Im Oktober 2017 forderten alle ostdeutschen Ministerpräsidenten die Bundeskanzlerin auf, „bei der Regierungsbildung die Interessen der ostdeutschen Bundesländer im Blick zu behalten.“
Theoretisch-methodische Anmerkungen: Was ist Repräsentation?
Unter „Repräsentation“ als der „rechtlich autorisierte[n] Ausübung von Herrschaftsfunktionen“ verstand beispielsweise der Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel den Anspruch, „dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen und […] dessen wahren Willen zu vollziehen.“
Für die vorliegende Untersuchung sind die beiden letzten Punkte relevant. Bei dem „standing for“-Ansatz wird auf die Abbildung der Repräsentierten durch die Repräsentanten abgehoben, wobei Pitkin zwischen „symbolischer“ und „deskriptiver“ Repräsentation unterschied. Während sich im ersten Fall der Repräsentierte in dem Repräsentanten wiedererkennen soll, steht bei der zweiten Variante „die Deckungsgleichheit zwischen Repräsentierten und Repräsentanten bezüglich sozialer Charakteristika“
Das ist keineswegs so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag: Ein Rückgriff auf den Geburtsort würde zu kurz greifen. Dann wäre beispielsweise die in Hamburg geborene Angela Merkel „Westdeutsche“, obgleich sie im Kleinkindalter mit ihren Eltern in die DDR zog und von den Deutschen, sofern für diese die regionale Herkunft überhaupt wichtig ist, als „Ostdeutsche“ wahrgenommen wird. Schwierigkeiten würden aber auch entstehen, wenn – unabhängig vom Geburtsort – diejenigen als „ostdeutsch“ betrachtet werden, die über eine Landesliste oder durch den Sieg in einem ostdeutschen Wahlkreis in den Bundestag eingezogen sind oder zuletzt politische Ämter in einem der fünf ostdeutschen Länder bekleideten. So würde der frühere Innenminister Thomas de Maizière, der seinen Wahlkreis in Meißen hat und vor dem Wechsel in die Bundespolitik der sächsischen Staatsregierung angehörte, als „Ostdeutscher“ fungieren, obwohl er als solcher (wahrscheinlich) nicht wahrgenommen wird. Demgegenüber wäre die ehemalige Bildungsministerin Johanna Wanka „Westdeutsche“, weil sie – nach ihrer politischen Tätigkeit in Brandenburg – der niedersächsischen Regierung angehörte.
Um trotz der unterschiedlichen Lebensläufe eine nachvollziehbare Zuordnung zu ermöglichen, werden im Folgenden diejenigen als „Ostdeutsche“ betrachtet, die in der DDR beziehungsweise in den ostdeutschen Ländern aufgewachsen sind, politisch sozialisiert wurden beziehungsweise sich politisch engagierten.
Im Gegensatz zum „standing for“-Ansatz steht beim „substantive acting for“-Ansatz das inhaltliche Handeln der Repräsentanten im Fokus.
Inhaltliche Repräsentation: Wahlprogramme und Koalitionsvereinbarung
Sowohl die Wahlprogramme der 2017 (wieder) in den Bundestag eingezogenen Parteien als auch die Koalitionsvereinbarung wurden nach Stichworten mit Bezug zur gegenwärtigen Situation in Ostdeutschland (zum Beispiel „gleichwertige Lebensverhältnisse“, „Solidaritätszuschlag“ und „Rentenangleichung“), zur Wiedervereinigung und zur DDR-Vergangenheit beziehungsweise zu deren historisch-wissenschaftlicher Aufarbeitung (zum Beispiel „SED“ und „Stasi“) ausgewertet.
Wahlprogramme
Bei der Analyse der Wahlprogramme fällt auf, dass die AfD, die in den ostdeutschen Ländern weit überdurchschnittliche Stimmenanteile erzielte, nicht auf Ostdeutschland eingeht. Die Positionen der anderen Parteien weisen oft die bereits bekannten Muster auf:
Um die noch bestehenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland abzubauen, setzen sich Union, SPD und Linke weiterhin für gleichwertige Lebensverhältnisse ein, wobei sich nur die beiden zuletzt genannten Parteien ausdrücklich auf „Ost“ und „West“ beziehen. Was die Parteien unter diesem Ziel verstehen, wird jedoch nicht genauer erklärt. Konkrete Vorschläge für politische Maßnahmen soll nach dem Willen von CDU und CSU eine Kommission „[b]is Mitte 2019“ präsentieren.
Auch in der Rentenpolitik, auf die – außer der AfD – alle Parteien eingehen, sind die Positionen an vielen Stellen nicht sehr konkret: Die SPD will „einen Fonds für jene Menschen einrichten, die bei der Überleitung der Alterssicherung in das bundesdeutsche Recht erhebliche Nachteile erlitten haben, die im Rentenrecht nicht lösbar sind.“
Wesentlich konkreter sind die Positionen von Union, SPD und FDP hinsichtlich des Solidaritätszuschlages. Dieser soll entweder bereits „bis Ende 2019“
Im Gegensatz zur Linken gehen Union, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen als die westdeutsch geprägten Parteien auch auf den Umgang mit der DDR-Vergangenheit ein. Die Parteien setzen sich wahlweise für den „Fortbestand“
Koalitionsvereinbarung
Bei ihren Sondierungsgesprächen und in den Koalitionsverhandlungen konnten sich CDU, CSU und SPD auf gemeinsame Projekte und Ziele verständigen, blieben bei ihren Ausführungen und Plänen hinsichtlich ostdeutscher Interessen aber oft vage:
Um gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu erreichen, soll eine Kommission bis 2019 Vorschläge erarbeiten. Die neue Regierung charakterisiert „[d]ie besonderen Herausforderungen in Ostdeutschland […] als gesamtdeutschen Auftrag“
. Zur Überwindung der Strukturschwäche „insbesondere in den neuen Bundesländern […] ist die Förderung in den strukturschwächsten Regionen durch eine Abstufung der Fördersätze zu intensivieren und bei der Mittelverteilung angemessen zu berücksichtigen.“ Außerdem ist vorgesehen, „[d]ie östlichen Bundesländer […] bei ihren Anstrengungen in der Wissenschafts- und Innovationspolitik besonders [zu] unterstützen.“ In der Rentenpolitik will die Große Koalition „schrittweise einen höheren Anteil bei den Erstattungen an die Rentenversicherung für die Ansprüche aus den Sonder- und Zusatzversorgungssystemen der ehemaligen DDR übernehmen und damit die ostdeutschen Bundesländer entlasten.“
Am Konkretesten werden CDU, CSU und SPD bei dem Solidaritätszuschlag, der ab 2021 sukzessive abgeschafft werden soll. Für den ersten Schritt sind Entlastungen der Steuerzahler in Höhe von zehn Milliarden Euro vorgesehen.
Neben den genannten Projekten widmet sich die Regierung mit der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit auch einem retrospektiven Thema. Die Behörde des BStU soll „[i]m Lichte der Ergebnisse der Expertenkommission und im Benehmen mit den Opferverbänden (…) zukunftsfest“
gemacht werden. Ob tatsächlich die umstrittene Empfehlung der Kommission, die Behörde aufzulösen und die Akten an das Bundesarchiv zu übergeben, umgesetzt wird, dürfte Gegenstand intensiver Diskussionen in der laufenden Legislaturperiode werden. Ähnliches gilt für die in der Koalitionsvereinbarung enthaltene Aussage, „die Erinnerungskultur und die Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechtsregimes“ weiterzuentwickeln. Zu den diesbezüglichen Prüfaufträgen gehört auch die Frage, „inwieweit die bestehenden rechtlichen Grundlagen für die DDR-Heimkinder verbessert werden können.“
Personelle Repräsentation: Koalitionsverhandlungen und Bundesregierung
Bei der Analyse der personellen Repräsentation sind die Anteile der Ostdeutschen sowohl an allen Einwohnern als auch an den Mitgliedern der Regierungsparteien zu berücksichtigen. Auf diese Weise lässt sich eine rein quantitative Unter- oder Überrepräsentation feststellen: In den fünf ostdeutschen Ländern wohnt etwas mehr als ein Siebtel der Deutschen (15,2 Prozent) und knapp jedes 17. Mitglied (5,9 Prozent) der drei Parteien der Großen Koalition.
Verhandlungsteams für Koalitionsgespräche
Unter den 91 Personen in den Verhandlungsgruppen von CDU, CSU und SPD waren zwölf Ostdeutsche (13,2 Prozent). Der 15-köpfigen Spitzenrunde gehörten mit Angela Merkel und Manuela Schwesig zwei Politikerinnen aus den ostdeutschen Ländern an (13,3 Prozent). Damit waren die Ostdeutschen – mit Ausnahme der ganz kleinen Runde der drei Parteivorsitzenden (Angela Merkel, Martin Schulz und Horst Seehofer) – hinsichtlich ihres Bevölkerungsanteils leicht unterrepräsentiert. Eine deutliche Überrepräsentation ist hingegen mit Blick auf die Parteimitglieder zu konstatieren. Der „Osten“ wurde bei den Koalitionsgesprächen also keineswegs außen vorgelassen.
In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, dass mit vier ostdeutschen Regierungschefs (Reiner Haseloff, Michael Kretschmer, Manuela Schwesig und Dietmar Woidke) und einem stellvertretenden Ministerpräsidenten (Martin Dulig) führende Landespolitiker an den Verhandlungen teilnahmen. Diese konnten sich – neben fachpolitischen Themen – dezidiert für spezifisch ostdeutsche Interessen einsetzen und nach eigener Einschätzung gute Ergebnisse erzielen: Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer erinnerte sich „an keinen Koalitionsvertrag […] der ‚mehr auf ostdeutsche Interessen‘ abzielte“.
Bundesregierung
In den ersten Tagen nach dem erfolgreichen Abschluss der Koalitionsgespräche im Februar 2018 sah es so aus, als würde mit Angela Merkel nur noch eine Ostdeutsche dem künftigen Kabinett angehören. Die bisherige Bildungsministerin Johanna Wanka schied auf eigenen Wunsch aus der Regierung aus, ohne dass unmittelbar jemand aus dem Osten als neues Regierungsmitglied präsentiert wurde. Das in den Medien diskutierte, aber noch nicht endgültig bestätigte Personaltableau sorgte auch innerhalb der Koalitionsparteien für erhebliche Kritik. Der Thüringer CDU-Vorsitzende Mike Mohring erklärte: „Falls die jetzige Aufstellung zutrifft, ist eine ganze Region außen vor. Da deutet sich eine Unwucht an. Die Probleme der neuen Bundesländer können am Kabinettstisch am besten beraten werden, wenn Minister aus dem Osten kommen“.
Die deutliche Kritik aus den eigenen Reihen trug wesentlich dazu bei, dass die SPD, die als letzte Partei ihre Ministerliste präsentierte, intensiv nach einem Kabinettsmitglied aus Ostdeutschland suchte. Nachdem in der Öffentlichkeit mehrere Namen kursiert waren, schlug die SPD die damalige Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln, Franziska Giffey, für das Amt der Familienministerin vor. Die in Frankfurt (Oder) geborene Sozialdemokratin ist nach Ansicht der Journalistin Constanze von Bullion aber „mehr als der Quotenossi“.
Neben der Kanzlerin und der Familienministerin kommen vier Parlamentarische Staatssekretäre aus Ostdeutschland (siehe Tabelle 1). Darunter ist der Thüringer Christian Hirte, der im Wirtschaftsministerium arbeitet und das Amt des „Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer“ bekleidet.