Sport und Politik – untrennbar
Im Februar dieses Jahres trafen sich die besten Athleten der Welt im südkoreanischen Pyeongchang, um in 102 Wettkämpfen und 15 Disziplinen um Olympiasiege im Wintersport zu wetteifern. Doch auch politisch waren es besondere Spiele. Zum insgesamt dritten Mal in der olympischen Geschichte fanden die Wettkämpfe in einem geteilten Land statt.
Drei eminent politische Fragen sind damit genannt. Mit dem sportlichen Geschehen in Pyeongchang hatten sie „eigentlich“ nichts zu tun, doch war es zweifellos der Sport, der hier die Tagesordnung setzte. An dieser Stelle kann es nicht darum gehen, sie zu beantworten. Ihre Existenz ist jedoch ein brandaktueller Beleg der Feststellung des ehemaligen Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) Walter Tröger, „dass der Sport Teil der Politik war, bei uns nicht anders als in der DDR oder irgendeinem anderen Land der Welt. Das war so, es ist so, und es wird so bleiben.“ Sein Vorgänger im Amt des bundesdeutschen NOK-Chefs, Willi Daume, und er seien sich „in diesem Punkt völlig einig“ gewesen.
Brandts Bewerbungsschreiben um die Olympischen Sommerspiele 1968
Gegenüber der aktuellen Situation in Korea konnten die Deutschen tatsächlich mit noch größeren Problemen aufwarten. Die hier zu schildernden Bemühungen waren schließlich der Versuch, die Spiele gleich in eine geteilte Stadt zu bringen. Am 27. März 1963 verließ ein Schreiben des damaligen Regierenden Bürgermeisters West-Berlins, Willy Brandt, das Schöneberger Rathaus in Richtung des Sitzes des International Olympic Committee (IOC) in Lausanne. Dieses begann mit dem Satz:
„Zur Wahrung der gestellten Frist erlaube ich mir, namens des Senats der Stadt Berlin, das Internationale Olympische Komitee und die olympische Jugend aus aller Welt zur Feier der 18. Olympiade im Sommer des Jahres 1968 nach Berlin einzuladen.“
In dem Schreiben hieß es weiter:
„Ich gehe dabei davon aus, dass die Ost-Berliner Behörden – nach entsprechenden Verhandlungen der beiden deutschen Nationalen Olympischen Komitees – ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringen werden […]. Alle Berliner würden es als ein großes Glück empfinden, wenn das IOC die Bewerbung wohlwollend aufnähme.“
Nun könnte man in diesem Schreiben einen Versuch sehen, Brücken zwischen West und Ost zu bauen. Schließlich, so wäre in diesem Sinne zu argumentieren, ist Sport ein Mittel der Verständigung. Gegen diese Auslegung spricht jedoch, dass sich kein Beleg für eine Information, geschweige denn Konsultation Ost-Berlins vor der Absendung des Schreibens auffinden ließ. Die Idee zu Spielen in Berlin wurde lediglich intern auf der westdeutschen Seite kommuniziert. Sie stammte ursprünglich nicht von Brandt, aller Wahrscheinlichkeit nach von Daume, der auch hinter dem genannten Schreiben steht.
Ganz sicher ist, dass Brandt ankündigte, die Spiele nicht nur in „seinem“ Teil der ehemaligen Reichshauptstadt ausrichten zu wollen – Spiele ausschließlich im Westteil der Stadt entsprachen nicht den politischen Absichten des Bürgermeisters. Sein wirkliches Ziel wird in der Versicherung deutlich, alle Teilnehmer und Besucher der Spiele frei nach West-Berlin einreisen zu lassen. Wörtlich heißt es in seinem Schreiben:
„Des weiteren gebe ich, wie gefordert, die verbindliche Erklärung ab, dass alle Teilnehmer und Besucher der Olympischen Spiele ohne jede Behinderung nach Berlin (West) werden einreisen können.“
Damit setzte er eine Bedingung des IOC für die Abhaltung Olympischer Spiele als politisches Werkzeug ein, denn das Komitee verlangte auch schon damals den freien Zugang für alle Teilnehmer zu den Wettkampfstätten. Aus organisatorischen Gründen ist dies nicht mehr als eine notwendige Selbstverständlichkeit. Zum Problem wurde dies durch die Mauer, welche Ost- und West-Berlin ab dem 13. August 1961 trennte. Wäre Ost-Berlin wirklich der Bewerbung beigetreten, hätte man aus dem Roten Rathaus versichern müssen, auch die Einreise dorthin könne für alle Athleten und Besucher ohne Behinderung erfolgen, was praktisch das Ende der Teilung durch die Mauer bedeutet hätte.
Die Reaktionen aus Ost-Berlin
In Ost-Berlin hatte niemand zeitnah Kenntnis von den bisher beschriebenen Vorgängen. Einem Anruf Daumes bei seinem DDR-Amtskollegen Heinz Schöbel im April 1963 war immerhin zu entnehmen, dass dieser deutsch-deutsche Gespräche über eine Berliner Bewerbung führen wollte. Dass Brandt aber schon gehandelt hatte, ahnte niemand der (angeblich) gewünschten Partner.
Auf den 7. Mai ist eine Politbüro-Vorlage – mit dem aufschlussreichen Titel „Vorschlag des NOK-Präsidenten Westdeutschlands, Daume, die Olympischen Spiele 1968 in der Hauptstadt der DDR und in Westberlin durchzuführen“ – datiert und wurde gemäß handschriftlichem Vermerk am 14. Mai 1963 dort behandelt.
Aus dieser Vorlage ist für Anfang Mai 1963 folgender Kenntnisstand Ost-Berlins zu konstatieren:
Erstens: Willi Daume, Präsident des bundesdeutschen NOK, hatte Heinz Schöbel, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees der DDR, vorgeschlagen, „beim IOC gemeinsam
Zweitens: Daume habe mit dem IOC-Präsidenten Avery Brundage über diese Idee gesprochen, und der unterstütze sie.
Drittens: Daume wolle die Frage im Rahmen der nächsten Olympia-Verhandlungen am 18. Juni 1963 mit der Delegation der DDR besprechen.
Viertens: „Dr. Schöbel hat sinngemäß geäußert, dass dies ein sehr interessanter Vorschlag sei und man einmal darüber sprechen könne.“
Die Mitglieder des Politbüros waren sicher, dass es Daume und Brandt nicht um den Sport ging: Der Vorschlag war ihrer Meinung nach nur gemacht worden, um die Mauer infrage zu stellen, West-Berlin an die Bundesrepublik zu binden, Ost-Berlin aus der DDR zu lösen, Daumes Image aufzupolieren und dem Ansehen der DDR zu schaden – kurz: der Vorschlag war „eine politische Provokation“. Auch Alfred Heil, Präsidiums-Mitglied des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB), hatte rund einen Monat zuvor gewertet: „Offensichtlich hat Daume vor, eine Provokation zu starten“. Also wurde selbst ein Katalog von Forderungen aufgestellt, welche die DDR sämtlich erfüllt sehen wollte, um einer Bewerbung Berlins zuzustimmen. Auf dessen mögliche Konsequenzen für die Wahrscheinlichkeit einer Bewerbung gingen Honecker und Ewald mit keinem Wort ein, doch wird bei der Lektüre dieses Katalogs deutlich, dass die Spiele nicht gewollt waren. Jede einzelne Bedingung hätte die West-Berliner beziehungsweise westdeutsche Politik 1963 als Zumutung zurückgewiesen. Es begann mit der noch verständlichen Forderung, die Stadtoberhäupter von Ost- und West-Berlin müssten gemeinsam zu den Spielen einladen und natürlich vorher darüber verhandeln.
Schon die zweite Bedingung war aber seinerseits eine Provokation: Die Regierung der DDR, und zwar nur diese, müsse die traditionsgemäße Bestätigung der Einladung vornehmen, da West-Berlin auf ihrem Territorium liege. Mit derselben Begründung erklärte man den eigenen Staat für zuständig für alle mit den Spielen verbundenen Einreisefragen. Somit müsse der Bürgermeister West-Berlins vor Abgabe der Bewerbung mit dem Ministerpräsidenten der DDR verhandeln. Aus territorialen Gründen sei das traditionell für die Eröffnung der Spiele zuständige Staatsoberhaupt Walter Ulbricht, außerdem sei die DDR-Fahne zu hissen und die entsprechende Hymne zu spielen. Walter Ulbricht allein gebe den während der Spiele üblichen Empfang beim Staatsoberhaupt des Ausrichters, und das Organisationskomitee der Spiele müsse seinen Sitz in Ost-Berlin haben. West-Berlin müsse dafür die Hälfte der Kosten für die Spiele „in seiner Währung“ tragen. Außerdem hatten Honecker und Ewald die Vorbedingung formuliert, West-Berlin müsse eine „freie Stadt“ werden. Mit diesem politischen Ansinnen hatte Nikita Chruschtschow die Berlin-Krise von 1958 ausgelöst. In den Verhandlungsansätzen der UdSSR, des Warschauer Paktes und auch der DDR war es seitdem immer wieder nachzuweisen, der Westen lehnte es immer wieder ab.
Die westdeutschen Überlegungen verhielten sich spiegelbildlich hierzu: Auch im Schöneberger Rathaus und in Bonn war man keinesfalls Feuer und Flamme für Olympische Spiele in Berlin. Gleichzeitig war man aus vollem Herzen dafür. Was heute unvereinbar klingt, entsprach der Denklogik des Kalten Krieges: Wären aus Ost-Berlin wirklich Signale gekommen, dass die dortige Führung die Mauer einzureißen wünsche, um gemeinsam mit dem Westteil der Stadt Olympische Spiele auszurichten, hätte dies die Durchsetzung wesentlicher politischer Ziele bedeutet. Mit der Realität hatten diese Konjunktive allerdings wenig zu tun. Ihr konnte einzig die Einschätzung von Egon Bahr, damals Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin, entsprechen: „Wir waren [1963, KL] der Meinung, dass es aussichtslos wäre, die Spiele in die Bundesrepublik zu bekommen.“
Die Siegermächte und eventuelle Olympische Sommerspiele 1968 in Berlin
Es ist hier nicht möglich, ausführliche Erläuterungen zur deutschlandpolitischen Gesamtsituation in den Jahren 1961 bis 1963 vorzunehmen. Entscheidend für eine Einordnung der Geschehnisse ist, dass weder die Ost- noch die Westdeutsche Regierung zu diesem Zeitpunkt in ihren Entscheidungen vollends souverän waren. Einige Autoren vertreten die Ansicht, dass eigentlich der Kreml entschieden habe, 1968 dürften keine Olympischen Spiele in Berlin stattfinden.
Für die Westdeutschen selbst war eine erfolgversprechende Kontaktaufnahme mit dem Kreml nicht möglich. Konrad Adenauer hatte nicht annähernd so gute Beziehungen zu den dortigen Machthabern wie die späteren Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt mit der neuen Ostpolitik im Rücken. Aber selbst wenn trotzdem ein Versuch in diese Richtung unternommen worden wäre, ist anzunehmen, dass Spuren davon, dass die Sowjets das Thema „Berlin 1968“ angesprochen hätten, in den Aktenbeständen zur DDR-Olympiapolitik zu finden seien. Gerade wegen der enormen politischen Dimension dieser Frage wäre die Position der sowjetischen Genossen dazu sicher im Politbüro erörtert worden. Das war allerdings nie der Fall.
Ein geteiltes Desinteresse an Spielen in Berlin zwischen Moskau und Ost-Berlin war aus damaliger Perspektive voraussehbar. War Daume trotzdem der Meinung, mithilfe der sowjetischen Regierung an den DDR-Vertretern vorbei zum Ziel kommen zu können? Aber aus welchem Grund hätte der Kreml Sommerspiele 1968 in Berlin befürworten sollen? Hier findet sich schlicht keiner. Im Gegenteil: Chruschtschow hatte nie den Eindruck erweckt, er habe Interesse daran, die DDR aufzugeben. Seine Politik war vielmehr auf die Stabilisierung des Landes gerichtet. Diese wäre einfacher zu erreichen gewesen, hätte man die westliche Exklave dem Ulbricht-Staat einverleiben können. Da dies aber nicht geschehen war und auf absehbare Zeit nicht geschehen würde, musste zunächst eine deutliche Trennung der Stadthälften genügen. Der (vorläufige) sowjetische Standpunkt war, dass Ost-Berlin zur DDR gehöre, West-Berlin aber nicht zur Bundesrepublik.
„Aus Moskau“ lies sich jedoch kein einziges Schriftstück zum Thema auffinden, ganz im Gegensatz zu den Westmächten: Sie lehnten Olympische Spiele 1968 in Berlin eindeutig ab.
„Im Hinblick auf die […] politische und staatsrechtliche Problematik des von Herrn Daume gemachten Vorschlages wird vorgeschlagen, den Gesamtkomplex mit ihm baldmöglichst erneut zu erörtern. Dabei sollte er über die sehr entschieden vorgetragenen Bedenken der drei westlichen Alliierten gegen seinen Plan unterrichtet und darauf hingewiesen werden, dass es dem Auswärtigen Amt unter diesen Umständen zu seinem Bedauern nicht möglich erscheine, den Gedanken der Kandidatur Berlins für die Olympischen Spiele 1968 weiter zu verfolgen.“
Ob und wann in diesem Sinne mit Daume gesprochen wurde, ist unklar. Keinen Zweifel gibt es hingegen am weiteren Standpunkt des AA zur Sachlage, denn ein hoher Beamter notierte für den Minister:
„Selbst wenn die übrigen außerordentlich großen Schwierigkeiten beseitigt werden könnten, dürfte das Projekt an dem Widerspruch der Alliierten scheitern. Dieser Gesichtspunkt sollte jedoch der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis gebracht werden. Auch dürfte es aus innerpolitischen Erwägungen angezeigt sein, eine glatte Ablehnung der Berliner Bewerbung seitens der Bundesregierung zu vermeiden.“
Das Wünschbare und das Mögliche
Angesichts der geschilderten Lage kann es nicht überraschen, dass der IOC-Kanzler Otto Mayer dem Regierenden Bürgermeister West-Berlins am 11. Juni 1963 schließlich mitteilte, „dass das IOC die Kandidatur Ihrer Stadt nicht aufrechterhalten konnte, was es lebhaft bedauert“.
Die kürzeste nachträgliche Bewertung der Vorgänge stammt von Daume selbst. Volker Kluge, deutscher Sportjournalist und ehemaliger Sportfunktionär der DDR, berichtete:
„Ich habe mit Daume 1990 über das ‚Berlin-Projekt‘ von 1963 gesprochen. Natürlich hat mich das interessiert, vor allem wie es dazu kam. Doch Daume hatte eigentlich überhaupt keine Lust, sich darüber auszulassen, und er meinte nur: ‚Das war doch nur eine Provokation.‘ Ich habe also damals nicht weiter gebohrt, denn seine Aussage war ja eindeutig.“
„Ich glaube, das war einfach nur ein Vorpreschen, um auch einmal beim IOC abzuklären, wie weit man gehen kann. Sie haben ja eine Aussage von Daume nach der Wende zitiert, dass die ganze Sache nur Propaganda war. Ich denke, das kommt der Wahrheit ziemlich nahe. Andererseits leben wir heute mit dem Wissen, dass die Mauer in Berlin knapp über 28 Jahre stand. Wir reden hier über eine Zeit, da war gerade etwas mehr als eines davon vorbei. Der Rest war als Zukunft offen. Wir hatten uns noch nicht an dieses Monstrum gewöhnt. […] Ich halte es nicht für unmöglich, dass sie [die Initiative für Olympische Sommerspiele in Berlin 1968, KL] bei einigen mit der Vorstellung verbunden war: ‚Wir versuchen es einmal damit, vielleicht klappt es ja doch, es wäre so schön.‘ Ich glaubte persönlich aber nicht daran.“
Trotzdem bewies selbst dieser Vorgang, dass die in die Sportpolitik gesetzten Hoffnungen immer noch ein Stück größer sind als ihre Möglichkeiten: „Jeder in Deutschland weiß, dass Berlin unsere Olympia-Stadt ist“, betonte Daume fast entschuldigend gegenüber Brundage.
Zitierweise: Karsten Lippmann, Verhilft Olympia zur Einheit? Deutsch-deutsche (Nicht-)Bemühungen um die Spiele 1968 für Berlin, in: Deutschland Archiv, 5.4.2018, Link: www.bpb.de/267428