Politisierte Medizin in der DDR: Geschlossene Venerologische Stationen und das Ministerium für Staatssicherheit
Maximilian SchochowFlorian StegerMaximilian Schochow und Florian Steger
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In der DDR konnten Mädchen und Frauen in Fürsorgeheime für Geschlechtskranke und in geschlossene Venerologische Stationen zwangseingewiesen werden – häufig ohne medizinische Indikation und unter ständiger Beobachtung des Ministeriums für Staatssicherheit. Unter den Spätfolgen von Disziplinierungsmaßnahmen und Misshandlungen leiden viele Betroffene bis heute.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzten die Alliierten in den vier Besatzungszonen Deutschlands Maßnahmen zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten durch. Dazu wurden auch geschlossenen Venerologischen Einrichtungen aufgebaut – Veneral Disease-Hospitäler und Fürsorgeheime für Geschlechtskranke sowie geschlossene Venerologische Stationen. In den drei westlichen Besatzungszonen und dann in der Bundesrepublik Deutschland bestanden Venereal-Disease-Hospitäler beispielsweise in Frankfurt am Main sowie München und geschlossene Venerologische Stationen in den Hafenstädten Bremen, Hamburg und Ludwigshafen. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und anschließend in der DDR wurden Fürsorgeheime für Geschlechtskranke in Dresden, Leipzig und Zwickau gegründet sowie geschlossene Venerologische Stationen in Berlin, Berlin-Buch, Dresden, Erfurt, Frankfurt (Oder), Gera, Halle (Saale), Chemnitz (ab 1953 Karl-Marx-Stadt), Leipzig, Rostock und Schwerin eingerichtet.
In die geschlossenen Venerologischen Stationen der DDR wurden Mädchen und Frauen ab dem zwölften Lebensjahr zwangseingewiesen, wenn ein Verdacht auf eine Geschlechtskrankheit vorlag. Die Stationen waren ein staatliches Instrument zur Durchsetzung einer paternalistischen Biopolitik und dienten primär der Absicherung der SED-Diktatur. Sie wurden vom Ministerium für Gesundheitswesen (MfG) koordiniert und vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überwacht. Neben Patientinnen waren vor allem Ärzte der Stationen für das MfS tätig. Diese inoffiziellen Mitarbeiter (IM) des MfS berichteten über das medizinisch-pflegerische Personal und die Zwangseingewiesenen.
Im vorliegenden Beitrag stellen wir am Beispiel der geschlossenen Venerologischen Stationen in Halle (Saale) und Leipzig-Thonberg die Aktivitäten von zwei Ärzten dar, die im Dienst des MfS standen. Während IM „Schneider“ ab 1976 für das MfS tätig war, berichtete der Inoffizielle Mitarbeiter Sicherheit (IMS) „Karl“ zwischen 1958 und 1989 dem MfS. Wir haben zunächst die BStU-Akten der beiden Ärzte historisch-kritisch ausgewertet. Anschließend haben wir Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Patienten geführt. Auf dieser Grundlage werden folgende Fragen behandelt: Was waren geschlossene Venerologische Stationen in der SBZ und DDR? Wie wurden die Stationen durch das MfS überwacht? Welche Aktivitäten beziehungsweise „Operativen Vorgänge" (OV) des MfS gab es in den Stationen?
Rechtliche Grundlagen der geschlossenen Venerologischen Stationen
Ihren rechtlichen Ursprung hatten die Stationen der SBZ, DDR und der Bundesrepublik im „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ vom 18. Februar 1927. Mit diesem Reichsgesetz sollte die Verbreitung von Syphilis, Gonorrhoe und Ulcus molle unter anderem durch die zwangsweise Behandlung in einem Krankenhaus bekämpft werden. Das Reichsgesetz galt in der Bundesrepublik bis 1953 und wurde dann durch das gleichnamige „Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (GeschlKrG)“ vom 23. Juli 1953 außer Kraft gesetzt. Auch die bundesrepublikanische Bestimmung ermöglichte es den Gesundheitsämtern, die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person einzuschränken, um sexuell übertragbare Erkrankungen zu bekämpfen.
In der SBZ hatte das Weimarer Reichsgesetz zunächst Bestand, wurde mit den Befehlen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) Nr. 25 und 30 ergänzt und dann mit dem SMAD-Befehl Nr. 273 aufgehoben. Vor allem im SMAD-Befehl Nr. 273, der von 1947 bis 1961 gültig war, wurden die Fragen der Zwangseinweisung geschlechtskranker und krankheitsverdächtiger Personen geregelt. Die Tradition der SMAD-Befehle, Geschlechtskranke oder Krankheitsverdächtige in geschlossenen Einrichtungen zwangseinzuweisen, sie zu disziplinieren, zu isolieren und sie teilweise zur Arbeit zu verpflichten, wurde in der Gesetzgebung der DDR aufgegriffen: Am 23. Februar 1961 erließ das MfG die „Verordnung zur Verhütung und Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“. Darin war unter anderem die Zwangseinweisung geschlechtskranker und krankheitsverdächtiger Personen festgeschrieben. Auf dieser rechtlichen Grundlage konnten Personen, die sich den ärztlichen Auflagen widersetzten, mehrfach als geschlechtskrank registriert wurden oder unter Verdacht des häufig wechselnden Geschlechtsverkehrs (HwG) standen, stationär behandelt beziehungsweise in eine geschlossene Station für Geschlechtskranke eingewiesen werden.
Zwar war in der DDR-Verordnung ein dreistufiges Verfahren vorgesehen, an dessen Ende erst die Zwangseinweisung stand. Doch in der Praxis verfügten Venerologen oder Fürsorger die Zwangseinweisungen in geschlossene Venerologische Stationen, ohne das dreistufige Verfahren zu beachten. Ebenso griffen Polizisten Mädchen und Frauen auf Bahnhöfen, bei Veranstaltungen oder in Wohnheimen auf und führten sie in der Regel sofort den Stationen zu. Etwa zwei Drittel der Zwangseinweisungen wurden mit Verdacht auf „Herumtreiberei“ oder „Arbeitsbummelei“ begründet.
Häufigkeit der Zwangseinweisungen und Therapien
Offizielle Zahlen zu den Zwangseinweisungen in die geschlossene Venerologische Station in Halle (Saale) verdeutlichen das Ausmaß der Einweisungen. 1977 wurden dort 235 Mädchen und Frauen der Stadt und des Bezirks Halle zwangseingewiesen, von denen etwa 30 Prozent nachweislich mit einer Geschlechtskrankheit infiziert waren. Bei 70 Prozent der Mädchen und Frauen wurde keine Therapie durchgeführt. Die DDR-weite Dimension wird durch Zahlen aus dem Jahr 1968 deutlich: In diesem Jahr wurden insgesamt 2763 Personen zwangseingewiesen. Auch konnte lediglich bei 777 Personen (28 Prozent) eine Geschlechtskrankheit nachgewiesen werden, sodass bei mehr als 70 Prozent keine medizinische Indikation für eine Einweisung respektive stationäre Aufnahme vorlag. Die Aufenthaltsdauer von durchschnittlich vier bis sechs Wochen konnte bis zu zwölf Wochen betragen, wenn chronische Erkrankungen therapiert oder Verstöße gegen die Hausordnung der Station sanktioniert wurden.
Darüber hinaus konnten wir die Patientenakten des Fürsorgeheims für Geschlechtskranke Leipzig-Thonberg und der aus dem Fürsorgeheim hervorgehenden geschlossenen Venerologischen Station stichprobenartig auswerten. Mit diesen Akten kann ein einzigartiger Einblick in den Alltag der Einrichtungen in Leipzig-Thonberg gewonnen werden. Für den Zeitraum 1946 bis 1990 sind insgesamt etwa 5000 Patientenakten überliefert, von denen wir etwa 40 Prozent ausgewertet haben. Die Auswertung der Akten ergab für den Zeitraum 1946 bis 1961, in dem die SMAD-Befehle gültig waren, dass bei 78 Prozent der Zwangseingewiesenen eine Geschlechtskrankheit diagnostiziert und therapiert wurde. Dagegen wurde im Zeitraum 1961 bis 1990, in dem die DDR-Verordnung vom Februar 1961 gültig war, nur bei 30 Prozent der Zwangseingewiesenen eine Geschlechtskrankheit diagnostiziert und behandelt. Vor allem die Verwahrung von Personen ohne medizinische Indikation ist ein Beleg dafür, dass die Stationen zur Disziplinierung derjenigen Personen verwandt wurden, die wegen „Herumtreiberei“ oder „Arbeitsbummelei“ eingewiesen worden waren. Das war ein klarer Verstoß gegen die Verordnung.
Funktion und Alltag
Ohne Vorgaben des MfG erließen Chefärzte Hausordnungen für ihre jeweilige geschlossene Venerologische Station und legten damit ein internes normatives Reglement fest. Mit der Unterbringung auf der Station sollten krankheitsverdächtige und geschlechtskranke Personen durch erzieherische Einwirkung, also durch Disziplinierung, zu einer „Sozialistischen Persönlichkeit“ erzogen werden, wie es in der Hausordnung von Halle heißt. Vorlage für diese Disziplinierung durch eine politisierte Medizin waren unter anderem die „10 Gebote für den neuen sozialistischen Menschen“, die 1958 auf dem fünften Parteitag der SED verkündet wurden. Vor allem das Gebot 7 zur Verbesserung der eigenen Leistung und Festigung der sozialistischen Arbeitsdisziplin sowie das Gebot 9 zur Achtung von Sauberkeit und einem anständigen Leben sind in den Hausordnungen wiederzufinden.
Auch die Aufnahme in die Stationen war in den Hausordnungen geregelt und wurde von Zeitzeugen wie folgt beschrieben: Entkleidung, Abnahme persönlicher Gegenstände, Waschen (gegebenenfalls mit Rasur), Ankleiden mit Anstaltskleidung (blauer Kittel), Anamnese, gynäkologische Untersuchung und Zuweisung eines Bettes. Die Anamnese, bei der auch Angaben zu Sexualpartnern gemacht werden mussten, wurde anfänglich von Famulanten – das heißt von Studierenden der Humanmedizin, die praktische Erfahrung sammeln – später von Psychologen erhoben. Die gynäkologische Untersuchung führten zumeist die Stationsärzte beziehungsweise die Stationsschwestern durch. Schließlich war selbst der Tagesablauf in den Hausordnungen geregelt, deren Umsetzung von Zeitzeugen bestätigt wurde: Vor sechs Uhr wurden die Zwangseingewiesenen geweckt. Nach dem Waschen folgten die tägliche gynäkologische Untersuchung und das Frühstück. In Halle mussten arbeitsfähige Zwangseingewiesene Hilfsarbeiten verrichten, wie beispielsweise Putzen, Ausgabe von Essen oder Zellstoff zerschneiden. In Leipzig-Thonberg wurden die Frauen eher verwahrt, was vermutlich mit der langen Tradition der Einrichtung zusammenhängt, die ins frühe 20. Jahrhundert zurückreicht. Ab 21 Uhr war Nachtruhe.
Auf den Stationen herrschte ein hierarchisches Unterdrückungssystem, das durch die Hausordnung bestimmt und von den Ärzten, Schwestern und „Stubenältesten“ umgesetzt wurde. Erziehungsmaßnahmen waren beispielsweise die Nachtruhe außerhalb des Bettes auf einem Hocker. Gleichzeitig gab es Belohnungen – beispielsweise durch Zuteilung von Zigaretten. Die „Stubenältesten“ wurden von den Schwestern ernannt. Sie teilten den Stubendienst ein oder organisierten die Hilfstätigkeiten. Einige Zeitzeugen berichten, dass sie sich gegen die Behandlungen oder den Umgang mit ihnen zur Wehr gesetzt haben. Dieser Widerstand wurde durch das medizinisch-pflegerische Personal und die „Stubenältesten“ sanktioniert. Ein Opponieren durch Angehörige oder durch das medizinisch-pflegerische Personal ist nicht überliefert.
„Medizinische Versorgung“ und deren Folgen
Geschlechtskrankheiten wurden ab Anfang der 1950er Jahre in der DDR mit Penicillin behandelt. Die Penicillin-Kur dauerte sieben bis 14 Tage, abhängig davon, ob es sich um eine Erstinfektion oder eine chronische Erkrankung handelte. Doch in den meisten Fällen lag keine medizinische Indikation, kein tatsächlicher körperlicher Befund vor, der die Voraussetzung für eine medizinische Handlung darstellt. Dennoch wurden die Mädchen und Frauen täglich gegen ihren Willen gynäkologisch untersucht. Bei der Entnahme des Abstrichs kam es häufig zu Verletzungen, Blutungen und bei Erstabstrichen zu Deflorationen. Die täglichen Abstriche wurden im Sinn einer abschreckenden, herabwürdigenden und disziplinierenden Maßnahme eingesetzt. Waren die Abstriche bei Erstabstrich negativ, wurden Provokationsmaßnahmen mit fieberauslösenden Mitteln vorgenommen. Diese Provokationen sollten mögliche Infektionen zum Vorschein bringen und entsprachen dem medizinischen Standard der Zeit. Die unmittelbaren Folgen der Behandlungen waren allgemeine Symptome wie Übelkeit, hohes Fieber und schubweise auftretende Krämpfe am gesamten Körper. Die medizinischen Eingriffe wurden ohne Aufklärung und ohne Einwilligung der Mädchen und Frauen durchgeführt. Die traumatischen Spätfolgen der gynäkologischen Untersuchungen sind unter anderem Angst vor Gynäkologen und Ärzten, sexuelle Inappetenz, Inkontinenz sowie interaktionelle Defizite, Partnerschaftsprobleme, Kinderlosigkeit und gestörte Mutter-Kind-Bindungen. Im Rahmen dieser psychotraumatologischen Folgen sind auch transgenerationale Belastungen zu diskutieren.
Die geschlossene Station Halle (Saale) und die Berichte des IM „Schneider“
Ab 1976 wurde die geschlossene Venerologische Station in Halle durch das MfS überwacht. Hintergrund waren Eingaben über Missstände an der Poliklinik Mitte und Beschwerden über die Behandlungsmethoden des Leiters der geschlossenen Station. Neben Untersuchungen der Staatsanwaltschaft Halle, die eingestellt wurden, warb das MfS einen Arzt der Poliklinik Mitte an, der als IM „Schneider“ Informationen zu den Vorwürfen liefern sollte. IM „Schneider“ berichtete zunächst über dienstliche und private Angelegenheiten der Mitarbeiter der Poliklinik. In den folgenden Monaten lieferte IM „Schneider“ detaillierte Einschätzungen über die Leitungsarbeit, die medizinische Qualifikation und die privaten Verhältnisse des Direktors der Poliklinik Mitte in Halle, der zugleich Leiter der geschlossenen Venerologischen Station war. Seit Oktober 1976 wusste das MfS von den täglichen Verstößen gegen geltendes DDR-Recht. In einem Bericht von 1976 werden mehrere Fälle benannt, in denen der Leiter der Station Halle gegen rechtliche Bestimmungen verstoßen hatte: Er „weist also ungerechtfertigter Weise Mädchen auf die V-Station der Poliklinik Mitte ein. Diese Einweisungen entbehren jeglicher rechtlichen Grundlage. Er weiß genau, mit welchem Personenkreis er das machen kann, hat also ausgiebig Erfahrung.“ Im Frühjahr 1977 berichtete IM „Schneider“ über Beratungen der SED-Bezirksleitung. Im Rahmen dieser Beratungen wurde der Direktor der Poliklinik Mitte entmachtet; künftig sollte er nur noch als Leiter der geschlossenen Venerologischen Station tätig sein.
Fortan konzentrierte sich IM „Schneider“ ausschließlich auf die Versorgung der Zwangseingewiesenen. So berichtete er etwa, dass die Frauen in Halle besonders stark diszipliniert und Einzelne beispielsweise mehrere Tage im Bad isoliert wurden. Zudem hätten sich die Zwangseingewiesenen untereinander geprügelt, so dass sie mit Platzwunden oder ähnlichen Verletzungen in stationäre Behandlung gebracht werden mussten. Ende 1978 berichtete IM „Schneider“ von der endgültigen Ablösung des Leiters der geschlossenen Venerologischen Station. Hintergrund war ein Vorfall, bei dem eine Patientin 48 Stunden im Bad vollständig isoliert worden war, da sie gegen die Hausordnung der Station verstoßen hatte. Die Isolation war eine Bestrafung durch den Leiter der Station und geschah auf dessen Anweisung. Die Ehefrau des IM „Schneider“, die zugleich Stationsärztin war, diagnostizierte bei der Patientin eine offene Tuberkulose und überwies sie zur Therapie ins Bezirkskrankenhaus. Der Vorgang wurde von der Stationsärztin zur Anzeige gebracht und führte mit Unterstützung des MfS zur Absetzung des Leiters. In weiteren Berichten dokumentiert IM „Schneider“ die Auseinandersetzung um die Nachfolge der Leitungsposition.
Die geschlossenen Stationen Halle und Leipzig-Thonberg und die Berichte des IMS „Karl“
1958 wurde IMS „Karl“ als Student der Humanmedizin vom MfS angeworben. Nach seiner Facharztausbildung wurde er 1968 Leiter der Hautabteilung der Kreispoliklinik Schönebeck und stellvertretender Kreisdermatologe. Ab Ende der 1960er Jahre berichtete er als IMS „Karl“ in regelmäßigen Abständen. Als stellvertretender Kreisarzt war er nicht direkt in den geschlossenen Venerologischen Stationen tätig. IMS „Karl“ berichtete über einzelne HwG-Personen des Kreises Schönebeck und deren Kontakte zu Personen aus der Bundesrepublik Deutschland. Zudem erstellte er Listen mit HwG-Personen, aus denen der Name und Familienname, das Alter, der Beruf, die Arbeitsstelle, die Wohnanschrift und die Kontaktpartner der HwG-Personen hervorgingen.
Darüber hinaus verfasste IMS „Karl“ kleinere Dossiers über einzelne Patienten. Darin sind Angaben zur beruflichen Situation, zur Lebensweise und zu Partnerschaften zu finden. IMS „Karl“ berichtete unter anderem von einer Patientin, die arbeitslos war und häufig die Partner wechselte. Diese Patientin wurde vom IMS „Karl“ in der Hautklinik Magdeburg untersucht und anschließend zur Behandlung einer Geschlechtskrankheit in die geschlossene Venerologische Station Leipzig-Thonberg zwangseingewiesen. Ab Anfang der 1980er Jahre erstattete IMS „Karl“ monatlich Bericht über Geschlechtskranke und Krankheitsverdächtige, einschließlich aller angegebenen Kontaktpersonen. In diesem Zusammenhang finden sich weitere Dossiers – beispielsweise über eine Frau, die mehr als ein halbes Jahr ohne Arbeit war, bei verschiedenen Männern lebte und sich der Behandlung einer Geschlechtskrankheit entzog. Diese Frau wurde auf seine Anweisung in die geschlossene Venerologische Station Halle zwangseingewiesen. In weiteren Berichten wurden persönliche und gesundheitliche Angaben zu minderjährigen, ausländischen oder chronisch kranken Patienten an das MfS weitergegeben. Dabei verstieß der IMS „Karl“ gegen die ärztliche Schweigepflicht, die auch in der DDR bestand.
Ein Vergleich der Berichte des IMS „Karl“ mit denen des IM „Schneider“ zeigt deutliche Unterschiede. IM „Schneider“ berichtete vor allem über seine ärztlichen Kollegen, wobei der Leiter der geschlossenen Station im Fokus stand. Aus vorangegangen Untersuchungen zu IM-Ärzten ist bekannt, dass die meisten Ärzte über ärztliche Kollegen berichteten. Die Berichte des IM „Schneider“ fügen sich somit in dieses Bild ein. Der IMS „Karl“ hingegen berichtete fast ausschließlich über Patientinnen. Entsprechend wusste das MfS, welche Patientin beispielsweise auf einer geschlossenen Venerologischen Station zwangseingewiesen war. Damit verstieß er gegen die ärztliche Schweigepflicht. Solche Verstöße gegen die Rechtsgrundsätze des medizinischen Betreuungsverhältnisses in der DDR sind für ungefähr ein Drittel aller IM-Ärzte der DDR belegt.
Operative Vorgänge des MfS und die geschlossenen Venerologischen Stationen
IMS „Karl“ fertigte nicht nur Berichte über Patientinnen an, sondern schlug seinem Führungsoffizier konkrete Vorgehensweisen im Rahmen Operativer Vorgänge vor. 1978 wurde IMS „Karl“ von seinem Führungsoffizier allgemein gefragt, wie man die Geschlechtskrankheit einer Person unter Einhaltung der ärztlichen Schweigepflicht öffentlich bekannt machen könne. Daraufhin einwickelte IMS „Karl“ zwei mögliche Vorgehensweisen, um Personen zu denunzieren. Erstens: Bei Vorladungen in die Hautklinik zur Untersuchung wegen des Verdachts einer Geschlechtskrankheit sollte nicht die private, sondern die dienstliche Adresse verwendet werden. Mit Hilfe der Vorladung in Form einer Postkarte wäre an der Arbeitsstelle schnell bekannt geworden, dass die betreffende Person krankheitsverdächtig sei. Zweitens: Krankheitsverdächtige sollten von der Polizei nicht in der Wohnung, sondern direkt im Betrieb abgeholt und der Hautklinik zugeführt werden. Auch dieses Vorgehen diente der Denunziation und Diskreditierung am Arbeitsplatz. Die vom IMS „Karl“ geplanten öffentlichen Denunziationen stellen eine „Zersetzungsmaßnahme“ dar. Solche Maßnahmen sind vor allem für Pastoren, Künstler oder Opponenten in der DDR überliefert.
1983 schlug IMS „Karl“ auf Anfrage seines Führungsoffiziers eine weitere Vorgehensweise vor. Dieser zufolge sollten gezielt Personen zur Untersuchung wegen des Verdachts auf Geschlechtskrankheiten vorgeladen werden. Diese Vorladungen sollten auf Grundlage der DDR-Verordnung von 1961 geschehen und waren vorgetäuscht. Die vorgetäuschte Vorladung zu einer ärztlichen Untersuchung ist auch von anderen IM-Ärzten überliefert. Solche Einbestellungen von Patienten oder Angehörigen sind beispielsweise bei IM-Ärzten der Betriebsmedizin belegt. In der Zeit der ärztlichen Untersuchung hatte das MfS die Möglichkeit, unbemerkt an die Schlüssel der vorgeladenen Personen zu gelangen, die Wohnungen zu überprüfen oder Abhörtechnik zu installieren. Diese offenkundig wiederholt eingesetzte Methode wurde von IMS „Karl“ weiterentwickelt und an die Besonderheiten der Venerologie angepasst.
Praktische Umsetzung der geplanten operativen Vorgänge
Durch Listen mit HwG-Personen, Dossiers über einzelne Patienten oder Denunziationen wusste das MfS von möglichen Geschlechtskrankheiten etwaiger Zielpersonen. Dieses Wissen wurde vom MfS unmittelbar genutzt, wie das Beispiel eines Diakons der Evangelischen Kirche in Halle zeigt. Am 28. Juni 1983 erfuhr das MfS im Rahmen technischer Abhörmaßnahmen der Abteilung 26, dass der Diakon möglicherweise eine Gonorrhoe-Infektion habe. In einem Gespräch zwischen einem IM „Bergmann“ und seiner Kontaktperson beim MfS gab IM „Bergmann zu Protokoll, dass der Diakon eine Gonorrhoe-Infektion habe". Mit diesem Wissen wandte sich ein Hauptmann des MfS an einen IM-Arzt mit dem Fachgebiet Dermatologie und Venerologie. Der IM-Arzt erklärte sich bereit, den Diakon vorzuladen und zu untersuchen. Gleichzeitig sollte der Diakon nach weiblichen Kontaktpersonen befragt werden. Aus einem Zeitzeugeninterview ist bekannt, dass sich der Diakon ein Antibiotikum über eine befreundete Ärztin besorgt und sich selbst therapiert hatte. Entsprechend konnte im Rahmen der Untersuchung durch den IM-Arzt keine Infektionskrankheit diagnostiziert werden.
Bereits in den 1970er Jahren plante das MfS, Zwangseinweisungen in geschlossene Venerologische Stationen gezielt einzusetzen, um missliebige Personen DDR-weit von politischen Großereignissen fernzuhalten – beispielsweise 1973 während der Weltfestspiele in Berlin. Dass solche Pläne in den 1980er Jahren realisiert wurden, verdeutlicht der Vorgang um den Diakon der Evangelischen Kirche in Halle. Die vorgetäuschte Vorladung sollte einerseits der temporären Verwahrung des Patienten dienen sowie dazu, Informationen über Kontakte mit Frauen zu gewinnen. Andererseits war sie Teil einer breit angelegten Zersetzungsmaßnahme der MfS-Abteilung 26, bei der Telefonate protokolliert, Abhörmaßnahmen in Wohnungen und Videoüberwachungen vorgenommen wurden. Die geschlossenen Venerologischen Stationen dienten dem MfS aber nicht nur für die temporäre Verwahrung und Abschöpfung von Informationen. Vielmehr deuten die bei den geschlossenen Venerologischen Stationen beobachtbaren Praktiken auch darauf hin, dass die Zwangseingewiesenen zudem diszipliniert und teilweise für die Zusammenarbeit mit dem MfS gewonnen werden sollten.
Fazit
In der SBZ und DDR konnten Mädchen und Frauen in Fürsorgeheime für Geschlechtskranke und geschlossene Venerologische Stationen zwangseingewiesen werden. Dort wurden sie häufig ohne medizinische Indikation durch Maßnahmen einer politisierten Medizin diszipliniert. Die Akteure übernahmen dabei nicht einfach ein bestehendes politisches System oder ließen sich davon instrumentalisieren. Vielmehr prägten sie das politische System selbst durch eigene Normen, beispielsweise über die von ihnen selbst verfassten Hausordnungen der geschlossenen Stationen, die sie wiederum in ihrem täglichen Handeln in den Stationen umsetzten. Dies wird am Beispiel des IMS „Karl“ deutlich, der für das MfS Pläne zu vorgetäuschten medizinischen Untersuchungen oder zur innerbetrieblichen Denunziation vermeintlich Geschlechtskranker entwickelte.
Darüber hinaus wird deutlich, dass IM-Ärzte seit Ende der 1950er Jahre für das MfS tätig waren und sowohl über ärztliche Kollegen als auch über Patienten berichteten. In diesem Zusammenhang wurde gegen die ärztliche Schweigepflicht verstoßen, wie das Beispiel des IMS „Karl“ zeigt. Dabei standen Sachfragen und persönliche sowie gesundheitliche Aspekte im Mittelpunkt. Durch solche Informationen wusste das MfS, was in der geschlossenen Venerologischen Station in Halle stattfand und welche Personen in die Stationen Halle und Leipzig-Thonberg zwangseingewiesen wurden. Diese Informationen nutzte das MfS für seine Zwecke. So wurden im Auftrag des MfS missliebige Personen nicht nur temporär verwahrt. Vielmehr waren die geschlossenen Venerologischen Stationen Teil umfassender Maßnahmen des MfS bei der Abschöpfung von Informationen und „Zersetzung“ einzelner Personen. Wie unsere Forschungsergebnisse zeigen, stehen die Stationen in Halle und Leipzig-Thonberg beispielhaft für weitere geschlossene Venerologische Stationen in der DDR.
Im September 2015 wurde in Anerkennung des Unrechts ein Gedenkstein für die zwangseingewiesenen Mädchen und Frauen in Halle eingeweiht. Im Juli 2016 beschäftigte sich die Bundesregierung mit den geschlossenen Venerologischen Stationen und beantwortete eine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu den Stationen in der DDR. Seit Sommer 2016 sind mehrere Urteile von Landes- und Oberlandesgerichten gesprochen worden, in denen die Unterbringung in den geschlossenen Venerologischen Stationen Halle und Leipzig-Thonberg für rechtsstaatswidrig erklärt wurde.
Zitierweise: Maximilian Schochow und Florian Steger, Politisierte Medizin in der DDR: Geschlossene Venerologische Stationen und das Ministerium für Staatssicherheit, in: Deutschland Archiv, 9.2.2018, Link: www.bpb.de/263827
Dr.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm.
Univ.-Prof. Dr.; Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm.
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