Fortsetzung der Verfolgung – Kontinuitäten
1945 endete das nationalsozialistische Regime in Deutschland. Doch mit dem Zusammenbruch des Systems endete weder die Verfolgung Homosexueller noch deren Diskriminierung. Wie der Historiker Wolfgang Benz konstatiert, war die Verfolgung nach 1945 „mit der Repression davor nicht zu vergleichen, sie wurde vielmehr im gesetzlichen Rahmen der Strafjustiz vollzogen und die Diskriminierung bestand im Totschweigen, in der Preisgabe der Lächerlichkeit und in Verachtung.“ Die Behörden sowie ein großer Teil der Bevölkerung, die auf alliierte Anweisung nun zahlreichen Feindbildern zwangsweise abschwören mussten, konnten hier ihre gewohnten Stigmatisierungs-, Ausgrenzungs- wie Verfolgungs-Konzepte weiterhin anwenden. Es kam zur Verfolgung homosexueller Männer seitens der Behörden „bei den unbedeutendsten Sachverhalten“.
Die von den Nationalsozialisten 1935 verschärfte Version des Paragrafen 175, nach der bereits ein Blick als Beweis für Homosexualität gelten konnte, blieb bis 1969 in Kraft. So wurde beispielsweise noch Ende der 1940er Jahre ein Arzt, der zuvor nach Paragraf 175 in inhaftiert worden war, nicht als „Opfer des Faschismus“, sondern als „Verbrecher“ registriert. Als Konsequenz aus seiner Zuchthausstrafe bekam er „seine staatliche Prüfung aberkannt, was einem Arbeitsverbot [als Arzt] gleichkam.“ Darüber hinaus musste er 1948 „für das Zuchthaus von 1936–1939 noch 350 Mark Verpflegungskosten nachzahlen.“ Bei einem Durchschnittseinkommen von monatlich 184,92 D-Mark waren dies fast zwei Monatsgehälter. Im Jahr darauf erkundigte sich die Polizei „nach seinen Einnahmen“, um ihm – vier Jahre nach Ende der Zeit des Nationalsozialismus – „die Kosten für das KZ nachzahlen zu lassen: 1,50 DM pro Tag“.
Dieses Beispiel war kein Einzelfall. Diverse Untersuchungen belegen inzwischen die Kontinuitäten bezüglich der Verfolgung Homosexueller. Die Anzahl der Verurteilungen war – im Jahresdurchschnitt – von 3541 im Nationalsozialismus (NS) auf 1388 während der Besatzungszeit gesunken, also um rund 60 Prozent. Mit dem Ende der Besatzungszeit stiegen sie in der Bundesrepublik auf jährlich 2642 Urteile an, nahezu eine Verdoppelung und fast 74 Prozent der nationalsozialistischen Verfolgungsquote. Bis 1965 war die Verfolgung in der Bundesrepublik etwa viermal so hoch wie die in der Weimarer Republik. Die in der NS-Zeit begonnenen Kastrationen wurden weitergeführt; später wurden auch Eingriffe am Gehirn vorgenommen. Weibliche Homosexualität wurde – wie auch die Präsenz von Frauen im öffentlichen Leben – weitgehend negiert. Auch hierin folgte man bekannten Mustern. Zu den Tiefpunkten im Hinblick auf die Menschenrechte Homosexueller gehören die frühen Urteile des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts, die alle Versuche, auf juristischem Wege eine Gleichstellung homosexueller Männer zu erreichen und die NS-Version des Paragrafen 175 wenigstens abzumildern, vereitelten.
„Szenen“
In dieser Situation war es äußerst schwierig, sich eine selbstbewusste Identität zu schaffen. Das galt nicht allein für die Inhalte, nach denen man strebte. Homosexuelle, die sich zusammenschlossen, taten dies oft unter der Bezeichnung homophil, um weniger Anstoß zu erregen. Die Versuche, eigene Zeitschriften neu zu begründen, wurden juristisch wiederholt abgewehrt. Der Kreis war die einzige dreisprachige Zeitschrift für schwule Männer. Sie erschien von 1932 bis 1967 in der Schweiz auch für Deutschland und war „für viele Jahre die bedeutendste Zeitschrift, die sich die rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Anerkennung [...] zum Ziel gesetzt hatte“.
Trotz allem bildete sich, anders als in der DDR, im Westen Deutschlands eine „Szene“ heraus, in der Homosexuelle Freunde und Partner finden konnten. Für Hamburg sind in den 1950er Jahren „18 Klappen [also öffentliche Toiletten als Treffpunkte] und 17 einschlägige Lokale“ bekannt. In Köln gab es Mitte der 1950er Jahre 15 Lokale, bis 1969 waren es 35. Frankfurt am Main hatte in den 1950er Jahren sechs Bars. In Stuttgart waren es in den 1950er und 60er Jahren vier. Seit den 1950er Jahren gab es dort auch ein Lokal für Lesben. Für Ludwigshafen am Rhein sind in den 1960er Jahren sechs Treffpunkte historisch belegt. An solchen Orten, speziell außerhalb der Großstädte, trafen sich neben schwulen Männern auch lesbische Frauen – oft jedoch in deutlich geringerer Anzahl. Obwohl diese Orte unauffällig waren, wurden sie alle polizeilich überwacht, waren durch Razzien und Schließung bedroht. Sie boten aber, durch die ebenfalls dort anwesenden schwulen Stationierungssoldaten, auch in den kleineren Städten ein bisher ungekanntes internationales Flair.
Sittlichkeit und Staat im Kalten Krieg
Der frühe gesellschaftspolitische Kurs der Bundesregierung war durch ein spezifisches, an konservativ-rigiden Kirchenvorstellungen angelehntes Konzept von „Sittlichkeit“ geprägt. Der katholische Volkswartbund unterstützte dies. Der Bundesfamilienminister Franz-Josef Würmeling (CDU) hielt, in Zeiten des Kalten Krieges,
„Millionen innerlich gesunder Familien mit rechtschaffen erzogenen Kindern […] als Sicherung gegen die drohende Gefahr der kinderreichen Völker des Ostens“ für „mindestens so wichtig wie alle militärischen Sicherungen“.
Homosexuelle, als „Moskaus neue Garde“ verunglimpft, galten auch in der Bundesrepublik als eine Bedrohung für den Staat. Die bekannten NS-Feindbilder wurden nun um jene des Kalten Krieges ergänzt. Der umstrittene Regierungsentwurf „E 1962“ für ein neues Strafgesetz war durch eine „letztlich auf theokratischem Staatsverständnis aufbauende Haltung“ geprägt, die dem Strafrecht die Aufgabe zuwies, „die Bürger zu einer sittlichen“ Lebensweise „zu zwingen“. Dass beispielsweise in Süddeutschland unter Einfluss des Code Civil eine staatliche Sanktionierung des Lebens der Menschen aus moralisch-sittlichen Gründen schon im 19. Jahrhundert abgeschafft worden war, wurde in den Ministerien nicht für strafrechtsrelevant befunden. Die Mehrheit der Deutschen erfüllte die Sittlichkeitsvorstellungen der Bonner Ministerialbeamten nicht – im Gegenteil.
Namhafte Psychologen, Mediziner und Juristen verglichen zu dieser Zeit die Bonner Strafrechtsvorschläge, die an der Strafbarkeit von Homosexualität festhielten, mit den Nürnberger Rassegesetzen der Nationalsozialisten. Der deutsche Juristentag und sogar Vertreter der Kirche sprachen sich gegen die Entwürfe aus. Außerhalb der Bonner Ministerien arbeiteten Juristen, unter ihnen 16 Strafrechtsprofessoren, an einem Alternativentwurf. 1969 wurde im Rahmen der Großen Strafrechtsreform dann die Strafbarkeit für einvernehmliche Homosexualität unter Männern gestrichen.
Die Emanzipationsbewegungen seit Ende der 1960er Jahre
Mit der Großen Strafrechtsreform, die auch das gemeinsame Übernachten Unverheirateter – bisher als Kuppelei strafbar – straffrei machte und sexualaufklärerische Zeitschriften oder Zeitschriften für Homosexuelle zuließ, brach in der Bundesrepublik eine neue Zeit an – nicht nur für Homosexuelle. Dies, die Stonewall Unruhen in der New Yorker Christopher Street 1969 und der 1971 erstmals gezeigte Film von Rosa von Praunheim „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“, bildeten den Hintergrund für eine sich etablierende Bewegung Homosexueller, die sich ganz bewusst als Schwulen- und Lesbenbewegung bezeichnete. Bereits 1970 hatte sich die erste schwule Studentengruppe „Homosexuelle Aktionsgruppe Bochum“ gegründet. 1971 folgten unter anderem Gruppen in Münster und West-Berlin. Die erste Demonstration für die Rechte Homosexueller fand 1972 in der Universitätsstadt Münster statt. Bis Ende der 1970er Jahre gab es bis zu 70 Gruppen.
Lesben sahen sich in erster Linie als Frau einer umfassenden Diskriminierung ausgesetzt, daher sammelten sich viele unter dem Dach der Frauenbewegung, führten aber bei gemeinsamen Anliegen die öffentliche Arbeit zusammen mit den Schwulen fort. Die Gruppen waren engagiert, aber oft uneins in der Ausrichtung. Mit Infoständen, Filmproduktionen und Demonstrationen schafften sie Sichtbarkeit, erregten Anstoß und Aufmerksamkeit, schufen Öffentlichkeit und Bewusstsein – zunächst bei den eigenen Leuten, allmählich auch in der Bevölkerung.
Sein Schwul-sein öffentlich zu machen, wie dies ein Slogan forderte, barg bis in die 1970er Jahre aber weiterhin Gefahren. So wurden Studenten bei vermeintlichem Fehlverhalten aufgrund einer Verurteilung nach Paragraf 175 von den Universitäten verwiesen. Personen des öffentlichen Dienstes wurden wegen ihrer Homosexualität bis Mitte der 1960er Jahre aus dem Dienst entfernt, für Soldaten und Lehrer galt dies noch länger. Wichtige Ziele der Auseinandersetzung waren daher Bereiche, welche die bisherige Diskriminierung besonders gestützt hatten. Nachdem Homosexualität seit 1969 unter Erwachsenen straffrei war, wurde nun zunehmend und wiederholt der Jugendschutz vorgeschoben, um öffentliche Aufklärungsprojekte zu verhindern. So wurde in Ingolstadt 1980 ein Infotisch einer Schwulengruppe in der Fußgängerzone mit dem Hinweis verboten, dass „die Allgemeinheit Homosexualität als unsittlich ablehnt“. Außerdem sei „homosexuelle Betätigung mit Minderjährigen“ laut Paragraf 175 untersagt. Daraus folgerte die Ordnungsbehörde, dass „Veranstaltungen über homosexuelle Fragen auf öffentlichen Plätzen […] nicht genehmigungsfähig“ seien. Das sah man nicht überall so. Seit 1979 ging man von Bremen, Köln, Stuttgart, München und West-Berlin ausgehend regelmäßig mit Demonstrationen, den sogenannten Christopher Street Days (CSD), in die Öffentlichkeit. Mit „Homolulu“ wurde im gleichen Jahr in Frankfurt am Main ein mehrtägiges großes Treffen veranstaltet.
Erste Treffen von Vertretern der Emanzipationsbewegung und der Politik fanden 1979 in Berlin und Köln statt. Teilnehmer waren Politikerinnen und Politiker der SPD, FDP, der Bunten Liste und der DKP. Die CDU hatte keinen Vertreter geschickt. Die erste Partei im Bundestag, die die völlige Abschaffung des Paragrafen 175 in ihrem Wahlprogramm forderte, war 1980 die FDP. Im selben Jahr traten die Grünen für die Rechte Homosexueller ein, wenngleich sie zu dieser Zeit noch nicht im Bundestag vertreten waren. 1985 erklärte mit Herbert Rusche, zuvor Mitglied der Emanzipationsgruppe „Homo Heidelbergensis“ und offen schwuler Kandidat der Grünen, erstmals ein Bundestagsabgeordneter vor dem Parlament, dass er homosexuell sei. Allerdings wurde in den 1980er Jahren – nicht nur für die Schwulen – die Aids-Krise das alles überlagernde Thema.
Die Aids-Krise
In dem Moment, als die zweite Schwulen- und Lesbenbewegung allmählich Vorurteile und Feindbilder von Devianz und Delinquenz in Frage gestellt oder aufgelöst hatte, wurden die Erfolge durch die Immunschwächekrankheit Aids erneut gefährdet. Viele Opfer der Krankheit waren schwul. Dies bot speziell konservativen Politikern einen willkommenen Anlass, um Stimmung gegen Schwule zu machen und an alte Feindbilder anzuschließen. Der CSU-Politiker Peter Gauweiler schlug vor, HIV-positive Menschen „zu internieren“. Der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair hielt eine Wiederentdeckung der „ethischen Werte“ für geeignet, „um diese Entartung auszudünnen.“ In welche Richtung die Argumentation ging, nicht nur in der CSU, stellte die CDU Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth (CDU) klar heraus: „Muß die Epidemie dazu herhalten, [...] für überwunden gehaltene Denkweisen wieder auszugraben und so an ein bedrückendes Kapitel deutscher Geschichte zu erinnern?“ Aufgrund der Äußerungen aus dem konservativen Lager sorgte sich Süssmuth öffentlich, „ob unseren humanen Errungenschaften und demokratischen Gepflogenheiten in Gefahr geraten sind, ob Mitmenschlichkeit und Toleranz vergessen werden“ könnte.
Mit großer Umsicht und Beharrlichkeit erreichten Rita Süssmuth und der ehemalige Gesundheitsminister Heiner Geißler (CDU), dass sich die Rhetorik des Stigmatisierens und Wegsperrens nicht durchsetzen konnte. Stattdessen förderte die Bundesregierung – in Kooperation mit den Aids-Hilfen – eine Politik von Enttabuisierung, Öffentlichkeit und Aufklärung, mit der die Bundesrepublik im internationalen Vergleich bei der Prävention außerordentlich erfolgreich war. Süssmuths Slogan „Aids geht alle an“ war landauf, landab auf Plakaten zu sehen; zentrales Motiv war ein Kondom als Hinweis auf geschützten Verkehr. Sexualaufklärung, also Sprechen über Sexualitäten aller Art, rettete Leben. Auch in der CDU gab es nunmehr gewichtige Stimmen, die anteilnehmend über Sexualität sprachen und auch das Thema Homosexualität in breiter Öffentlichkeit diskutierten.
Andere Öffentlichkeiten in den Medien
Die Medien bedienten bis in die 1980er Jahre alle homophoben Vorurteile. Homosexualität wurde mit Pädophilie, Kriminalität und in der Zeit des Kalten Krieges auch mit Ost-Kontakten und Verrat verquickt. Seit 1969 kam es zur Gründung von Zeitschriften für Homosexuelle. Um eigene Öffentlichkeiten zu schaffen, wurde 1975 der Verlag Rosa Winkel und im selben Jahr der Verlag Frauenoffensive gegründet. Da viele Buchhandlungen die Publikationen dieser Verlage nicht ins Sortiment nahmen, kam es zur Gründung von Schwulen- und Frauen-Buchläden wie 1975 „Lillemores Frauenbuchladen“ in München und 1977 „Der andere Buchladen“ in Mannheim.
Seit den 1970er Jahren wurde, vereinzelt und mit aufklärerischem Ton, in ARD und ZDF über Homosexualität berichtet. Aufklärung im Fernsehen erregte aber auch Anstoß, wie Leserbriefe an die Filmproduzenten zeigten: „Diese Charaktere dieser Untermenschen [...] sind im täglichen Leben unbrauchbar u. wurden im 3. Reich erschossen!“
Von Bedeutung waren der erste schwule Charakter und der erste schwule Kuss 1990 in der Vorabendserie „Lindenstraße“. Doch dieser führte zur Morddrohung gegen den Schauspieler Georg Uecker sowie „zu einer Bombendrohung gegen die ganze Produktion“. Dennoch war das Thema nun einem Millionenpublikum zugänglich. Die Comics von Ralf König und der Film „Der bewegte Mann“ von 1994, der über 6,5 Millionen Zuschauer hatte, transportierten Bilder eines gemeinsamen, teilweise skurrilen Alltags von Homo- und Heterosexuellen.
Dass das Private politisch war – genau wie die Frauenbewegung das bereits zuvor für sich formuliert hatte – erkannte auch die Schwulenbewegung. Die Outings der TV-Entertainer Alfred Biolek und Hape Kerkeling durch Rosa von Praunheim 1991 zeigten Homosexualität von Prominenten einem Millionenpublikum. Mit Klaus Wowereits Aussage „Ich bin schwul und das ist auch gut so“ bekannte sich 2001 ein auf Landes- und Bundesebene prominenter SPD-Politiker zu seiner Homosexualität, jedoch noch immer, um eine „verlogene Schmutzkampagne“ in den Medien zu vermeiden. 2003 ging als bis dato prominentester CDU-Politiker der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, Ole von Beust, mit seiner Homosexualität an die Öffentlichkeit. Auch er tat dies, um einer politischen Erpressung entgegenzutreten. Mit Guido Westerwelle stellte die FDP den ersten deutschen Außenminister, der mit seinem Partner die Lebenspartnerschaft eingegangen war. Seither sorgte lediglich das Outing des Ex-Fußballprofis Thomas Hitzlsperger 2014 noch für mediales Aufsehen – im Profifußball ist das Thema Homosexualität nach wie vor mit Tabus behaftet. Dass die offen gelebte Homosexualität der TV-Entertainerin Hella von Sinnen vergleichbar weniger Anstoß erregte, weist auf das Fortbestehen auf Männlichkeit ausgerichteter Hierarchien hin. Insgesamt zeigen die Outings eine „Tendenz zur Normalisierung Homosexueller in den Medienwahrnehmungen“.
Von eigenen Erinnerungen zum öffentlichen Gedenken
Teile der internationalen Schwulen- und Lesbenbewegung waren sich früh über die Relevanz der Geschichte bewusst. Nach siebenjährigen Vorarbeiten wurde 1980 das „Lesbenarchiv Spinnboden“ in Berlin eröffnet. Das „Centrum schwule Geschichte“ in Köln wurde 1984 gegründet. Im Jahr 1985 folgte das „Schwule Museum und Archiv“ in Berlin. 1999 bildete sich das „Forum Homosexualität München“. Dort werden mit Capri, Invertito und Splitter wissenschaftliche Zeitschriften publiziert.
Im historischen Bereich waren und sind Museen und Gedenkstätten seit 1984 bis heute Taktgeber für die Abbildung der queeren Geschichte – also der Vielfältigkeit in der sexuellen Orientierung – außerhalb des Milieus. 2016 präsentierte das Deutsche Historische Museum Berlin die Ausstellung „Homosexualität_en“. Die universitäre deutsche Geschichtswissenschaft hatte dieses Forschungsfeld jahrzehntelang wenig beachtet. 1985 benannte mit Richard von Weizsäcker – in seiner Rede anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes – erstmals ein Bundespräsident Homosexuelle als NS-Opfer. Mit Denkmälern im öffentlichen Raum tat man sich aber noch schwer. So dauerte es beispielsweise in der KZ-Gedenkstätte Dachau „ein Jahrzehnt, bis sich das Comité International de Dachau im Jahr 1995 entschließen konnte, dem Verband Münchner Schwulengruppen die Aufstellung eines Steins für die homosexuellen Opfer im Gedenkraum der Gedenkstätte zu gestatten.“ Auch der Versuch, in Berlin an Magnus Hirschfeld zu erinnern, machte in den 1980er Jahren noch „erhebliche Probleme“. Erst 1995 konnte auf dem Gehweg vor dem Haus ein Denkmal errichtet werden.
Im Jahr 2000 erklärte der Deutsche Bundestag einstimmig, dass er „jede Form der Diskriminierung, Anfeindung und Gewalt gegen Schwule und Lesben“ verurteile und bedauere, „dass Lesben und Schwule in der Vergangenheit schweren Verfolgungen ausgesetzt waren und auch heute noch mit Diskriminierungen konfrontiert werden.“ Daher begrüße und unterstütze das Parlament „Initiativen, die die historische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung und des späteren Umgangs mit ihren Opfern zum Gegenstand haben.“ Außerdem setze sich das Parlament „für eine verstärkte öffentliche Würdigung des Verfolgtenschicksals der Homosexuellen ein.“
Doch zu dieser Zeit war die Diskussion um ein zentrales Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Homosexuellen bereits einige Jahre alt. Der Beschluss für die Errichtung des Denkmals erhielt 2003 keine Zustimmung von der CDU/CSU. Die übrigen Fraktionen votierten dafür. Anlässlich des zehnten Jubiläums des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Homosexuellen entschuldigte sich 2018 mit Frank-Walter Steinmeier erstmals ein Bundespräsident bei den Homosexuellen für das ihnen staatlicherseits angetane Unrecht. Seit 2011 arbeitet die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld im Bereich queerer Erinnerungs- und Bildungspolitik.
Schule und Bildung
In den 1970er Jahren war Homosexualität im Lehrplan des CSU-regierten Bayerns als „abartiges Verhalten“, in den CDU-regierten Ländern Baden-Württemberg und Saarland unter „abweichende Formen“ zu finden. Das SPD-regierte Hamburg und das CDU-regierte Rheinland-Pfalz sprachen neutraler von „sexuellen Minderheiten“. Nur in Rheinland-Pfalz wurde im Lehrplan Homosexualität von Frauen überhaupt erwähnt. Im Saarland und in Niedersachsen verwendete Unterrichtsmittel wiesen auf eine vermeintliche „Gefährlichkeit“ von Homosexuellen hin. Allein in Materialien für Rheinland-Pfalz wurde Homosexualität als „sozial tolerierbar“, wenngleich „nicht gewünscht“ bezeichnet. 1976 wurde dann umfangreiches Material für die Schule publiziert, das sich angesichts der Veränderungen in der Gesellschaft grundsätzlich mit der Frage von gesellschaftlich normierten Frauen- und Männerrollen ebenso wie mit dem Thema Homosexualität befasste.
Trotz aller Veränderungen und der Aufnahme der Thematik in die Lehrpläne, fanden sich bis 2017 nur wenige Materialien in den Lehrwerken, um sexuelle Vielfalt im Unterricht abbilden zu können. Zwischen 71 und 75 Prozent aller Menschen befürworteten laut Untersuchungen 2017 jedoch, dass ihre Kinder an der Schule über sexuelle Vielfalt und auch über gleichgeschlechtliche Lebensweisen unterrichtet werden. Sechs Prozent lehnten dies ab.
Von der Entkriminalisierung zum dritten Geschlecht – Entscheidungen von Bundestag und Bundesverfassungsgericht
1994 wurde im Rahmen der Rechtsangleichung nach der Wiedervereinigung der Paragraf 175 in der Bundesrepublik, gestrichen. Dies war eine Folge der seit 1988 in der DDR bestandenen Straffreiheit. 1995 wurde im Bundestag von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen der erste Gesetzentwurf eingereicht, der die Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare zum Ziel hatte. Der Gesetzentwurf wurde in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages 1998 abgelehnt. Aus der Diskussion geht hervor, dass zu dieser Zeit CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen des gleichen Geschlechts votierten. PDS und Bündnis 90/Die Grünen unterstützten diesen. Im Jahr 2000 hob der Bundestag einstimmig die Verurteilungen auf der Grundlage des Paragraf 175 aus der NS-Zeit auf. In der Diskussion um die „Eingetragene Lebenspartnerschaft“ stellte die rot-grüne Koalition im selben Jahr klar, dass dies „eine Frage der Menschenrechte und des Grundgesetzes“ sei. Norbert Geis (CSU) begründete die ablehnende Haltung der Union unter anderem damit, dass man „nicht von einer großen gesellschaftlichen Notwendigkeit reden“ könne, weil sie nur wenige Menschen betreffe. Außerdem bestünde keine „rechtliche Diskriminierung“. Zuletzt führte Geis für die Union in der Plenardebatte aus, dass „diese Art des Zusammenlebens […] von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden“ würde. Beides widersprach den Tatsachen, wie unter anderem die Umfragen zeigten. Die „eingetragene Lebenspartnerschaft" wurde von der rot-grünen Koalition gegen die Stimmen von CDU/CSU, FDP, bei mehrheitlicher Enthaltung der PDS zum 1. August 2001 eingeführt. Die CDU/CSU-geführten Länder Bayern, Thüringen und Sachsen klagten vor dem Bundesverfassungsgericht und unterlagen., letzter Zugriff am 17.6.2018. 2017 wurde die Einführung einer „Ehe für alle“ mit allen Stimmen in den Fraktionen der SPD, Grünen und Linken bei zwei abwesenden Abgeordneten gegen eine mehrheitliche Ablehnung von 71 Prozent bei CDU und 82 Prozent bei CSU vom Bundestag beschlossen. Einstimmig hob das Parlament im selben Jahr dagegen die Urteile nach Paragraf 175 der Nachkriegszeit auf. Im gleichen Jahr wurde die Einführung des dritten Geschlechts als positiver Geschlechtseintrag vor dem Bundesverfassungsgericht erstritten.
Umfrageergebnisse
Im September 1949 gab es eine erste Umfrage zur Sicht der bundesdeutschen Bevölkerung auf Homosexualität. Als „Krankheit“ galt sie für 39 Prozent, als „Laster“ 48 Prozent und als „Angewohnheit“ 15 Prozent der Befragten. Vier Prozent sahen Homosexualität als „natürliche Sache“ an, drei Prozent der Befragten waren „unentschieden“. Diesen öffentlich geäußerten Einschätzungen stand das persönliche Sexualleben entgegen. Denn sechs Prozent der Männer und fünf Prozent der Frauen gaben an, ihr erstes Erlebnis mit demselben Geschlecht gehabt zu haben und 23 Prozent der Männer – bei den Frauen wurde nicht gefragt – bestätigten, später noch einmal „in Berührung mit homosexuellen Erlebnissen“ gekommen zu sein.
1969, noch vor der Abschaffung der Strafbarkeit für Erwachsene, sprachen sich 46 Prozent der befragten Deutschen dafür aus, homosexuelle Handlungen zwischen Männern auch künftig unter Strafe zu stellen. 36 Prozent waren dafür, Homosexualität straffrei zu lassen und 18 Prozent waren unentschieden. Etwa fünf Jahre nach der Entkriminalisierung gaben 19,6 Prozent der Befragten an, Homosexualität abzulehnen. 40,3 Prozent tolerierten und 40,1 Prozent akzeptierten sie. Die Umfragen ergaben seit 1997, dass 59 Prozent der Bevölkerung homosexuelle Partnerschaften befürwortete, unter den 25-29-Jährigen waren es 80 Prozent.
Auch die Umfragen nach der Jahrtausendwende zeigten an, dass die Bevölkerung anders dachte als viele Politiker der Unionsparteien. Schon elf Jahre vor der „Ehe für alle“ sprachen sich 64,9 Prozent der Befragten für diese aus. 2016, ein Jahr vor der Abstimmung, befürworteten sogar 82,6 Prozent der Bevölkerung die „Ehe für alle“. 75,8 Prozent stimmten im selben Jahr zu, „dass es lesbischen und schwulen Paaren genauso wie heterosexuellen Paaren erlaubt werden sollte, Kinder zu adoptieren.“ Wenngleich „die offene und grundsätzliche Abwertung von Homosexualität als unmoralisch, widernatürlich oder gar krankhaft [...] nur noch von Wenigen geteilt“ wurde, meinten 2017 immer noch fast 10 Prozent der Befragten, dass Homosexualität unmoralisch, 18,3 Prozent, dass sie unnatürlich sei. Dass Homo- und Bisexuelle in Deutschland immer noch diskriminiert beziehungsweise benachteiligt werden, bestätigten noch 2017 80,6 Prozent der Befragten. Eine 2017 im Bundestag publizierte Untersuchung ergab, dass die Suizid-Rate von LSBTI*-Jugendlichen vier bis sechs mal höher liegt als die der Vergleichsgruppe. Homophobie ist 2018 also weiterhin ein politisch-gesellschaftlich relevantes Thema.
Fazit
Etablierte Feindbilder zu verändern, ist sehr schwer und dauert sehr lange. Homophobe Gruppen führten und führen Vorurteile gegen Homosexuelle in Diskussionen gezielt an. Homosexuelle mussten sich gegen diese, sowie gegen die aus dem Nationalsozialismus übernommene Rechtsprechung, in jahrzehntelangen Prozessen, eine Entkriminalisierung und zunehmende Akzeptanz erkämpfen. Dies geschah wiederholt im Kontext mit anderen gesellschaftlichen Veränderungs- und Aufklärungsphasen wie der 1968er Bewegung oder der Aids-Krise und mit sehr unterschiedlichen Unterstützern. Dabei wurde deutlich, dass die Diskriminierung Homosexueller lediglich ein prominenter Aspekt einer Politik war, die eine geschlechterrollen-normierte Sexualität und Lebensweise für alle zum Ziel hatte und somit der Selbstbestimmung aller entgegenstand – und -steht. Die Art und Weise wie sich die Schwulen- und Lesbenbewegung artikulierte, erinnert nicht zufällig an andere "bürgerschaftliche Emanzipationsbewegungen" wie beispielsweise die Frauenbewegung.
Zitierweise: Christian Könne: Homosexuelle und die Bundesrepublik Deutschland. Gleichberechtigte Mitmenschen? In: Deutschland Archiv, 7.9.2018, Link: www.bpb.de/275113