Deutschland als „Naher Westen“ der Serben
Wenngleich sich Deutschland und Serbien nicht in unmittelbaren Nähe zueinander befinden, zeichnen sich ihre historischen Beziehungen durch eine jahrhundertelange Kontinuität und Dynamik aus. Der serbische Historiker Predrag Marković stellte fest, dass die Serben mit keinem anderen westlichen Volk im Laufe der Geschichte derart enge Kontakte hatten wie mit den Deutschen.
Die Qualität dieser Beziehungen war jedoch in allen Epochen unterschiedlich. Im Allgemeinen spricht man von einer positiven Wahrnehmung der Deutschen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte sich diese Wahrnehmung zum Negativen. Diese These mag äußerst vereinfacht formuliert sein, sie zeigt aber eine der grundlegenden Tendenzen in den unter den Serben verbreiteten Deutschlandbildern: Die Deutschen wurden und werden fast immer in absoluten, wertgeladenen Kategorien wahrgenommen, unabhängig davon, ob die Kategorien positiv oder negativ aufgeladen sind. Diese stets absoluten Wertungen veranlassten Marković, die Deutschen als „Naher Westen der Serben“ zu beschreiben.
„Die Mauer ist tot, es leben die Mauern!“
Im Laufe des Jahres 1989 berichtete die jugoslawische Presse ausführlich über die Umwälzungen in ganz Osteuropa, darunter auch über den Mauerfall in Deutschland. Diese Berichterstattung ist ohne Einblicke in die damalige innerjugoslawische Lage allerdings nicht zu verstehen. Die jugoslawische, insbesondere die serbische Öffentlichkeit, sah die europäischen Ereignisse fast ausschließlich durch die Brille der politischen Entwicklungen im eigenen Staat. Dabei bediente sich die Presse bei der Darstellung aller Ereignisse eines sehr wirksamen diskursiven Instrumentes: Sie stellte „das Volk“ als uneingeschränkt positiven Akteur dar.
All das schlug sich in Kommunikationsmustern nieder, die sowohl für das Selbstbild als auch für das Bild, welches sich Serben von anderen machen, entwickelt und eingesetzt wurden. Nach seiner Machtübernahme installierte Milošević rasch regimetreue Redakteure in den wichtigsten Medien.
„Alles wurde so dargestellt, dass der Eindruck erweckt wurde, die Demonstrationen der rebellierenden Bevölkerung auf den Straßen Berlins und der Mauerfall seien die deutsche Version des „Sich-Ereignen-des-Volkes“, was in Serbien bereits vorher stattgefunden hatte.“
Die intellektuelle Elite Serbiens fasste die Ereignisse um den Mauerfall und deren Folgen allerdings unterschiedlich auf. Manche meinten, es handele sich um eine strukturelle Korrektur eines ansonsten gut funktionierenden Systems (des Sozialismus), das lediglich „reformiert werden sollte“. Andere befürchteten, dass in einem vereinigten Deutschland das Erwachen eines „alten deutschen Expansionismus“ möglich sein würde, und deuteten das Jahr 1989 als Versuch, die Folgen des Ersten und Zweiten Weltkrieges zu tilgen.
Von der DDR zur „Ko(h)lonie“?
In der Berichterstattung serbischer Medien über die deutsche Wiedervereinigung 1990 können grundsätzlich drei inhaltliche Schwerpunkte festgestellt werden: An erster Stelle stand die Berichterstattung über die innerdeutschen Beziehungen. Daneben wurde den Reaktionen aus Europa und der Welt große Bedeutung beigemessen, und nicht zuletzt berichtete man über die künftige Rolle des vereinigten Deutschlands in Europa und der Welt.
In der serbischen Presse wurde die deutsche Einheit – aus der Perspektive der Deutschen – vorwiegend als positive Veränderung wiedergegeben: In den Städten, vor allem in Berlin, herrsche eine feierliche Stimmung und niemand trauere um die DDR. Der deutsche Traum von der Wiedervereinigung sei endlich in Erfüllung gegangen. Dennoch wurde auch die Lage der Ostdeutschen im „neuen Staat und im neuen Leben“
„Ostdeutschland wird in einer schnellen Aktion, die einem ‚Blitz-Anschluss’ ähnelt, dem westlichen Deutschland angegliedert.“
„So hat die Wiedervereinigung Deutschlands […] in Wahrheit die Form einer Annexion der DDR durch die BRD angenommen, die BRD hat die DDR einfach verschluckt und versucht, sie jetzt zu verdauen.“
Bemerkenswert ist, dass die beteiligten Politiker weniger Erwähnung fanden als erwartet. Zwar wurde Helmut Kohls Name in den Berichten häufig genannt, in der Auslandsberichterstattung ist es aber durchaus üblich, dass bei großen politischen Umwälzungen die Vertreter der politischen und kulturellen Elite stellvertretend für das Land und die Bevölkerung stehen. Im Fall des sich vereinenden Deutschlands aber rückten die deutschen Bürgerinnen und Bürger, gemäß der beschriebenen Instrumentalisierung des „Volkes“ als Handlungsträger, in den Vordergrund der Berichterstattung. Hinzu kommt, dass die politische Führung in Serbien erst spät eine Position gegenüber der neuen deutschen politischen Elite fand.
Bemerkenswert ist auch, dass die einzige unabhängige – das heißt regierungsoppositionelle – Zeitung, Vreme nur am Rande auf das Großereignis der Wiedervereinigung einging. Daran wird deutlich, dass sich die Teile der serbischen Öffentlichkeit, die sich nicht für die erwähnte diskursive Strategie instrumentalisieren ließen, stärker den inneren Angelegenheiten widmeten, als sich mit den außenpolitischen Veränderungen tiefer auseinanderzusetzen.
„Wie soll man die Wiedervereinigung überleben?“
In der Presse wurden auch die wirtschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung intensiv thematisiert, denn die neue politische Situation hatte negative Auswirkungen auf die jugoslawische beziehungsweise serbische Wirtschaft. Viele Verträge, die zwischen der DDR und der Sozialistischen Föderalen Republik Jugoslawien (SFRJ) bestanden, wurden bis auf Weiteres storniert. Dieser Umstand wurde aber relativ sachlich präsentiert, von einer Verantwortung von deutscher Seite war keine Rede.
Bei den Deutschen sah man in Bezug auf die Wiedervereinigung Freude und Zufriedenheit, bei den (west-)europäischen Ländern und der Welt hingegen Ungewissheit und Angst. Das verdeutlichen die Überschriften: „Europäische Mächte wieder alleine“
„Es gibt die Deutschen, die Idealisten sind, und die Deutschen, die Gewalttäter sind. […] Dieses Volk hat bis jetzt der Menschheit sowohl das Beste als auch das Schlimmste, was sich nur denken lässt, gegeben.“
„Werden sie auch weiterhin, oder in welcher Weise und mit welchem Ziel ‚Deutschland über alles’ singen, bleibt die größte Sorge für Europa in diesem Augenblick, in dem die Deutschen ihre Wiedervereinigung feiern.“
Ungewissheit vor dem Riesen
Die politischen Vertreter des damaligen Gesamtstaates Jugoslawien reagierten zumindest öffentlich überwiegend positiv auf die Wiedervereinigung. In der offiziellen Verlautbarung des föderativen Sekretariats für ausländische Angelegenheiten hieß es, der jugoslawische Staat schließe sich „der allgemeinen Freude über die deutsche Wiedervereinigung“ an.
Die serbische Presse aber nutzte neben Bezeichnungen wie „das neue Deutschland“, „das vereinigte Deutschland“, „das einheitliche Deutschland“ und „die vereinigten Deutschen“ immer wieder den Ausdruck „Riese“ in verschiedenen Variationen. So sprach man über Deutschland am häufigsten als „Riese im Herzen Europas“. Ausgehend von der neuen geografischen Größe (Fläche und Bevölkerungszahl) wurde dabei vor allem auf die wirtschaftliche Kraft Bezug genommen. Nur sporadisch wurde eine politische Komponente in dieses Bild mit einbezogen. Stellvertretend dafür stand etwa die Bezeichnung „der gutmütige Riese“, welche die Hoffnung auf die zukünftige demokratische Ausrichtung des neuen Staates zum Ausdruck brachte. Man bediente sich, wie erwähnt, eher Ausdrücken wie „kein politischer Zwerg mehr“, was aber keinen Hinweis darauf gab, was das wiedervereinigte Deutschland im politischen Sinne sei oder erst sein würde.
Krieg und „deutscher Drang nach Osten“
Die Ereignisse, die der Wiedervereinigung folgten, führten schließlich dazu, dass ein neues, sehr negatives Bild Deutschlands und der Deutschen in weiten Teilen der serbischen Öffentlichkeit entstand. Zunächst hatte Deutschland als erstes Land der Europäischen Gemeinschaft im Dezember 1991 die Unabhängigkeit Kroatiens und Sloweniens anerkannt. In der Berichterstattung des Jahres 1992 waren einige äußerst propagandistische Artikel zu finden, wie etwa jener aus der Politika, in welchem argumentiert wurde, dass die aktuelle politische Situation – die deutsche Anerkennung der beiden ehemaligen Teilrepubliken – ihren Ursprung im mythischen Germanentum habe. Man sei mit einer „Genscherisierung und All-Kohlisierung von Europa konfrontiert“.
Der NATO-Angriff auf Serbien im Frühjahr 1999 war der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg. Der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer warf in den Bundestagsdebatten und während der NATO-Angriffe den Serben die Verfolgung einer „großserbischen Idee“ vor. Dagegen argumentierten einige serbischen Intellektuellen, Deutschland hätte seit der Wiedervereinigung nur ein Ziel, den „Drang nach Osten“.
Der Umbruch bringt ein neues Bild der Deutschen
Seit der politischen Wende in Serbien 2000 veränderte sich das Bild der Deutschen, da die Bundesrepublik nun sehr aktiv die neue demokratische Regierung und mit ihr auch die wirtschaftliche Erneuerung des Landes unterstützte. Deutschland stellte Serbien seit dem demokratischen Umbruch mehr als 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Auch zu den EU-Hilfen hat Deutschland rund 20 Prozent, das heißt 825 Millionen Euro beigetragen.
Zurück zu skeptischer Vorsicht
Das überwiegend positive Bild von der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands nahm 2005 allerdings erneut Schaden, als die deutsche Mediengruppe WAZ sich um die Übernahme weiterer Presseerzeugnisse – neben der größten serbischen Tageszeitung Politika und der Regionalzeitung Dnevnik – in Serbien bemühte. Die Übernahme stieß auf Kritik und Ablehnung, mutmaßten doch manche, dass die WAZ-Gruppe dank ihrer guten Beziehungen zur serbischen Regierung eine Monopolstellung auf dem serbischen Medienmarkt anstreben würde. Es war von einer „Expansion der deutschen Mediengruppe“ die Rede oder gar von der „Expansion der deutschen Stiefel“. Die Gruppe versuche, den serbischen medialen Raum zu erobern.
Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Mauerfalls 2014 berichteten die serbischen Medien meist über wirtschaftliche Folgen der Wiedervereinigung. Es sei die starke Wirtschaft des vereinten Landes, welche die aktuelle politische Stärke Deutschlands begründe. Viele Leserinnen und Leser hingegen werden den Fall der Berliner Mauer aber nach wie vor mit dem „Errichten der Mauer“ auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien
Heute bildet Deutschland noch immer eine Projektionsfläche serbischer Hoffnungen und Ängste. Wenngleich beide Länder keine direkten geografischen Nachbarn sind, ist die gemeinsame Geschichte nach wie vor ein Bezugspunkt und Quelle für Diskussionen. Nach Zeiten relativer Stabilität changiert die serbische Sicht auf die Deutschen zwischen positiver und negativer Wahrnehmung. Für die zukünftige Entwicklung des Deutschlandbildes werden sowohl die politische Ausrichtung der deutschen Seite als auch die innere Entwicklung Serbiens eine bedeutende Rolle spielen.
Zitierweise: Aleksandra Salamurović, „Der Geist und die Macht der Deutschen“: Die Wahrnehmung des vereinigten Deutschlands in der serbischen Öffentlichkeit, in: Deutschland Archiv, 5.1.2018, Link: www.bpb.de/262623