Der Kampf um Anerkennung und eine positive Identität prägt den Prozess des „Zusammenwachsens“ von Ost- und Westdeutschland seit der Wende. Der Sozialwissenschaftler Thomas Ahbe konstatiert:
„1990, im Jahr der deutschen Einheit, deutete nichts darauf hin, dass man sich noch Jahre später in Politik und Wissenschaft mit einer besonderen ostdeutschen Identität beschäftigen würde. Denn vor den alles entscheidenden Volkskammerwahlen am 18. März 1990 verstanden sich nur noch 32 Prozent der DDR-Bürger als Ostdeutsche – dagegen sahen sich 61 Prozent der DDR-Bürger als Deutsche. Das Bild war also eindeutig. Die Sonder-Identität ‚Ex-DDR‘ oder ‚ostdeutsch‘ schien zu verschwinden.“
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die öffentliche Unterscheidung in „ost-“ und „westdeutsch“ mit dem individuellen Erleben korrespondiert, oder ob im Alltag der Ostdeutschen diese Attribute möglicherweise gar nicht mehr so relevant sind.
Narrative, Medien und Identität
Ost versus West ist bis heute im medialen Diskurs eine feste symbolische Ordnungs- und Abgrenzungskategorisierung und keine primär geografische Einordnung.
Kollektive Narrative prägen die Konstruktion der eigenen Identität der Menschen.
Von der Theorie zur Methode
Ziel unserer Studie war es, die Fragestellung mit Hilfe qualitativer Interviews zu explorieren. Den theoretischen Rahmen bildeten – neben den oben dargelegten Überlegungen zum Stellenwert kollektiver Narrative – Bezüge zur Theorie sozialer Identität und zum Konzept des sozialen Vergleichs als Mechanismus der Herstellung sozialer Identität über Distinktionsprozesse. Nach den Sozialpsychologen Henri Tajfel und John Charles Turner liefern soziale Zugehörigkeiten (und damit kollektive Narrative) einen wichtigen Beitrag zum Selbstwertgefühl eines Menschen.
Da das Ergründen der Relevanz ein Ziel unserer Befragung war, sollte eine möglichst geringe Relevanz durch die Befragung selbst erzeugt werden. Dabei waren wir uns darüber bewusst, dass dies natürlich nicht völlig zu vermeiden ist, da das Gespräch nicht ohne Anlass geführt werden kann. Da in den Pretestinterviews bereits deutlich wurde, dass die Befragten sehr wenig mit der Thematik anfangen konnten, haben wir uns für einen Leitfaden entschieden. Diesen haben wir relativ kurz und offen gehalten, mit möglichst wenigen Vorgaben. So wurde beispielsweise eine Referenz zum Westen nicht explizit von den Interviewern erwähnt. Methodisch haben wir uns dabei an den Vorgaben von Strübing und Hopf
Ergebnisse
Einzelfallanalyse
Die erste Interviewpartnerin ist 27 Jahre alt, Diplom-Ingenieurin und wohnt seit drei Jahren in Westdeutschland. Die Person verneint sehr entschieden die Relevanz ihrer ostdeutschen Herkunft. Sie verbindet mit Ostdeutschland den „Trabi – sonst nix“ und konstatiert: „Ostdeutschland gibt es seit 1990 nicht mehr. Das verbinde ich mit Ostdeutschland“. Aus ihrer Sicht wird das Thema nur in den Medien fortgeführt. Sie spricht weder in der Familie noch im Freundeskreis über das Thema. „Es gibt keine Unterschiede“. Im Interview offenbart sich nur in einer kurzen Aussage, dass die negative Sicht auf den Osten als „Nazi-Land“ sie traurig mache. Sie betont, dass es im Westen genauso viele Nazis gebe. An dieser Stelle des Interviews kommt kurz an die Oberfläche, was man unterschwellig spürt. Sie verteidigt Ostdeutschland – es berührt sie aber angeblich nur deshalb, weil „irgendwelche Leute meinen, sie müsste sich angesprochen fühlen“. Offenbar wird dieses Thema in Westdeutschland oft an sie herangetragen, ohne dass sie es möchte. Sie wehrt es ab, aber gerade dadurch wird es sehr salient, obwohl sie dies verneint. Sie wünscht sich, dass das Thema bedeutungslos sei und „dass alle gleich sind“.
Der zweite Interviewpartner ist ein 21 Jahre alter Student, der täglich viele Kontakte zu Westdeutschen hat. Das Thema ist für ihn eher unwichtig, sagt er – durch den Kontakt zu Westdeutschen im Studium wird es aber immer wieder salient. Dabei seien beispielsweise die unterschiedliche Bezeichnung der Uhrzeit und andere Alltäglichkeiten der Anlass, Unterschiede scherzhaft zu thematisieren. Ihm selbst fällt wenig ein, was er mit „ostdeutsch sein“ verbindet. Erst nach Bedenkzeit sagt er „AfD“. Er empfindet die negativen Zuschreibungen von außen („alle rechts“ oder „Hinterwäldler“) als ungerecht und realitätsfern. Die Westdeutschen, die er im Studium kennengelernt hat, merken seiner Meinung nach selbst sehr schnell, dass viele Aussagen über den Osten nicht stimmen. „Ostdeutsch sein“ existiert für ihn primär als äußere Zuschreibung, ohne für sein Leben bedeutsam zu sein.
Die dritte Interviewpartnerin ist 53 Jahre alt, sie hat Abitur, arbeitet aber aktuell als Küchenhilfe. Das Thema hat in ihrem Alltag wenig Bedeutung. Sie hat keinerlei Kontakte zu Westdeutschen und empfindet eine große „Fremdheit“ gegenüber Westdeutschen, diese werden begrifflich mit Ausländern gleichgesetzt. „Ich hab’ keine Erfahrungen mit Ausländern und ich hab keine Erfahrungen mit den Westdeutschen.“ Die Interviewte berichtet insgesamt relativ neutral, ohne eine Motivation, Westdeutsche negativ zu beschreiben – „das ist halt so“ [...] „Ich bin auf meiner Scholle als Sachse festgeklemmt“. Zu Ostdeutschland fällt ihr spontan nur die „Mauer“ ein, was als ein negatives Attribut in die Vergangenheit weist. Die zum Teil negative Darstellung Ostdeutscher in den Medien berührt sie nicht. Die Ostdeutschen beschreibt sie eher negativ – im Sinne des „Jammer-Ossis“. „Das zieh ich mir ja auch nicht an. Der Ostdeutsche ist ja knatschig. Das ist ja klar.“ Es besteht eine große Distanz zum Westen, wobei der Westdeutsche nicht negativ bewertet wird. Sie verwendet die Kategorien, aber problematisiert diese nicht.
Die vierte Interviewpartnerin ist 52 Jahre alt, hat Abitur und ist Sachbearbeiterin in einer Buchbinderei. Sie hat gelegentlich berufsbedingte Kontakte zu Westdeutschen. Das Thema ist in ihrem Leben nicht wichtig. Sie verbindet den Osten stark mit der Vergangenheit (Kindheit, Zusammenhalt, Kreativität, ohne Sorgen, behütet). Es überwiegt eine positive nostalgische Sicht und ein gewisser Stolz, weil man es gewöhnt war „seine Frau zu stehen“ und kreativ zu sein, „man hatte nicht viel, das war aber nicht wichtig“. Relevant war das „ostdeutsch sein“ für sie zur Zeit der Wende, da sie damals beruflich eingeschränkt wurde. Sie lehnt die Aufteilung in Ost oder West ab und ist über die Darstellung eines solchen Gegensatzes in den Medien verärgert. Reale Unterschiede, wie bei Löhnen und Gehältern, sind für sie allerdings ein Grund, sich zu ärgern. „Eigentlich sind doch alle gleich“ sagt sie.
Der fünfte Interviewpartner ist 28 Jahre alt, arbeitet als Ingenieur und hat oft Kontakte zu Westdeutschen. Das Thema ist für ihn im Alltag irrelevant. Er sieht auch keine Unterschiede zwischen Ost und West, es ist für ihn nur etwas „Räumliches“. Er selbst verbindet wenig mit „ostdeutsch sein“ und stört sich auch an der Konstruktion von Unterschieden in den Medien.
Die sechste Interviewpartnerin ist 27 Jahre alt und Studentin. Sie hat wenige Kontakte zu Westdeutschen. Zuerst fallen ihr die realen Unterschiede ein – etwa bei den Löhnen. Die Kategorien Ost oder West sind für sie relevant. Sie distanziert sich selbst vom „Jammer-Ossi“. Sie empfindet durchaus eine Bindung zum Osten und zu ihrer Stadt und empfindet Abwertungen durch westdeutsche Studenten als unfair. Die Darstellung in den Medien erlebt sie allerdings nicht als „von oben herab“, sondern als – „die reale Lage, und die ist eher schlimm“. Ihre Betrachtung scheint nüchtern und sachlich.
Der siebte Interviewpartner ist 55 Jahre alt, hat Abitur und arbeitet als Sicherheitsfachkraft. Er hat auch in Westdeutschland gearbeitet. Die Kategorien Ost und West sind für ihn weiter relevant– er verwendet die Redewendung „die da drüben“. Die Beziehung zu Westdeutschen ordnet er ähnlich ein wie die zu „anderen Ausländern“ – beispielsweise zu Türken – was auf eine große Distanz hinweist. Seine Alltagserfahrungen mit Westdeutschen beschreibt er eher positiv. So habe er an den Arbeitsstellen in Westdeutschland keine Unterschiede empfunden und fühlte sich gut aufgenommen. Der Begriff Ostdeutschland ist für ihn negativ konnotiert. Gründe hierfür sind die schlechtere wirtschaftliche Situation, Strukturschwäche und die geringeren Löhne: „Du bist im Osten eben beschissener dran [...]. Du hast als Ossi keinen „Nationalstolz“ [...], aber das ist halt so“. Ostdeutschsein wird als ein negatives Attribut wahrgenommen. Er empfindet durchaus eine „Trauer“ über diesen Zustand, aber keine Wut, schreibt dieses auch nicht den Westdeutschen zu. Die Kategorien Ost und West sind spürbar vorhanden, aber ihr emotionaler Gehalt erscheint eher gering.
Die achte Interviewpartnerin ist 60 Jahre alt, sie ist Lehrerin und hat wenige Kontakte zu Westdeutschen. Ostdeutsche zu sein spielt für sie eine „sehr große“ Rolle. Sie ist die einzige Interviewpartnerin, die dies so deutlich hervorhebt. Ostdeutschland ist ihre Heimat, dort gehört sie hin. Sie verbindet „ostdeutsch“ sehr stark mit der Vergangenheit (Wärme, Kindheit, Zusammenhalt) und zählt dabei nur Positives auf. Sie sieht es aber auch als Synonym für „hinterwäldlerisch“. Die Kategorien Ost und West bestehen für sie klar fort. Bei Ferienfahrten sagt sie immer, wenn sie die ehemalige Grenze überschreitet: „Jetzt fahren wir über die Grenze“. Sie spricht auch von „unseren Medien“ und westdeutschen Medien, deren Berichterstattung sie ablehnt. Sie benutzt die Kategorien, um ihre Welt zu ordnen, problematisiert sie aber nicht. Ein Feindbild „Wessi“ ist nicht festzustellen, sie benutzt diesen Begriff nicht. „Wir [Älteren] können nun mal nicht aus unserer Haut“, aber „die Jungen, die sehen Deutschland als eins“.
Der neunte Interviewpartner ist 31 Jahre alt, hat einen Realschulabschluss und arbeitet als Küchenleiter. Im Interview entstehen sehr lange Redepausen. Das Thema hat offenbar eine sehr geringe Salienz, der Interviewte zeigt wenig Emotionen. Wenn überhaupt, verbindet er damit die Vergangenheit seiner Eltern oder Großeltern. Wenn er sich entscheiden müsste, so sagt er, dann ist er eher „Deutscher“ als „Ostdeutscher“.
Die zehnte Interviewpartnerin ist 49 Jahre alt, hat Abitur und arbeitet freiberuflich. Sie hat täglich Kontakt zu Westdeutschen. Auch für sie hat das Thema eine geringe Salienz, dennoch hat sie eine sehr bestimmte und klare Haltung dazu. Das Thema ist für sie Vergangenheit, etwas, das sie hinter sich lassen will. Früher sei es relevant gewesen, sagt sie, heute aber habe es keinerlei Auswirkungen auf ihr Leben. Sie zeigt keine Emotionalität und stellt auch keinen Bezug zu Kategorien Ost und West oder „Wessi“ her.
Vergleichende Analyse
In der Auswertung zeigte sich, dass sich nur in vier der zehn Interviews eine relevante Salienz des Themas für das Leben der Befragten ergab. Fast alle Befragten nutzen zwar die Kategorisierung „ostdeutsch“, aber zumeist primär als kognitiven Ordnungsbezug, ohne damit starke Emotionen oder Wertungen zu verbinden. Nur in einem Interview wird „der Wessi“ als negative Referenz verwendet. In einigen Interviews wird eine relativ große Distanz zu Westdeutschen sichtbar – dies zeigt sich deutlich in der Verwendung der Unterscheidung Ost/West auf gleicher Ebene wie die Unterscheidung zu „Ausländern“. Der Osten wird hauptsächlich mit der Vergangenheit assoziiert, wobei diese nicht kritisch oder politisch thematisiert wird, sondern insbesondere von den älteren Befragten eher nostalgisch in Verbindung mit „Kindheit, Wärme, Zusammenhalt“ gebracht wird. Die Jüngeren verbinden mit dem Osten oft die DDR, konkret „den Trabi“ beziehungsweise „etwas, das vorbei ist“. Die Referenz auf die Vergangenheit markiert auch eine Sichtweise, die die mentale Trennung in Ost und West in der Zukunft aufheben und hinter sich lassen möchte. Insgesamt ist es den Befragten sehr schwer gefallen, etwas Konkretes mit „ostdeutsch sein“ zu verbinden. Oft entstanden vor der Antwort Denkpausen. Keiner der Interviewten äußerte sich extrem positiv, im Sinne von Stolz auf Ostdeutschland. Ebenso wenig ergaben die Interviews extrem negative Konnotationen. In zwei Interviews wurden explizit negative Selbstbeschreibungen geäußert, in dem Sinne, dass zu viel „gejammert“ würde oder dass die Zuordnung „ostdeutsch zu sein“ keinen Stolz erzeuge und allgemein eher mit Negativem verbunden sei. Negative Assoziationen, die mit dem heutigen Ostdeutschland verbunden wurden, waren die Begriffe „Nazis“ oder AfD (in zwei der Interviews genannt) und reale Konflikte, wie existierende Lohnungleichheiten, die in drei der Interviews benannt wurden, allerdings ohne diese Motive in einen „Opfer-Diskurs“ einzubetten. Positive Narrative zu der Zeit nach der Wende ergaben die Interviews nicht.
Für das Gros der Befragten (mit Ausnahme einer Person mit unterschwellig hoher Salienz) hat das Thema eine eher geringe Alltagsrelevanz und wurde weit weniger emotional betrachtet als anfänglich erwartet. Selbst im Verlauf der Interviews wurden kaum starke Emotionen sichtbar. Es überwog eine Haltung, die die Thematik in die Vergangenheit verweist und die Gegenwart – teilweise als Wunsch formuliert – im Sinne eines „wir sind jetzt eins“ oder „für die Jungen zählt das nicht mehr“ konstruiert. Eine starke emotionale Polarisierung zwischen Ost und West konnten wir in den Interviews nicht finden. Auf die Frage nach der negativen Darstellung in den Medien wurde zwar teilweise mit Bedauern reagiert, allerdings wurde diese auch zum Teil als gerechtfertigt beschrieben oder als irrelevant für die eigene Person. Das Thema ist – zumindest im Rahmen unserer Interviews – von weit geringerer Bedeutung für die Befragten, als es die Relevanz in den Medien suggeriert. Die höchste Salienz ergab sich im Interview mit der einzigen Person, die zurzeit in Westdeutschland lebt.
Fazit
Ausgangspunkt unserer Studie war die Frage, welche Rolle die Kategorie „ostdeutsch“ für die Identitätskonstruktion der Menschen in Ostdeutschland spielt. Dabei ging es uns nicht um die Relevanz des Themas in öffentlichen Diskursen, sondern um die alltägliche Bezugnahme des Einzelnen auf die Kategorisierung „ostdeutsch“ und die damit verbundenen Narrative. Zentrales Ergebnis der Auswertung unserer zehn Leitfadeninterviews ist, dass sich die von uns befragten Menschen – anders als medial vermittelt – in ihrem alltäglichen Leben sehr wenig mit der Kategorie „ostdeutsch“ als Identitätsbezug befassen. Für viele ist die Zuordnung zu abstrakt, zu wenig greifbar. Viele konnten schwer Themen oder gar Besonderheiten zuordnen – das Gespräch stockte sehr oft, wenn es konkreter werden sollte. In Gesprächen mit Familie und Freunden spielt das Thema keine Rolle. Ebenso erfolgte kaum eine emotionale Reaktion auf die Zuordnung. Man ist vielleicht Chemnitzer oder vielleicht auch noch Sachse – aber „ostdeutsch sein“ ist offenbar eine für viele eher künstliche, äußerlich erzeugte Kategorie, die am ehesten mit der Vergangenheit verbunden und von außen zugeschrieben wird. In der Gegenwart wird die Kategorie zwar von allen Interviewpartnern verwendet, sie wird aber primär als ordnende Kategorie eingesetzt, womit durchaus eine innere Grenzziehung verbunden ist. Diese mentale Grenzziehung ist definitiv weiterhin existent – allerdings ist die Verwendung meist wenig emotional besetzt und scheint, zumindest für die von uns Befragten, kein zentraler Bezugspunkt für die eigene Identität zu sein.
Häufig wurde geäußert, dass die Unterscheidung Ostdeutsche versus Westdeutsche eigentlich keine Bedeutung mehr habe, dass „Deutschland eins sei“. Kubiak bezeichnet diese Haltung als „Einheitsfiktion“ – geprägt von dem Wunsch, dass die politische Einheit auch auf kultureller und sozialer Ebene vollzogen sei.
Die kleine Zahl von Befragten ermöglicht es nicht, aus den Ergebnissen Rückschlüsse auf Verteilungen in der Bevölkerung zu ziehen. Dennoch sind die gefundenen Trends ein Indiz dafür, dass eine emotional aufgeladene dichotome Sichtweise auf die Thematik im Alltag nicht überall so relevant ist, wie es der mediale Diskurs suggeriert. Sicher wäre es mit entsprechender Interviewführung möglich gewesen, den Kontrast Ost versus West schärfer herauszuarbeiten. Genau dies wollten wir durch unsere „passive“ Interviewführung vermeiden. Der Ost versus West-Diskurs erwies sich in diesem Interviewkontext in der Mehrzahl der Interviews als nicht relevant genug, um in den Vordergrund der Interviews zu drängen. Der Umgang mit dem „Osten“ ist unterschiedlich: von „ist mir sehr wichtig, ist meine Heimat“, über nostalgisch bis hin zu einem Schlussstrich „[...] ist Vergangenheit“. In keinem der Interviews ergab sich eine starke Bezugnahme auf eine eigene ostdeutsche Identität. Die aktuellen negativen Zuschreibungen im Kontext des Aufkommens rechtspopulistischer Bewegungen wurden nur in einem Interview problematisiert (die Interviewpartnerin lebt im Westen), ansonsten verbinden die meisten der Befragten das Thema nicht direkt mit ihrer eigenen Person: „Das zieh ich mir nicht an“. Die Darstellungen sind gekennzeichnet durch einen pragmatischen Umgang mit der Situation. Inwieweit dies bereits das Ergebnis einer aktiven „Identitätspolitik“ der Einzelnen ist, muss offenbleiben. Auch wenn die Befunde keine Verallgemeinerung zulassen, findet sich die von uns aufgefundene Sichtweise einer gewissen „Normalisierung“ sehr selten im öffentlichen Diskurs um die „ostdeutsche Identität“. Die mediale Sicht blendet den Fall der „Normalisierung“ in ihrer Berichterstattung eher aus und stützt damit eine Perspektive des Gegensatzes.
Zitierweise: Susanne Rippl, Nelly Buntfuß, Nicole Malke, Natalie Rödel, unter Mitarbeit von Luisa Schubert, Ostdeutsche Identität: Zwischen medialen Narrativen und eigenem Erleben, in: Deutschland Archiv, 16.5.2018, Link: www.bpb.de/269349