wie es geht. Nur diesmal nicht allein, seine neue Freundin soll mitkommen. Laut genug, dass die Mikrofone, die die Abteilung 26 in Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer installiert hat, alles mithören. Nun schlägt das MfS blitzschnell zu. Am 24. August 1987 wird Dietmar Mann festgenommen.
Untersuchungshaft und Strafprozess
Das Ermittlungsverfahren wegen Fahnenflucht, unerlaubtem Waffenbesitz und Spionage wird wieder aufgenommen, Dietmar Mann wird von Schwedt/Oder in die Untersuchungshaftanstalt des MfS nach Berlin-Hohenschönhausen gebracht. Dreizehn Monate verbringt er dort, bevor im September 1988 die Hauptverhandlung vor dem Militärobergericht Berlin beginnt. Mann muss nach dem Strafgesetzbuch (StGB) der DDR damit rechnen, mehrere Jahre im Gefängnis zu bleiben, der Militärstaatsanwalt fordert acht Jahre Haft.
Neuanfang in Eisenhüttenstadt
Wie sehr das MfS ihn bei jedem Schritt in seinem Leben begleitet, ist dem Ex-Offizier nach seiner Freilassung nun vollkommen klar. Vor seinem Einzug wird auch die neue Wohnung in Eisenhüttenstadt wieder mit Mikrofonen ausgerüstet, sein Telefon wird abgehört, und bei der Auswahl seiner neuen Wohnung ist für die HA I entscheidend, wie viele Inoffizielle Mitarbeiter im Umfeld der Wohnung aktiviert werden können. Das Netz, das die Staatssicherheit um Dietmar Mann spinnt, ist nun noch dichter als vor seiner Haft. Bis 1993, so der Plan der HA I, soll er unter ständiger Beobachtung leben. Und diesmal tut Mann alles, was sein MfS-Betreuer von ihm verlangt.
Nur mit der Eingliederung in die neue Stelle bei der Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation (WAO) im VEB Fleischkombinat läuft es nicht rund. Unentwegt beklagt sich Mann über die reine Büroarbeit und "fühlt sich benachteiligt und gegängelt, will eine neue Tätigkeit aufnehmen, da er mit dem gesamten Kollektiv der Abteilung nicht klar kommt (nur Frauen)"
Dietmar Mann macht sich selbst auf die Suche nach einer neuen Stelle, argwöhnisch verfolgt von der HA I, die keinen Alleingang von Mann will. Er darf nur dort arbeiten, wo genug IM platziert sind, die ihn beobachten können. Eine Stelle als Kraftfahrer, wie von ihm gewünscht, scheidet aus; hier wäre er viel zu lange allein unterwegs. Als Mann eine Stelle im VEB Zementwerk findet, ist das MfS einverstanden und notiert bald darauf: "Mit den ihm auferlegten Pflichten hat er sich identifiziert und pflegt kollegiale Kontakte zum Arbeitskollektiv".
Als am 4. Dezember 1989 der Teilvorgang "Schabe" bei der HA I archiviert wird, taumelt die DDR längst ihrem Untergang entgegen.
Zitierweise: Michael Schneider: Über den Zaun und zurück – Flucht und Rückkehr des Bataillonskommandeurs der DDR-Grenztruppen Dietmar Mann In: Deutschland Archiv, 21.9.2018, Link: www.bpb.de/276389