Im Herbst 1989 verlor die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) nicht nur ihre Macht. Mit den Massenaustritten vollzog sich auch ihr innerer Zerfall. Dieser von außen scheinbar plötzlich einsetzende, massenhafte Loyalitätsverlust war jedoch Endpunkt einer langen Geschichte des inneren Rückzugs. Die Politik der Westöffnung unter Parteichef Erich Honecker trug wesentlich dazu bei, dass Parteimitglieder von der SED abrückten.
Die neue Zweiklassengesellschaft Die Politik der Westöffnung und der innere Zerfall der SED-Parteibasis
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Wenn sich im nächsten Jahr der Mauerfall zum 30. Mal jährt, werden erneut Erinnerungsbilder der protestierenden Bürgerrechtler und aufbegehrenden Ostdeutschen reaktiviert, die im Schulterschluss eine friedliche Revolution herbeiführten. Zwar wissen wir mittlerweile, dass der Erfolg der Bürgerrechtsbewegung auch der inneren Schwäche der SED geschuldet war.
Im staatssozialistischen Alltag waren es jedoch ganz wesentlich die einfachen Mitglieder an der Basis der Staatspartei, die millionenfach und jahrzehntelang in den Betrieben und Nachbarschaften im Namen der SED wirkten, als ehrenamtlicher Parteisekretär, als Mitglied des Wohngebietsausschusses des Stadtbezirks oder der Gemeinde, als Wahlhelfer oder als Kampfgruppenmitglied. Sie setzten vor Ort die Politik der Staatspartei um und gegebenenfalls auch durch. Anstatt wie gewohnt für die Parteiführung und ihre Politik einzutreten, verließen sie im Herbst 1989 in Scharen die Partei, zogen sich schweigend und resignierend in ihre Büros oder Wohnungen zurück, oder schlossen sich sogar teilweise den Massendemonstrationen an.
Doch war dieser massenhafte Loyalitätsverlust keine spontane und zwangsläufige Reaktion einer überwiegend opportunistischen Mitgliederschaft. Die Massenaustritte können vielmehr als Endpunkt einer langen Geschichte des inneren Rückzugs betrachtet werden. Dieser innere Zerfall der SED-Parteibasis setzte in den 1970er Jahren ein und spitzte sich im Laufe der 1980er Jahre sukzessive zu. Und wie ein genauer Blick zeigt, war es ausgerechnet die Politik der Westöffnung unter Parteichef Erich Honecker, die ganz entschieden zu diesem innerparteilichen Erosionsprozess beitrug.
Die SED-Parteibasis in der staatssozialistischen Gesellschaft
Heute sind die Bilder von SED-Mitgliedern maßgeblich von Moralkategorien bestimmt, denen die Vorstellung zugrunde liegt, dass die Anhänger der Staatspartei Rädchen in einer diktatorischen und perfekt funktionierenden Machtmaschine waren.
Denn die SED war keine außerhalb der staatssozialistischen Industriegesellschaft stehende Machtinstitution, sondern mit ihren 2,3 Millionen Mitgliedern tief in ihr verankert.
Westdeutschland als Feindbild, Sehnsuchtsort und materielle Gegenwelt
Die Bundesrepublik war zentrales Feindbild und der Sozialismus beanspruchte gegenüber dem Kapitalismus das bessere und gerechtere Gesellschaftssystem zu sein.
Aus Perspektive der Ostdeutschen war Westdeutschland ein Reise- und Sehnsuchtsort, der überwiegend mit dort lebenden Verwandten assoziiert wurde. Seit 1972 konnten sie Reisen in „dringenden Familienangelegenheiten“ auch unterhalb des Rentenalters beantragen.
Drei Gruppen mit unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten
Der Zugang zu Westreisen und westdeutscher Währung trennte nicht etwa Parteilose und Parteimitglieder voneinander. Vielmehr zog sich der Riss quer durch die Mitgliederschaft. Zunächst waren da die Profiteure, die zufällig Verwandte im Westen hatten.
Die neue Zweiklassengesellschaft
Bald nachdem die ersten Intershops ihre Ladentüren in den Wohngebieten geöffnet hatten, registrierte die Staatssicherheit Verdruss über die zunehmende Bedeutung des Westgeldes im DDR-Alltag. Im Februar 1977 notierten die Auswertungsoffiziere des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in einem Stimmungsbericht großen Ärger in der Bevölkerung, insbesondere bei jenen, die „einen festen Klassenstandpunkt zu unserem Staat besitzen“.
Doch hatte die Frustration nicht nur eine materielle, sondern auch eine moralische Dimension. Die wachsende Präsenz und Bedeutung der D-Mark untergrub die Autorität und Glaubwürdigkeit der SED. Dieses moralische Dilemma verdeutlicht etwa die anonyme Eingabe eines langjährigen Parteimitglieds und vermutlich Lehrers an Erich Honecker vom Januar 1980. Verbittert klagte er über die neue Ungleichheit und die Doppelmoral bei Vorgesetzten:
„[...] Haben wir es wirklich so nötig, uns unseren Wohlstand mit der westdeutschen Währung zu erkaufen? [...] Wie kann die Partei und Regierung es zulassen, dass sehr viele staatliche Leiter und Parteifunktionäre ihren Wohlstand durch Währungen des westlichen Auslandes verbessern. [...] Solche Funktionäre sollten unsere Bürger von der Richtigkeit unserer Politik überzeugen und vor allen Dingen Vorbild sein. Kann eine gespaltene Persönlichkeit überzeugend sein? [...].“
Offenbar gehörte er zu jenen, die keinen Zugang zur begehrten D-Mark hatten. Doch bestand seine Verbitterung ganz wesentlich darin, dass die wachsende Bedeutung der westlichen Währung die Wertewelt der SED auf den Kopf stellte. Dieses Empfinden musste insbesondere bei jenen Parteimilieus verbreitet sein, die eng mit dem Feindbild verbunden waren. Auch die Zentrale Parteikontrollkommission registrierte besorgt eine „Sucht nach Devisen“ in der Mitgliederschaft.
Diese sozial-moralische Problematik spitzte sich im Laufe der 1980er Jahre zu. Während sich die allgemeine Versorgung zunehmend verschlechterte, entwickelte sich die D-Mark sukzessive zur heimlichen Zweitwährung.
Innerparteiliches Tabuthema
Während sich die Herausbildung einer neuen Zweiklassengesellschaft zum veritablen Konfliktfeld entwickelte, herrschte vonseiten der höheren SED-Instanzen Sprachlosigkeit. Seit 1977 galt der von Erich Honecker verkündete Standpunkt, dass die Intershops keine ständigen Begleiter des Sozialismus seien.
In den Versammlungszimmern der Betriebe, Behörden oder Forschungsinstitute war die konfliktreiche Zugangsfrage ein Tabuthema. Denn offiziell galt die Vorgabe für SED-Mitglieder in Briefen oder im persönlichen Gespräch mit Verwandten und Bekannten aus Westdeutschland, „die Politik der SED offensiv und wirksam zu erläutern, die antikommunistische Propaganda sowie die friedensgefährdenden Machenschaften des Imperialismus überzeugend zu widerlegen und zu entlarven.“
Die strengen innerparteilichen Sagbarkeitsregeln des entpolitisierten Parteilebens begannen angesichts des immer kontroverser diskutierten Konfliktfeldes um den ungleichen Zugang zur D-Mark brüchig zu werden. Als im Spätsommer 1988 ein neues Wartburg-Modell angekündigt wurde, kam es insbesondere in Industriebetrieben zu regelrechten Wutausbrüchen. Die Preiserhöhung des Fahrzeugs, das nun außerdem mit dem Motor eines westdeutschen Autobauers angetrieben wurde, gab auch der Kontroverse um die ungleichen Zugangsbedingungen zur D-Mark einen Schub. Denn die neue Karosse galt vielen als Symbol für die anziehende soziale Ungleichheit und die zunehmende Abhängigkeit vom Westen. Immer offener, so berichtete das MfS, wurde nun von der Herausbildung einer Zweiklassengesellschaft gesprochen sowie in Parteiversammlungen der Standpunkt der Parteiführung angezweifelt und sogar abweichende Meinungen zum Ausdruck gebracht.
Der innere Rückzug der SED-Parteibasis
Auch die Lockerungen der Westreiserestriktionen trugen seit 1985 ganz erheblich zu dieser Entwicklung bei. Auf Weisung Honeckers wurden die Reiseanlässe und damit der Kreis der Reiseberechtigten erweitert.
Die gelockerte Handhabe der Westreiseregelungen führte nicht nur zu einem Akzeptanzverlust der bestehenden Reiserestriktionen. Die Erlebnisberichte der Rückkehrer befeuerten den Diskurs um die schlechte heimische Versorgungslage und es entwickelten sich Zweifel an der Wirtschaftskraft der DDR insgesamt. Die Schilderungen entzogen Parteimitgliedern bei ihrer Vermittlungsarbeit jegliche Basis. Lehrer und Dozenten klagten etwa darüber, dass Jugendliche die Notwendigkeit des Feindbildes und sogar der Mauer in Frage stellten und verneinten. Da sich die Ideologievermittlung immer mehr zum Spießrutenlauf entwickelte, wuchs der Wunsch, von den Parteiapparaten aller Ebenen überzeugende Argumente zu erhalten. Diese Erwartung wurde jedoch enttäuscht.
Als die Parteiführung im Dezember 1988 mit einer neuen Reiseverordnung die lockere Genehmigungspraxis wieder zurücknahm, konnte sie auch unter Parteimitgliedern keine Zustimmung ernten. Der Schritt zurück zur strengeren Handhabe verlieh dem Unmut nur einen weiteren Schub.
Fazit: D-Mark und Westreisen als innerparteiliche Erosionsfaktoren
Versteht man einfache Parteimitglieder als soziale Akteure in der staatssozialistischen Gesellschaft, ergibt sich das Bild, dass die 1980er Jahre alles andere als ein ruhiges und stabiles Jahrzehnt waren. Durch die Legalisierung der Westmark, den Ausbau der Intershops und die Lockerung der Westreiserestriktionen verlor die Parteiführung ihre Hoheit über den Zugang zu Ressourcen. Politische Loyalität wurde materiell wie ideell entwertet und SED-Mitglieder waren zunehmend weder fähig noch willens, die janusköpfige Politik der Parteiführung im Alltag zu vertreten. Unter denjenigen, die auch wegen ihres Berufs das Feindbild der SED zu vertreten hatten, führte die Herausbildung einer neuen Zweiklassengesellschaft zu einer regelrechten Sinnkrise. Diese Entwicklung des inneren Rückzugs, die den inneren Zerfall im Herbst 1989 vorbereitete, steht ganz in Kontrast zur mobilisierenden Kraft der SED und ihrer Gesellschaftskonzeption, die in den 1950er und 1960er Jahren von ihr ausging.
Zitierweise: Sabine Pannen, Die neue Zweiklassengesellschaft – Die Politik der Westöffnung und der innere Zerfall der SED-Parteibasis, in: Deutschland Archiv, 19.3.2018, Link: www.bpb.de/266361
Studium der Neueren und Neuesten Geschichte und Kunstgeschichte in Berlin und Kapstadt. 2017 promovierte sie an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema „Wo ein Genosse ist, da ist die Partei!“ Der innere Zerfall der SED-Parteibasis 1979–1989.
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