Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzten die Alliierten in den vier Besatzungszonen Deutschlands Maßnahmen zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten durch. Dazu wurden auch geschlossenen Venerologischen Einrichtungen aufgebaut – Veneral Disease-Hospitäler und Fürsorgeheime für Geschlechtskranke sowie geschlossene Venerologische Stationen.
In die geschlossenen Venerologischen Stationen der DDR wurden Mädchen und Frauen ab dem zwölften Lebensjahr zwangseingewiesen, wenn ein Verdacht auf eine Geschlechtskrankheit vorlag. Die Stationen waren ein staatliches Instrument zur Durchsetzung einer paternalistischen Biopolitik und dienten primär der Absicherung der SED-Diktatur.
Im vorliegenden Beitrag stellen wir am Beispiel der geschlossenen Venerologischen Stationen in Halle (Saale) und Leipzig-Thonberg die Aktivitäten von zwei Ärzten dar, die im Dienst des MfS standen. Während IM „Schneider“ ab 1976 für das MfS tätig war, berichtete der Inoffizielle Mitarbeiter Sicherheit (IMS) „Karl“ zwischen 1958 und 1989 dem MfS. Wir haben zunächst die BStU-Akten der beiden Ärzte historisch-kritisch ausgewertet. Anschließend haben wir Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Patienten geführt. Auf dieser Grundlage werden folgende Fragen behandelt: Was waren geschlossene Venerologische Stationen in der SBZ und DDR? Wie wurden die Stationen durch das MfS überwacht? Welche Aktivitäten beziehungsweise „Operativen Vorgänge" (OV) des MfS gab es in den Stationen?
Rechtliche Grundlagen der geschlossenen Venerologischen Stationen
Ihren rechtlichen Ursprung hatten die Stationen der SBZ, DDR und der Bundesrepublik im „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ vom 18. Februar 1927.
In der SBZ hatte das Weimarer Reichsgesetz zunächst Bestand, wurde mit den Befehlen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) Nr. 25 und 30 ergänzt und dann mit dem SMAD-Befehl Nr. 273 aufgehoben. Vor allem im SMAD-Befehl Nr. 273, der von 1947 bis 1961 gültig war, wurden die Fragen der Zwangseinweisung geschlechtskranker und krankheitsverdächtiger Personen geregelt.
Zwar war in der DDR-Verordnung ein dreistufiges Verfahren vorgesehen, an dessen Ende erst die Zwangseinweisung stand. Doch in der Praxis verfügten Venerologen oder Fürsorger die Zwangseinweisungen in geschlossene Venerologische Stationen, ohne das dreistufige Verfahren zu beachten. Ebenso griffen Polizisten Mädchen und Frauen auf Bahnhöfen, bei Veranstaltungen oder in Wohnheimen auf und führten sie in der Regel sofort den Stationen zu.
Häufigkeit der Zwangseinweisungen und Therapien
Offizielle Zahlen zu den Zwangseinweisungen in die geschlossene Venerologische Station in Halle (Saale) verdeutlichen das Ausmaß der Einweisungen. 1977 wurden dort 235 Mädchen und Frauen der Stadt und des Bezirks Halle zwangseingewiesen, von denen etwa 30 Prozent nachweislich mit einer Geschlechtskrankheit infiziert waren.
Darüber hinaus konnten wir die Patientenakten des Fürsorgeheims für Geschlechtskranke Leipzig-Thonberg und der aus dem Fürsorgeheim hervorgehenden geschlossenen Venerologischen Station stichprobenartig auswerten. Mit diesen Akten kann ein einzigartiger Einblick in den Alltag der Einrichtungen in Leipzig-Thonberg gewonnen werden. Für den Zeitraum 1946 bis 1990 sind insgesamt etwa 5000 Patientenakten überliefert, von denen wir etwa 40 Prozent ausgewertet haben. Die Auswertung der Akten ergab für den Zeitraum 1946 bis 1961, in dem die SMAD-Befehle gültig waren, dass bei 78 Prozent der Zwangseingewiesenen eine Geschlechtskrankheit diagnostiziert und therapiert wurde. Dagegen wurde im Zeitraum 1961 bis 1990, in dem die DDR-Verordnung vom Februar 1961 gültig war, nur bei 30 Prozent der Zwangseingewiesenen eine Geschlechtskrankheit diagnostiziert und behandelt. Vor allem die Verwahrung von Personen ohne medizinische Indikation ist ein Beleg dafür, dass die Stationen zur Disziplinierung derjenigen Personen verwandt wurden, die wegen „Herumtreiberei“ oder „Arbeitsbummelei“ eingewiesen worden waren. Das war ein klarer Verstoß gegen die Verordnung.
Funktion und Alltag
Ohne Vorgaben des MfG erließen Chefärzte Hausordnungen für ihre jeweilige geschlossene Venerologische Station und legten damit ein internes normatives Reglement fest.
Auch die Aufnahme in die Stationen war in den Hausordnungen geregelt und wurde von Zeitzeugen wie folgt beschrieben: Entkleidung, Abnahme persönlicher Gegenstände, Waschen (gegebenenfalls mit Rasur), Ankleiden mit Anstaltskleidung (blauer Kittel), Anamnese, gynäkologische Untersuchung und Zuweisung eines Bettes. Die Anamnese, bei der auch Angaben zu Sexualpartnern gemacht werden mussten, wurde anfänglich von Famulanten – das heißt von Studierenden der Humanmedizin, die praktische Erfahrung sammeln – später von Psychologen erhoben. Die gynäkologische Untersuchung führten zumeist die Stationsärzte beziehungsweise die Stationsschwestern durch. Schließlich war selbst der Tagesablauf in den Hausordnungen geregelt, deren Umsetzung von Zeitzeugen bestätigt wurde: Vor sechs Uhr wurden die Zwangseingewiesenen geweckt. Nach dem Waschen folgten die tägliche gynäkologische Untersuchung und das Frühstück. In Halle mussten arbeitsfähige Zwangseingewiesene Hilfsarbeiten verrichten, wie beispielsweise Putzen, Ausgabe von Essen oder Zellstoff zerschneiden. In Leipzig-Thonberg wurden die Frauen eher verwahrt, was vermutlich mit der langen Tradition der Einrichtung zusammenhängt, die ins frühe 20. Jahrhundert zurückreicht. Ab 21 Uhr war Nachtruhe.
Auf den Stationen herrschte ein hierarchisches Unterdrückungssystem, das durch die Hausordnung bestimmt und von den Ärzten, Schwestern und „Stubenältesten“ umgesetzt wurde. Erziehungsmaßnahmen waren beispielsweise die Nachtruhe außerhalb des Bettes auf einem Hocker. Gleichzeitig gab es Belohnungen – beispielsweise durch Zuteilung von Zigaretten. Die „Stubenältesten“ wurden von den Schwestern ernannt. Sie teilten den Stubendienst ein oder organisierten die Hilfstätigkeiten. Einige Zeitzeugen berichten, dass sie sich gegen die Behandlungen oder den Umgang mit ihnen zur Wehr gesetzt haben. Dieser Widerstand wurde durch das medizinisch-pflegerische Personal und die „Stubenältesten“ sanktioniert. Ein Opponieren durch Angehörige oder durch das medizinisch-pflegerische Personal ist nicht überliefert.
„Medizinische Versorgung“ und deren Folgen
Geschlechtskrankheiten wurden ab Anfang der 1950er Jahre in der DDR mit Penicillin behandelt. Die Penicillin-Kur dauerte sieben bis 14 Tage, abhängig davon, ob es sich um eine Erstinfektion oder eine chronische Erkrankung handelte. Doch in den meisten Fällen lag keine medizinische Indikation, kein tatsächlicher körperlicher Befund vor, der die Voraussetzung für eine medizinische Handlung darstellt. Dennoch wurden die Mädchen und Frauen täglich gegen ihren Willen gynäkologisch untersucht. Bei der Entnahme des Abstrichs kam es häufig zu Verletzungen, Blutungen und bei Erstabstrichen zu Deflorationen.
Die geschlossene Station Halle (Saale) und die Berichte des IM „Schneider“
Ab 1976 wurde die geschlossene Venerologische Station in Halle durch das MfS überwacht. Hintergrund waren Eingaben über Missstände an der Poliklinik Mitte und Beschwerden über die Behandlungsmethoden des Leiters der geschlossenen Station.
Fortan konzentrierte sich IM „Schneider“ ausschließlich auf die Versorgung der Zwangseingewiesenen. So berichtete er etwa, dass die Frauen in Halle besonders stark diszipliniert und Einzelne beispielsweise mehrere Tage im Bad isoliert wurden.
Die geschlossenen Stationen Halle und Leipzig-Thonberg und die Berichte des IMS „Karl“
1958 wurde IMS „Karl“ als Student der Humanmedizin vom MfS angeworben.
Darüber hinaus verfasste IMS „Karl“ kleinere Dossiers über einzelne Patienten. Darin sind Angaben zur beruflichen Situation, zur Lebensweise und zu Partnerschaften zu finden. IMS „Karl“ berichtete unter anderem von einer Patientin, die arbeitslos war und häufig die Partner wechselte. Diese Patientin wurde vom IMS „Karl“ in der Hautklinik Magdeburg untersucht und anschließend zur Behandlung einer Geschlechtskrankheit in die geschlossene Venerologische Station Leipzig-Thonberg zwangseingewiesen.
Ein Vergleich der Berichte des IMS „Karl“ mit denen des IM „Schneider“ zeigt deutliche Unterschiede. IM „Schneider“ berichtete vor allem über seine ärztlichen Kollegen, wobei der Leiter der geschlossenen Station im Fokus stand. Aus vorangegangen Untersuchungen zu IM-Ärzten ist bekannt, dass die meisten Ärzte über ärztliche Kollegen berichteten.
Operative Vorgänge des MfS und die geschlossenen Venerologischen Stationen
IMS „Karl“ fertigte nicht nur Berichte über Patientinnen an, sondern schlug seinem Führungsoffizier konkrete Vorgehensweisen im Rahmen Operativer Vorgänge vor. 1978 wurde IMS „Karl“ von seinem Führungsoffizier allgemein gefragt, wie man die Geschlechtskrankheit einer Person unter Einhaltung der ärztlichen Schweigepflicht öffentlich bekannt machen könne. Daraufhin einwickelte IMS „Karl“ zwei mögliche Vorgehensweisen, um Personen zu denunzieren.
1983 schlug IMS „Karl“ auf Anfrage seines Führungsoffiziers eine weitere Vorgehensweise vor. Dieser zufolge sollten gezielt Personen zur Untersuchung wegen des Verdachts auf Geschlechtskrankheiten vorgeladen werden.
Praktische Umsetzung der geplanten operativen Vorgänge
Durch Listen mit HwG-Personen, Dossiers über einzelne Patienten oder Denunziationen wusste das MfS von möglichen Geschlechtskrankheiten etwaiger Zielpersonen. Dieses Wissen wurde vom MfS unmittelbar genutzt, wie das Beispiel eines Diakons der Evangelischen Kirche in Halle zeigt. Am 28. Juni 1983 erfuhr das MfS im Rahmen technischer Abhörmaßnahmen der Abteilung 26, dass der Diakon möglicherweise eine Gonorrhoe-Infektion habe.
Bereits in den 1970er Jahren plante das MfS, Zwangseinweisungen in geschlossene Venerologische Stationen gezielt einzusetzen, um missliebige Personen DDR-weit von politischen Großereignissen fernzuhalten – beispielsweise 1973 während der Weltfestspiele in Berlin.
Fazit
Ein Gedenkstein für die in die Poliklinik zwangseingewiesenen Mädchen und Frauen (© picture alliance/ZB, dpa-Zentralbild, Foto: Hendrik Schmidt)
Ein Gedenkstein für die in die Poliklinik zwangseingewiesenen Mädchen und Frauen (© picture alliance/ZB, dpa-Zentralbild, Foto: Hendrik Schmidt)
In der SBZ und DDR konnten Mädchen und Frauen in Fürsorgeheime für Geschlechtskranke und geschlossene Venerologische Stationen zwangseingewiesen werden. Dort wurden sie häufig ohne medizinische Indikation durch Maßnahmen einer politisierten Medizin diszipliniert. Die Akteure übernahmen dabei nicht einfach ein bestehendes politisches System oder ließen sich davon instrumentalisieren. Vielmehr prägten sie das politische System selbst durch eigene Normen, beispielsweise über die von ihnen selbst verfassten Hausordnungen der geschlossenen Stationen, die sie wiederum in ihrem täglichen Handeln in den Stationen umsetzten. Dies wird am Beispiel des IMS „Karl“ deutlich, der für das MfS Pläne zu vorgetäuschten medizinischen Untersuchungen oder zur innerbetrieblichen Denunziation vermeintlich Geschlechtskranker entwickelte.
Darüber hinaus wird deutlich, dass IM-Ärzte seit Ende der 1950er Jahre für das MfS tätig waren und sowohl über ärztliche Kollegen als auch über Patienten berichteten. In diesem Zusammenhang wurde gegen die ärztliche Schweigepflicht verstoßen, wie das Beispiel des IMS „Karl“ zeigt. Dabei standen Sachfragen und persönliche sowie gesundheitliche Aspekte im Mittelpunkt. Durch solche Informationen wusste das MfS, was in der geschlossenen Venerologischen Station in Halle stattfand und welche Personen in die Stationen Halle und Leipzig-Thonberg zwangseingewiesen wurden. Diese Informationen nutzte das MfS für seine Zwecke. So wurden im Auftrag des MfS missliebige Personen nicht nur temporär verwahrt. Vielmehr waren die geschlossenen Venerologischen Stationen Teil umfassender Maßnahmen des MfS bei der Abschöpfung von Informationen und „Zersetzung“ einzelner Personen. Wie unsere Forschungsergebnisse zeigen, stehen die Stationen in Halle und Leipzig-Thonberg beispielhaft für weitere geschlossene Venerologische Stationen in der DDR.
Im September 2015 wurde in Anerkennung des Unrechts ein Gedenkstein für die zwangseingewiesenen Mädchen und Frauen in Halle eingeweiht. Im Juli 2016 beschäftigte sich die Bundesregierung mit den geschlossenen Venerologischen Stationen und beantwortete eine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu den Stationen in der DDR.
Zitierweise: Maximilian Schochow und Florian Steger, Politisierte Medizin in der DDR: Geschlossene Venerologische Stationen und das Ministerium für Staatssicherheit, in: Deutschland Archiv, 9.2.2018, Link: www.bpb.de/263827