Seit der Jahrtausendwende ist viel von Kriegskindern und Kriegsenkeln die Rede. Eindringliche Schwarz-Weiß-Bilder von Flucht und Vertreibung prägen das kollektive Gedächtnis der Deutschen. Geflüchtete, die in Deutschland Schutz und ein besseres Leben suchen, haben die Erinnerungen an die eigene Geschichte einmal mehr wachgerufen. Zu Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise im Herbst 2015 hofften manche daher, dass aus diesen Erinnerungen Mitgefühl und solidarisches Handeln erwachsen könnten.
Zwei Jahre später aber werden die Debatten von Bewegungen und Parteien beherrscht, die in vermehrter Zuwanderung vor allem eine Bedrohung sehen. Nicht neu aber dennoch erschreckend ist, dass fremdenfeindliche Aussagen in den ostdeutschen Bundesländern eine noch größere Zustimmung finden als im Westen.
Dieser Beitrag nähert sich dieser Frage von einer erinnerungskulturellen Seite. Nach dem Fall der Berliner Mauer bildeten Krieg, Bombennächte, Flucht und Vertreibung ein willkommenes gesamtdeutsches Narrativ. Darüber gerieten die Unterschiede der Erinnerungskulturen in Ost und West allzu schnell aus dem Blick. Vereine der sogenannten Kriegskinder und -enkel existieren vor allem westlich der Elbe.
Zwischen alter Heimat und Integration– Erinnerungspolitik in der Bundesrepublik
In der Bundesrepublik setzten Politik und Vertriebenenverbände in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten auf eine Doppelstrategie. Einerseits wurde eine schnelle Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen angestrebt. Andererseits wurde versucht, ihre ethnisch beziehungsweise völkisch definierte Identität und ihren Rückkehrwillen aufrechtzuerhalten. Dies diente nicht zuletzt der Rechtfertigung des Anspruchs, die Grenzen von 1937 wiederherzustellen. Dieser Umgang mit der Vergangenheit – mit Nietzsche könnte man ihn "antiquarisch" nennen
Hinzu kam die antikommunistische Propaganda, die Flucht und Vertreibung vor allem mit dem sowjetischen Expansionsdrang begründete. Über die nationalsozialistischen Verbrechen wurde lange geschwiegen, während die Erfahrungen der deutschen Zivilbevölkerung in aller Munde waren. Damit richtete sich der Fokus auf das eigene Leid und die Selbstdefinition als Opfer. In dieser Erinnerungslandschaft gab es für die Belange der Flüchtlinge und Vertriebenen einen öffentlichen Raum, auch wenn sie in ihrem persönlichen Umfeld nicht selten gedemütigt und ausgegrenzt wurden.
Ab Mitte der 1960er Jahre bewirkten die versöhnungspolitischen Initiativen der Kirchen, verschiedene Medienberichte und die neue Ostpolitik einen Wandel der Erinnerungskultur. 1965 wäre etwa die Hälfte aller Bundesbürger erstmals bereit gewesen, die Oder-Neiße-Grenze zu akzeptieren, wenn dies zur Wiedervereinigung beigetragen hätte. Etwa 50 Prozent hielten die Grenzen von 1937 weiterhin für nicht verhandelbar. Angesichts der Tatsache, dass der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen an der Bevölkerung etwa 16 Prozent betrug, ist dies eine bemerkenswert hohe Zahl. In der DDR bejahten zur selben Zeit 22 Prozent eine Wiederherstellung der alten Grenzen
Im Zuge der Studentenproteste von 1968 schlug das Pendel zwischen Vergessen und Erinnern in der Bundesrepublik erstmals zur anderen Seite aus. Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung geriet ins gesellschaftliche Abseits und galt nun – ähnlich wie in der DDR – als revanchistisch und revisionistisch. Stattdessen rückten die jüdischen Opfer ins Blickfeld und die Debatten wurden – anders als in der DDR − vielschichtiger. Darüber hinaus war eine Mehrheit der einstmals Geflüchteten oder Vertriebenen inzwischen gut integriert. In beiden deutschen Staaten hatte der wirtschaftliche Aufschwung die entscheidenden Impulse dafür geliefert.
Verordneter Neuanfang - Erinnerungspolitik in der DDR
Die DDR pflegte – mit Nietzsche gesprochen − vor allem einen "kritischen" Umgang mit der Geschichte. Mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der bürgerlichen Gesellschaft sollte gebrochen werden. Der Kommunismus als Utopie war in der Zukunft verankert. Die neue Grenze an Oder und Neiße wurde ohne Zögern anerkannt. In der offiziellen Lesart hatte das deutsche Volk durch seine Unterstützung des Nazi-Regimes Schuld auf sich geladen und damit den Anspruch auf die ehemals deutschen Gebiete verspielt. Die SED-Funktionäre ahnten, dass diese Sichtweise bei vielen Betroffenen auf Gegenwehr stoßen würde. Sie wussten, dass die Flüchtlinge unter dem Verlust ihrer Heimat, ihres Besitzes und ihrer sozialen Position litten und viele auch Übergriffe, Willkür und Gewalt durch die Rote Armee erfahren hatten.
Doch nicht nur in einer ablehnenden Haltung gegenüber den osteuropäischen Verbündeten sah die SED eine Gefahr. Sie fürchtete auch die Apathie, mentale Rückwärtsgewandtheit und mangelnde Bereitschaft der Flüchtlinge, sich am Aufbau der neuen Gesellschaft zu beteiligen. So war alsbald nur noch von "Umsiedlern" und "Neubürgern" die Rede. Jegliche Bezugnahme auf die alte Heimat in der Öffentlichkeit wurde untersagt. Der Blick zurück konnte nur noch im Privaten gepflegt werden.
Trotz der integrationspolitischen Erfolge in beiden deutschen Staaten hat sich die jeweilige Erinnerungspolitik fest eingeschrieben und war im öffentlichen Gedenken auch nach Jahrzehnten noch präsent. Am 8. Mai 2005 feierten die Ost-Berliner Bezirke, einschließlich der über die ehemalige Grenze reichende Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, den Jahrestag in gewohnter Weise als "Tag der Befreiung", während in den westlichen Bezirken Themen wie "Flucht und Vertreibung" der Deutschen oder "Tiefe Spuren – Kriegsflüchtlinge" die Gedenkfeiern bestimmten.
Individuelles Gedächtnis und kultureller Rahmen
Was im individuellen Gedächtnis aus der Vergangenheit bewahrt wird, ist stark durch die Familie geprägt. Das gilt für Ost wie West gleichermaßen. Die Familie bildet die erste Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft, die weitaus mehr transportiert als Erinnerungen an einzelne Ereignisse. Hier wird ein fest umrissenes Bild konstruiert, das verpflichtend ist und Halt gibt. Der Sozialpsychologe Harald Welzer verweist darauf, dass das familiär vermittelte Bild – im Unterschied zu Schulwissen und medialen Informationen – ein emotionales Bild ist, "nicht Wissen, sondern Gewissheit"
Im Rahmen des oben erwähnten Projektes wurden Interviews geführt,
Die Halbwertszeit traumatischer Erfahrungen
Forscher um den Kasseler Psychiater und Psychoanalytiker Hartmut Radebold untersuchten über 50 Jahre nach Kriegsende Menschen, die Flucht und Vertreibung als Kinder oder Jugendliche erlebt hatten. Etwa ein Drittel der Befragten zeigte Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Mehr als die Hälfte von ihnen litt noch immer unter wiederkehrenden Bildern, Flashbacks oder Alpträumen. Die weitaus größere Anzahl der Befragten schien zwar kaum oder nur geringfügig belastet, doch auch sie kommunizierten wenig emotional, sie neigten dazu, Gefühle abzuwehren und zu leugnen.
Traumatische Erfahrungen erschüttern das Verhältnis zur Welt nachhaltig. Körper und Seele gehen in Alarmbereitschaft, reagieren mit Angst und Stress, um das Überleben zu sichern. Affekte und bestimmte mentale Funktionen werden blockiert. Das Erlebte ist nicht vergessen. Es wird verleugnet, verdrängt oder abgespalten, um das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. All das wird ebenso von Generation zu Generation weitergegeben wie die erzählten Geschichten. Häufig hat das Nicht-Sagbare sogar eine größere Macht als das, was erinnert und besprochen werden kann. Diese Mechanismen sind erst lange nach Kriegsende, im Zuge der Arbeit mit Vietnamkriegsveteranen, Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern, erforscht worden.
Die Erinnerungskulturen in Ost und West konnten zur Verarbeitung traumatischer Erfahrungen nur wenig beitragen. Was von einer Generation auf die andere übertragen wurde, waren eben nicht die Erfahrungen als solche. Es waren die Folgen von erfahrener Gewalt, Willkür und Ohnmacht, von Hunger, Obdachlosigkeit und nicht zuletzt dem Tod vertrauter Bezugspersonen. Sie prägten das Sprechen und Schweigen, das Denken, Fühlen und Handeln der sogenannten Kriegskinder und -enkel.
Seit der Jahrtausendwende kommen diese verschwiegenen Erbschaften ans Licht, sind Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen und persönlicher Erkundungen.
Umbruch nach der Wende als kollektive Migrationserfahrung
Die Kölner Autorin Sabine Bode diagnostiziert für die Gegenwart eine zunehmende Entblockierung, eine Auflösung tiefsitzender Ängste.
Die von mir geführten Interviews zeigen, dass hier nicht nur das in der DDR verordnete Schweigen nachwirkt. Auch die Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Systemumbruch 1989 sind dabei von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Viele der sogenannten Kriegskinder, insbesondere die von Flucht und Vertreibung betroffenen Familien, hatten in den 1990er Jahren zum zweiten Mal einen mühevollen Neuanfang zu bewältigen. Die Flüchtlingskinder standen – wie alle anderen ihrer Generation − mitten im Berufsleben, als die Mauer fiel. Zentrale Werte, Überzeugungen, Lebensformen, Rituale und Identitäten veränderten sich quasi über Nacht, der Anpassungsdruck war hoch. Etwa 2,5 Millionen Menschen verloren 1990 und 1991 mit ihrer Arbeit die finanzielle Basis und häufig auch einen wichtigen Lebensinhalt. Was blieb, war ein Gefühl der Machtlosigkeit, das im kollektiven Gedächtnis Ostdeutschlands fortwirkt.
Die Sozialwissenschaftler Steffen Schmidt und Hartmut Rosa verweisen auf eine anhaltende westliche "Überschichtung" Ostdeutschlands
"Bei Aufsteigern wie bei Absteigern hinterließ der Anpassungsschock das verunsichernde Selbstgefühl einer 'kooptierten' Generation, die der Welt, in der sie sich zu bewähren hat, erst spät beigetreten war. Dieses Selbstgefühl führt zu einer Sprachlosigkeit, die von ihnen selbst selten als Problem thematisiert wird, wohl aber von ihren Nachkommen."
"Und tatsächlich bewegten sich die Ostdeutschen über die 1990er Jahre hinweg auch wie Einwanderer durch die institutionelle und kulturelle Welt des Westens. Einerseits fühlten sie sich als 'Deutsche zweiter Klasse' mit unzureichend modernisierter Vergangenheit stigmatisiert, andererseits bemühten sie sich nach Kräften, das eigene Leben an die rasch gewandelten Umstände anzupassen."
Menschen, die mit unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen leben, reagieren auf für sie unüberschaubare Veränderungen besonders stark. Sie sind schneller verunsichert und haben größere Angst vor einem mit Veränderungen verbundenen Kontrollverlust.
Heimatverlust und Integration
Nach Systemumbrüchen wie nach Migrationserfahrungen geht es um einen Neuanfang, zumeist auch darum, mit der Zeit an einem neuen Ort beheimatet zu sein. Heimat ist ein Gegenbegriff zu Entwurzelung und Entfremdung. Damit wird die Frage zentral, worin die eigene Verwurzelung begründet ist. Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz verweist darauf, dass Beheimatung in erster Linie ein innerseelischer Vorgang ist.
Der Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Jean Améry hat den revoltierenden 68ern, denen "Heimat" leicht als etwas Verächtliches, als Domäne der Rechten galt, entgegnet: "Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben."
Letztlich können Prozesse der Integration auf beiden Seiten zu Identitätserschütterungen führen. Fühlen die sogenannten Einheimischen sich nicht mehr heimisch, sondern eher fremd in der Gesellschaft, werden sie zu Verteidigern der Vergangenheit. Kommen tief verankerte Ressentiments oder ein verlorenes Selbstwertgefühl hinzu, reagieren sie mit starker Abwehr auf die Zuwanderer.
Heimat ist immer auch dort, wo die eigenen Erinnerungen einen Platz haben. Insofern ist es durchaus von Belang, was im kollektiven Gedächtnis verankert ist, reproduziert wird und was nicht. Die bundesdeutsche Erinnerungskultur in Bezug auf die DDR war von der Aufarbeitung des SED-Unrechts und einer latenten Abwertung aller ostdeutschen Besonderheiten bestimmt. Hier wiederholte sich ein öffentliches Verschweigen identitätsprägender Erfahrungen beziehungsweise deren Missachtung, was nicht nur die ehemaligen Flüchtlinge und Vertriebenen aus der DDR gut kannten. Das erinnerungspolitische Paradigma der Aufarbeitung war weitestgehend vorgegeben – wie ehemals in Bezug auf Krieg, Flucht und Vertreibung − und damit bestimmte Erfahrungen einer Verarbeitung kaum zugänglich.
Nicht zuletzt deuten die ausgewerteten Lebensgeschichten darauf hin, wie wirkungsmächtig das individuelle Gefühl ist, nicht gut beheimatet zu sein. Das kann in der Vergangenheit wurzeln oder in der Gegenwart entstehen. In jedem Falle zeigt sich ein Zusammenhang: Wer nicht angekommen ist, kann andere nicht willkommen heißen.
Ohne Heimat kein Willkommen
Welchen Einfluss Erinnerungskulturen und familiäre Übertragungen auf die aktuelle Haltung zu Geflüchteten haben, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Dennoch liefern die Ergebnisse des Projektes einige interessante Anregungen für weitere Forschungen.
Offenbar haben die Erinnerungskulturen in Ost und West durchaus ihre Spuren hinterlassen. Ein Beispiel dafür ist die nach wie vor unterschiedlich starke Beschäftigung der sogenannten Kriegskinder mit ihrem Schicksal. Wer im Westen Deutschlands aufwuchs, wurde von den auf die eigenen Opfer zentrierten Diskursen der 1950er und 1960er Jahre ebenso geprägt wie von einer allgemeinen Fixierung auf das Individuum. Demgegenüber waren gerade die für das Individuum entscheidenden Kriegsfolgen in der DDR kein öffentliches Thema.
Unabhängig davon nahm die Erinnerungspolitik in beiden deutschen Staaten weder die Verarbeitung traumatischer Erfahrungen noch die Auswirkungen ihrer transgenerationalen Übertragungen in den Blick. Das betraf nicht nur unverarbeitetes Leid, sondern auch uneingestandene Schuld und Scham. Damit blieb in Ost wie West eine Leerstelle zurück, die erst nach und nach gefüllt wird.
Die persönliche Bewertung der aktuellen Flüchtlingspolitik scheint maßgeblich durch familiär geprägte Haltungen, eigene Erfahrungen von Integration und dem Gefühl, gut beheimatet zu sein, bestimmt. In den Interviews zeigte sich, dass vor allem diejenigen Interviewpartner, deren Familien nach Flucht und Vertreibung freundlich aufgenommen wurden oder die nach einigen Mühen in der neuen Heimat gut angekommen sind, den heutigen Flüchtlingen gegenüber eine aufgeschlossene Grundhaltung haben.
"Rückblickend kann man sagen, man hat ein glückliches Leben gehabt. Das andere was war, ist vergessen. Man ist hier oben gelandet. […] Die haben ja noch mehr verloren als wir im Grunde genommen. Und dann kann man sie nicht weiter ertrinken lassen."
"Sie flüchten vor dem Krieg und dem Terror im eigenen Land und hier müssen sie doch erstmal glücklich sein, dass sie in Frieden ein Obdach gefunden haben und Essen und Trinken haben. Und trotzdem, z. B. in J. wird vieles zurückgegeben. Das schmeckt uns nicht und dies und das. […] Was mein Vater auch sagt: Die laufen alle mit ihrem iPhone rum. Wir hatten nicht mal was zu essen. [...] Uns hat keiner geholfen. Da ist wohl ein bisschen Verbitterung bei, wenn er das so ausdrückt."
In der Abwehr des Fremden finden sich schwer einzuordnende Spuren von Trauer, Schuld und Scham. Sie können mehr als 70, 50 oder auch erst 20 Jahre alt sein, einander überlagern und aktivieren. Je länger ihr Ursprung zurückliegt, je unzugänglicher sie dem Bewusstsein sind, desto schwerer ist es, sie wahrzunehmen.
Heimat ist der Ort, an dem das Dasein des Einzelnen bejaht wird, an dem er auf seine Vergangenheit zurückblicken und seine Zukunft gestalten kann. Zu jedem Dasein gehört eine Lebensgeschichte. Indem ich sie erzählen kann, nimmt meine Identität eine Gestalt an. Wie ich sie erzähle, was ich erinnere oder ausspare, ist nicht zuletzt eine Frage des Gegenübers und der jeweiligen Erinnerungskultur.
Zitierweise: Uta Rüchel, Im Schatten der Geschichte. Ein Essay über den Einfluss von Erinnerungskulturen und Beheimatetsein auf den Umgang mit Geflüchteten, in: Deutschland Archiv, 12.01.2018, Link: www.bpb.de/262699