Als am 5. Januar 1968 das Zentralkomitee (ZK) der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPČ) den 47-jährigen Slowaken Alexander Dubček zum Ersten Sekretär wählte, sah es zunächst nach einem ganz normalen Machtwechsel aus. Was aber folgte, sollte alle kommunistischen und sozialistischen Parteien innerhalb und außerhalb des Warschauer Paktes herausfordern. Mit seiner Vision eines reformierbaren Kommunismus und eines offeneren Gesellschaftssystems inspirierte die neue KPČ-Führung Parteimitglieder und Regierende in allen sozialistischen Bruderstaaten.
Im Folgenden soll die historische Bedeutung des Jahres 1968 für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ausgeleuchtet werden. Dabei thematisiert der vorliegende Beitrag sowohl die unmittelbare Vorgeschichte – die 1960er Jahre und die „Ära Ulbricht“ – als auch die Entwicklung der DDR-Außenpolitik vor dem Hintergrund politischer und wirtschaftlicher Verbindungen zu anderen kommunistischen und nicht kommunistischen Partnern im geteilten Europa.
Zum sozioökonomischen Hintergrund
Die Reformbereitschaft des Generalsekretärs des ZK der SED, Walter Ulbricht, hatte in der ersten Hälfte der 1960er Jahre ihren Gipfel erreicht. Wissenschaft und Forschung wurden stark vorangetrieben, Technik und Wirtschaft durch neue Investitionen gefördert.
Das gewagte Projekt kam die DDR-Kassen allerdings sehr teuer zu stehen. Die Umstrukturierung eines ganzen, weitestgehend maroden Staates ließ den bereits beträchtlichen nationalen Schuldenberg wachsen. Die Umstellung auf das neue ökonomische System (NÖS) dauerte einige Jahre. Diese Zeit wurde auch gebraucht, um die sonst stalinistisch, „überzentral“, denkenden Arbeitskräfte entlang der neuen Bedürfnisse auszubilden.
Das System war auf kurze Sicht durchaus erfolgreich. Das zu befürchtende und in seinen Ansätzen sofort erkannte Hauptproblem lag in der neuen „Kaderpolitik“, die eine solche politisch-ökonomische Umwälzung erforderlich machte. Die Neuerungen – zum Beispiel ein nun gefordertes persönliches Engagement und mehr Eigenständigkeit gegenüber dem Betrieb und seiner Führung oder die Einführung von „Boni“ zur Leistungsankurbelung – mussten erst erlernt werden. Dies bereitete der Parteizentrale mit ihrem unverminderten exklusiven Führungsanspruch große Schwierigkeiten. Erneuerung und Modernisierung waren zwar durchaus erwünscht, nicht aber zu hohe Selbstständigkeit oder gar „kapitalistisches“ Denken.
Die kühne Politik Ulbrichts, der nach wie vor von der Vorstellung beflügelt war, die Bundesrepublik Deutschland bei Produktivität und wirtschaftlicher Leistung binnen kurzer Zeit ein- und überholen zu können, war nicht unumstritten, sowohl in der eigenen Partei als auch in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU).
Außenpolitischer Hintergrund
Den Bemühungen der SED um die staatliche Anerkennung der DDR in der westlichen Welt war in den 1960er Jahren nur mäßiger Erfolg beschieden. Sie scheiterten einerseits an tiefen ideologischen Diskrepanzen, andererseits an der stets wachsenden Bedeutung der Bundesrepublik als weltweite Wirtschaftsmacht und Aushängeschild des Westens an der Grenze zum „Ostblock“.
Auf dem VII. SED-Parteitag 1967 wurde das Ziel eines „entwickelten, gesellschaftlichen Systems des Sozialismus“ propagiert. Doch wie Ulbricht höchstpersönlich zu bedenken gab, müsse sich die DDR-Gesellschaft erst in ihren Grundfesten verändern, bevor der Sozialismus seine Wurzeln schlagen könne.
Keine Experimente
Die SED-Führung setzte dennoch alles daran, Reformversuche in den Nachbarstaaten vorbehaltlos zu bekämpfen. Dazu gehörte aus ihrer Sicht auch der „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, den Dubček in der Tschechoslowakei vorantrieb.
De facto hatte der SED-Vorstand bereits 1967 sein außenpolitisches Hauptziel grundlegend umformuliert, auch als Folge der allgemeinen Verhärtung in den Beziehungen zur Bonner Regierung. Mit dem Amtsantritt des Kabinetts unter Kurt Georg Kiesinger Ende 1966, in dem Franz Josef Strauß als Minister für Finanzen agierte, sah sich der ostdeutsche Staat dazu genötigt, seine Deutschlandpolitik hin zu einer gesteigerten Abgrenzung von der Bundesrepublik neu auszurichten. Die Ankündigung Kurt Georg Kiesingers, er wolle das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten „entkrampfen“, ließ in der DDR die Alarmglocken läuten.
Als Reaktion wurde beschlossen, alle Bemühungen zur diplomatischen Anerkennung der DDR zu intensivieren und schließlich die gesamte auswärtige Politik darauf abzustellen. Das Sekretariat des ZK der SED gab diese Entscheidung unmittelbar nach Gründung des Kabinetts Kiesinger bekannt und schwor alle ihre Partner, insbesondere die Liga für Völkerfreundschaft, der die jeweiligen internationalen Freundschaftsgesellschaften unterstanden, darauf ein.
Die daraus entstehenden Anerkennungskomitees in Europa boten der DDR den Vorteil, eine höhere Präsenz in der öffentlichen Meinung zu erlangen und entsprechend mehr Solidarität für ihr Hauptziel zu erhalten. Zudem waren sie besonders wirksam und „salonfähig“, da sie – anders als die Freundschaftsgesellschaften, die dazu angehalten waren, auch die spezifischen Vorzüge des „realen Sozialismus“ zu bewerben – allein auf das außenpolitische Programm hinarbeiten und somit ein breites Spektrum an Sympathisanten für sich einnehmen konnten.
Der Prager Frühling und die kommunistischen Parteien
Die Verschärfung des Kalten Krieges Anfang der 1960er Jahre wirkte sich zwar restriktiv auf die Chancen der DDR aus, international souverän zu agieren. Doch die Fokussierung der außenpolitischen Bemühungen Ost-Berlins auf das Hauptziel, die völkerrechtliche Anerkennung der DDR um jeden Preis, barg zugleich auch unerwartete Vorteile: Ostdeutsche Politiker konnten ihre Interessen gezielt auf ausgewählte Ansprechpartner richten, auch im nicht-sozialistischen Europa.
Die Verbindungen zwischen dem PCF und der SED standen auf außenpolitischer Ebene auf dünnem Eis, trotz der philosowjetischen Grundeinstellung der französischen Kommunisten und der sonst so gepriesenen Solidarität unter ideologisch affinen „Bruderparteien“. Anfang 1968 hatte die SED noch den Beschluss ihrer westeuropäischen „Genossen“ begrüßt, eine gemeinsame Plattform mit der Föderation der Demokratischen und Sozialistischen Linken (FGDS) einzugehen, die sich zum Ziel setzte, „die Weiterführung der Diskussion im Hinblick auf die von der FKP [Französischen Kommunistischen Partei] gestellten Ziele eines Bündnisses der gesamten Linken für die Ablösung des gaullistischen Regimes und die Schaffung einer wirklichen Demokratie“ zu fördern.
Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag am 21. August 1968 schlug die Lage plötzlich um, wie die Abteilung für Internationale Verbindungen der SED prompt registrierte.
In einer Vorlage für das Politbüro machte die Abteilung darauf aufmerksam, dass einige kommunistische Parteien, wie der italienische PCI aber auch die KP Rumäniens, eine „revisionistische Strategie“ verfolgen würden. Sie hätten beispielsweise anlässlich des für das SED-Regime notwendigen Eingriffs des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei „eine kleinbürgerlich-nationalistische Haltung“ eingenommen.
„Die Logik der Blöcke hat auch innerhalb der Front der sozialistischen Staaten gewirkt. Diese Logik muss also beseitigt werden, wenn man tatsächlich im europäischen Maßstab und in jedem einzelnen Land neue Bedingungen für den Fortschritt und die demokratische Erneuerung schaffen will.“
Auch der PCF kritisierte zunächst entschieden die Niederschlagung des „Prager Frühlings” durch die Truppen des Warschauer Paktes. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Führung der französischen Kommunisten – aufgrund massiven Drucks sowohl von der Basis als auch von der KPdSU und ihren „real sozialistischen“ Verbündeten wieder auf eine Position zurückfiel, die der sowjetischen Politik grundsätzlich entsprach. Der PCF war Ende 1968 wieder „auf Linie“ und entschlossener Widersacher der französischen Regierung, was seinerseits nicht immer auf Verständnis in Moskau traf, wo der sowjetische Partei- und Staatschef Leonid Breschnew oft mildere Töne anschlug. Aus seiner Sicht wäre eine Stärkung der Rolle Frankreichs geeignet, dem Einfluss der USA auf dem Kontinent Einhalt zu gebieten.
Strategie und Einflussnahme
Insgesamt konnte die SED-Leitung ihre ideologische Aufgabe hinsichtlich der westeuropäischen „Genossen“ als nahezu erfüllt betrachten. Sie bestand darin, abtrünnige KPs wieder auf Linie zu bringen oder zumindest zu destabilisieren. In diese Strategie schrieb sich ein gegen den PCI gerichteter Sabotage-Plan ein. Im September 1968 wurden in Italien anonyme Broschüren in Umlauf gebracht, die den Einmarsch in der Tschechoslowakei rechtfertigten und gleichzeitig auf den ideologischen „Verfall“ des PCI-Vorstands verwiesen, der umgehend bekämpft werden müsse. So entstand direkter Druck auf die Parteimitglieder, die zur Auflehnung gegen die Parteileitung animiert wurden. Auch gingen Briefe an rangniedrigere Funktionäre, die inhaltlich den Broschüren stark ähnelten.
Der Vorfall ist bis heute nicht vollständig geklärt. Auch ist nicht belegt, wer hinter der Aktion tatsächlich stand. Anzunehmen ist allerdings, dass es sich um den SED-Vorstand handelte: Die Unterlagen stammten von dem Verlag Zeit im Bild aus Dresden, der sonst die außenpolitische Propaganda der SED abwickelte.
Zwar konnte die Aktion keine nennenswerten Resultate zeitigen, sie löste in der italienischen Partei dennoch Entrüstung und Chaos aus. Auch konnten die Ost-Berliner im Laufe des Jahrs 1968 zu ihrer Genugtuung feststellen, dass die „revisionistischen Kräfte“ innerhalb des PCF – darunter eine ihrer wichtigsten Stimmen, Roger Garaudy, Chefideologe der Kommunistischen Partei Frankreichs und Kritiker der orthodoxen Parteilinie – nach und nach entmachtet wurden. Dazu hatte die SED-Führung einen aktiven Beitrag leisten können.
Während der Krise in der Tschechoslowakei setzte das DDR-Regime den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) oft als Einfluss- und Belehrungsmittel ein. Da die Kanäle zu den italienischen Kommunisten zunächst versperrt waren, intensivierte der FDGB seine Tätigkeit gegenüber Frankreich und dem französischen Gewerkschaftsbund, der Confédération générale du travail (CGT). Letzterer hatte im September 1968 auf einer gemeinsamen Kundgebung mit der italienischen Confederazione Generale Italiana del Lavoro (CGIL) in Rom ihre kompromisslose Anprangerung der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ bekräftigt, aber zu keiner Zeit die Kontakte zu real sozialistischen Genossen und Verbänden abgebrochen.
Die italienische KP stand hingegen meist kompakt und geschlossen zu der vom Vorstand propagierten scharfen Kritik an der militärischen Intervention in der Tschechoslowakei. In dieser Zeit nahm die Strategie des „compromesso storico“ – des historischen Kompromisses – allmählich Gestalt an. Der PCI wandte sich einer weitestgehend blockneutralen Position zu und suchte – zumindest auf dem Papier – über die Kluft des Kalten Krieges hinweg den Dialog mit allen am Frieden und sozialen Fortschritt interessierten Kräften, in Italien mit den Christdemokraten der Democrazia Cristiana (DC) und international.
Hermann Axen, ab Ende der 1960er Jahre eine der außenpolitisch einflussreichsten Persönlichkeiten in den Reihen der ostdeutschen Staatspartei, verfasste im November 1968 im SED-Organ Einheit einen Artikel mit dem Thema „Proletarischer Internationalismus in unserer Zeit“, in dem er seine Besorgnis über die revisionistische „Abgleisung“ des italienischen PCI zum Ausdruck brachte. Dieser leiste dem kapitalistischen Imperialismus Vorschub, indem er sich, seit Ende der 1950er Jahre und nun in verstärktem Maße seit Sommer 1968, von den Lehren und Zielen des Marxismus-Leninismus distanziere und mit seiner polyzentristischen Doktrin die Vorbildfunktion der Sowjetunion infrage stelle.
1968 – eine Zäsur?
Vor dem geschilderten Hintergrund stellt sich nun die Frage, ob der Umbruch des Jahres 1968 überhaupt einen markanten Einschnitt in der Geschichte der SED bedeutete. Fest steht, dass die Ereignisse der ausgehenden 1960er Jahre die Außenbeziehungen der ostdeutschen Staatspartei vor neue Herausforderungen stellten: Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ ließ ideologische Verschiedenheiten und politische Rivalitäten zwischen Ost- und Westkommunismus noch deutlicher zum Vorschein kommen und bereits bestehende Differenzen in Wirkung und Bedeutung weiter anwachsen. Die Konflikte des Jahres 1968 waren ein Indiz dafür, dass die marxistisch-leninistische Staatsdoktrin gegenüber revisionistischen Tendenzen auf tönernen Füßen stand. Die Entwicklungen der darauf folgenden Dekaden sollten dies eindeutig unter Beweis stellen.
Aber bildete das Jahr 1968 eine Zäsur? Die SED profitierte nach dem Einmarsch der sozialistischen Verbündeten von der sich daraus ergebenen offiziellen Festigung des Status quo. Sie bemühte sich, fruchtbare Westkontakte zu pflegen und die Anerkennung zu forcieren, mit dem Ziel, die „deutsche Frage“ möglichst bald zu lösen und dem Ostblock zum ideologisch-materiellen Sieg zu verhelfen. Wie der Historiker und DDR-Forscher Stefan Wolle zu Recht betont hat, war die Zeitspanne zwischen dem Bau der Berliner Mauer 1961 und dem „Prager Frühling“ 1968 für die SED eine Periode des konsequenten Umbaus und der forcierten Modernisierung, an deren Ende aber offenbar „alles beim Alten blieb.“
Zitierweise: Francesco Di Palma, Die SED vor der Herausforderung des „Prager Frühlings“ – eine transnationale Betrachtung, in: Deutschland Archiv, 2.7.2018, Link: www.bpb.de/271781