Ulrich Schröter (geb. 1939) lehrte in der DDR an einem der wenigen unabhängigen theologischen Seminare zur Ausbildung evangelischer Geistlicher. In den Monaten vor der Wiedervereinigung war er Koordinator der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit unter der Regierung Modrow und Berater des letzten Innenministers der DDR, Peter-Michael Diestel, zum Umgang mit der ehemaligen Staatssicherheit. Für das Deutschland Archiv erzählte er von dieser turbulenten Zeit.
„Auch in der DDR war Gott nicht irgendwo am Rande, sondern mittendrin.“ Gespräch mit dem Theologen Ulrich Schröter am 23. November 2017 in Berlin
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DA: Herr Schröter, Sie haben am Katechetischen Oberseminar in Naumburg studiert und gelehrt. Das war eine der wenigen staatlich unabhängigen Hochschulen für evangelische Theologie in der DDR. Waren Sie dort privilegiert, weil Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen einen Freiraum hatten, der Ihnen eine größere Unabhängigkeit garantierte?
Ulrich Schröter: Als ich studierte, gab es drei kirchliche Ausbildungsstätten mit Hochschulcharakter: das Sprachenkonvikt Berlin, das Theologische Seminar in Leipzig und das Katechetische Oberseminar in Naumburg. Ich habe 1958 und 1960 bis 1963 am Sprachenkonvikt in Berlin, bis zum Mauerbau zugleich an der Kirchlichen Hochschule im West-Berliner Bezirk Zehlendorf studiert, dazwischen drei Semester in Naumburg und ein Semester illegal in Heidelberg. Von 1964 bis 1983 gehörte ich dem Lehrkörper an, ab 1969 als Dozent für Altes Testament und Hebräisch.
Diese Kirchlichen Hochschulen zeichneten sich dadurch aus, dass sie von der Kirche finanziert wurden. Sie hatten damit das Besetzungsrecht und konnten die Gestaltung der einzelnen Disziplinen selber vornehmen. Das war gegenüber den Fakultäten – später Sektionen – an den Universitäten durchaus ein Vorteil. Außerdem hätte ich dort kaum studieren können, weil ich nur vier Jahre DDR-Schule hinter mir hatte und zuletzt immer von Ost- nach West-Berlin pendelnd am Evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster mein Abitur abgelegt habe. In den Augen des SED-Staates war ich nicht unbedingt Uni-Material.
DA: Aber boten die Kirchlichen Hochschulen einen besonderen Freiraum innerhalb des Ausbildungssystems der DDR?
Ulrich Schröter: Ja, selbstverständlich. Dadurch, dass sie finanziell unabhängig vom Staat waren, waren wir natürlich privilegiert. Wir konnten frei und ohne politischen Druck studieren. Allerdings gehörte der Marxismus-Leninismus auch dazu – aber als philosophische Strömung des 19. und 20. Jahrhunderts. Insbesondere der frühe Marx wurde da sehr gerne gelehrt. Der kam so an den Universitäten nicht vor.
DA: 1959 und 1960 veröffentlichten die Evangelische Kirche der Union (EKU) und die Vereinigte Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) zwei wichtige Schriften, „Das Evangelium und das christliche Leben in der Deutschen Demokratischen Republik" und die Handreichung „Christ in der DDR". Beide versuchen die Situation in der DDR aus der Bibel heraus zu analysieren. Was waren die wesentlichen Inhalte?
Ulrich Schröter: In Naumburg lehrte Johannes Hamel
Das war eine große Befreiung. Man muss sich vorstellen, die Kirche schaute bis Mitte der 1950er Jahre eher zurück. Man fühlte sich in der sozialistischen Umgebung fremd. Hamel hat die Weiche gestellt, dass man darauf vertrauen konnte, dass es auch in der DDR besondere Chancen gäbe. Er forderte auf, Mut zu haben, in der DDR wirklich zu leben und nicht immer darauf zu hoffen, eventuell wegzugehen. Das war ja während der großen Auswanderungswelle, 1950 bis 1958. Und viele hatten durchaus nachvollziehbare Gründe, wegzugehen. Da war die „LPG-isierung“, also die unter Druck durchgeführte Vergemeinschaftung der Landwirtschaft. Es war die Zeit, in der die SED massiv gegen Selbstständigkeit in der Wirtschaft vorging. In der Schule wurden Christinnen und Christen nicht selten von Lehrerinnen und Lehrern und vor der Klasse gebrandmarkt. Sie wurden vor die Klasse gestellt und dann befragt, wie sie so rückständig sein konnten.
DA: Wie wurden diese Schriften von staatlichen Stellen aufgenommen?
Ulrich Schröter: Hamel war zeitweise der kirchliche Feind Nummer Eins, aber erstaunlicherweise schaffte er es dennoch, Anfang der 1960er Jahre, den SED-Propagandisten Horst Sindermann
DA: Und für die DDR-Christen? Waren diese Schriften in der Retrospektive tatsächlich Anleitungen für ein christliches Leben in der DDR?
Ulrich Schröter: Ein bisschen schon. Sie luden dazu ein, den Blick nach vorne zu richten. Aber man muss bedenken, dass diese Handreichungen nicht in der staatlichen Presse aufgenommen, geschweige denn veröffentlicht wurden. Nicht einmal alle Pfarrer wussten von ihnen, selbst nicht einmal von der Existenz des Katechetischen Oberseminars. Diese Schriften waren für einige Gemeindemitglieder sicher ganz wichtig, andere sagten, wo steht denn die Kirche? Sie ist vom täglichen Leben weit entfernt. Zur breiten Bevölkerung drang jedenfalls wenig davon durch, womit sich kirchliche Mitarbeiter beschäftigten.
DA: Was bedeutete für Sie damals das Konzept einer Kirche im Sozialismus?
Ulrich Schröter: Im Sinne der Handreichung: Hier ist der Ort, an dem ich lebe, und hier bleibe ich. Das war eine wichtige Erkenntnis. Ich war zum Beispiel am 13. August 1961 mit meinem Bruder in Westdeutschland Mein Bruder ist dageblieben und ich bin zurückgegangen.
DA: Unter dem Dach der Kirche konnten auch unangepasste Jugendliche einen Raum bekommen. Kirche von unten und die offene Jugendarbeit haben Menschen, die mit dem Autoritätsgefüge der DDR Schwierigkeiten hatten, Möglichkeiten gegeben, sich auszutauschen, sich normal zu fühlen und Schutz zu spüren.
Ulrich Schröter: Ja, das stimmt. Aber man muss auch sagen, dass das nicht immer so fröhlich war und man auf die Jugendlichen wartete und sagte: endlich seid ihr da. Es gab große innerkirchliche Auseinandersetzungen, sowohl in den Gemeinden, als auch im Konsistorium und in der Kirchenleitung. Manche sagten: Ihr kümmert euch zu sehr um die Jugendlichen, die nicht zur Kirche gehören und die dort auch gar nicht hin wollen. Dagegen haben unsere Gemeinden viele Probleme, die vernachlässigt werden.
Nach der Wende waren viele auch in der Kirche auf einmal sehr tapfer, tapferer als sie es in Wirklichkeit vielleicht gewesen waren. Nicht jeder Pfarrer und jede Pfarrerin waren Widerständler. Auch in der Kirchenleitung nicht. Hier liegt übrigens ein grundsätzlicher Konflikt vor. Als Gemeinde- und Kirchenleitung haben Sie auch die Aufgabe, über die Folgen nachzudenken. Jugendliche hingegen bedenken weniger die Folgen und sind auch deshalb oft mutiger. Oft war es daher so, dass die Oberen bremsten und die Basis die Probleme benannte. Und jemand wie Manfred Stolpe, den ich seit 1983 hautnah erleben durfte und der an dieser Stelle für den Berliner Raum und darüber hinaus genannt werden muss, hatte die große Fähigkeit zu erkennen, dass beides notwendig ist und zur Kirche gehört. Also, ganz einfach und schlicht gesagt: es muss unten grummeln, damit dem Staat gegenüber gesagt werden kann: Ihr müsst was ändern. Mir ist es sehr wichtig, diese grundsätzliche Spannung zwischen den Gruppen und der Kirchenleitung zu sehen und gegenseitig auszuhalten. Das war schon am Oberseminar in Naumburg so, die Studentengemeinde wollte mehr, als das Dozentenkollegium für richtig oder politisch machbar hielt.
DA: Also ist es der Initiative einzelner Pastorinnen und Pastoren zu verdanken, dass diese mit ihren Initiativen den Kessel am Brodeln gehalten haben?
Ulrich Schröter: Es stimmt schon, dass einige Pfarrerinnen und Pfarrer zusammen mit den Gruppen den Kessel am Brodeln hielten, aber umgekehrt wurden Fragen der Menschenrechte auch in den Synoden der Landeskirchen und des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR intensiv besprochen. Besonders wichtig war die Aufnahme des Prozesses der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und hier die Schlussakte von Helsinki. Doch war diese Aufnahme den drängenden Jugendlichen oft zu sanft und zu diplomatisch. Die Jüngeren und einige im mittleren Alter – wie unter anderem Gerd Poppe und Pfarrer Rainer Eppelmann – argumentierten, man müsse einen Schritt weitergehen, als erlaubt ist, um überhaupt etwas zu erreichen. Den Kirchenälteren an der Basis der Gemeinden lag solch ein Vorgehen eher etwas ferner.
DA: Ab Beginn der 1980er Jahre boten dann die Kirchengemeinden sehr unterschiedlichen Gruppen, auch kirchenfernen Gruppen, ein schützendes Dach. Es wurden Punkkonzerte veranstaltet, Umweltgruppen durften Räume und Publikationsmittel für ihre Arbeit verwenden. Und auch dabei riskierten einzelne Geistliche und Amtsträger ihre eigene sichere Position. Warum taten sie das?
Ulrich Schröter: Aus Überzeugung. Zum Beispiel Pfarrer Dietmar Linke und seine Frau Barbe in Neuenhagen bei Berlin. Er wurde gefragt, warum er immer so scharf sein müsse. Das gehörte einerseits zu seinem Charakter. Doch hat ein Pfarrer schon durchaus aufzunehmen, was gesellschaftlich passiert. Und hier haben manche mehr gewagt als andere. Einige haben beispielsweise mehr Rücksicht auf die Lage ihrer Familie genommen. Anderen war sehr deutlich, dass die Gruppen recht hatten und nicht irgendwelche Hirngespinste verbreiteten.
DA: Sie meinen das Ausmaß der Umweltverschmutzungen in der DDR?
Ulrich Schröter: Ja, natürlich, aber auch die gesellschaftlichen Repressalien gegenüber Andersdenkenden. Die Umwelt in der DDR war stark zerstört. Nur durfte das nicht veröffentlicht werden, es war ein Tabu. Hier sahen viele Gruppen und mancher Pfarrer eine moralische Aufgabe in der Verbreitung der Fakten.
DA: Einmal ganz bescheiden oder unbescheiden, wie schätzen Sie die Rolle von Kirchen und Kirchengemeinden für die Mobilisierung der DDR-Opposition ein?
Ulrich Schröter: Mir ist es immer ganz wichtig, bei diesem Thema nicht nur Nabelschau zu betreiben. Wir müssen nach Polen und auf die dortige Rolle der katholischen Kirche und ihre Unterstützung durch den polnischen Papst Johannes Paul II. schauen. Auch Michail Gorbatschows Rolle, die Reformen in Ungarn und das Verhalten der Tschechoslowakei, alles muss einbezogen werden. Nicht nur die Kirche, sondern auch die Künstler und Schriftsteller waren enorm wichtig.
Und wir hier im evangelischen Bereich haben unser Möglichstes beigetragen, dass es friedlich verlaufen ist, dadurch, dass wir erst einmal einen Raum boten. Aber sie müssen dann im eigenen Raum auch die Dinge vorantreiben. Da hatten die Umwelt- und Protestgruppen einen ganz wesentlichen Anteil und die Kirchen übernahmen einen moderierenden, mitunter bremsenden, aber am Ende doch sehr wichtigen Part.
DA: Zum Arrangement zwischen den Kirchen und dem SED-Staat: Der Modus Vivendi war ja vielleicht in einigen Teilen nur eine Fiktion. Offiziell gab es zwar ein Miteinander-Auskommen, aber unter der Oberfläche waren Kirchen und ihre Mitarbeiter Angriffsziele für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und Gegenstand intensiver Bespitzelung. Können Sie uns einen sehr knappen Einblick in das Ausmaß jener Verstrickung geben?
Ulrich Schröter: Es ist umstritten, wie groß das ist. Ich bin der Meinung, dass noch nicht alles erforscht ist. Und das hat einen ganz einfachen Grund. Während der DDR-Zeit haben wir uns kirchlicherseits vom gegenseitigen Vertrauen getragen. Wir wussten, dass ganz wenige sich mit dem Regime arrangiert hatten. Aber die meisten sahen eher die Schwierigkeit, die dieses Regime für die Einzelnen bedeutete. Das Vertrauen untereinander war die Grundlage in den kirchlichen Kreisen, bei Veranstaltungen oder im Pfarrkonvent. Insofern war die Überraschung darüber, dass unter uns auch Mitarbeiter der Staatssicherheit waren, nach der Wende sehr groß.
Anfänglich war mal von 3000 Pfarrern die Rede, die Inoffizielle Mitarbeiter (IMs) waren, später dann von 1500 Fällen. Ich kann keine genauen, historisch belastbaren Zahlen nennen. Und zwar aus folgenden Gründen: Zum Ersten wurden nur die Mitarbeiter befragt, die nach der Wende noch im Dienst waren. Wenn Pfarrer und Kirchenmitarbeiter bereits pensioniert sind, haben die Kirchenleitungen keine Möglichkeit mehr, auf dem Dienstweg eine Befragung durchzuführen. Zum Zweiten hat nicht jede Landeskirche intensive Untersuchungen durchgeführt, sie haben nicht jeden Pfarrer überprüft. Viele waren der Meinung, es könne doch nicht sein, dass wir uns vorher gegenseitig vertraut haben und jetzt im Nachherein das MfS quasi einen Triumph davontragen sollte, indem nun das Vertrauen zerstört wird. Auch waren und sind viele der Ansicht, dass eine Mitarbeit nicht per se eine Bespitzelung war, sondern eher der Versuch, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche einigermaßen im Lot zu halten.
DA: Kommen wir zu den Motivlagen derjenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich der Zusammenarbeit mit dem MfS nicht verweigert haben. Was waren Ihrer Ansicht nach die Hoffnungen, die damit verbunden waren?
Ulrich Schröter: Da gab es bei manchen die Überzeugung, beim Aufbau der DDR mitgestalten zu wollen, da man einen gemeinsamen humanistischen Ansatz habe. Oder es gab die Hoffnung, über das MfS an der notwendigen Verbesserung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR mitwirken und vielleicht über das MfS der Regierung und der Partei die Anliegen der Kirche nahebringen zu können. Für wenige mag es reizvoll gewesen sein, einen interessanten Gesprächspartner gefunden zu haben. So besonders auf dem Dorf. Vielleicht haben sie sich auch eingebildet, mit den MfS-Mitarbeitern einflussreiche Gesprächspartner zu haben. Wie immer in solchen Dingen waren auch sehr menschliche Verfehlungen wie Ehrgeiz, Eitelkeit und Geltungsbedürfnis vorhanden.
Seitens des MfS gab es aber auch handfeste materielle Anreize wie Geld, Reisen, berufliche Förderung und Hilfe bei der Wohnungssuche oder beim Hausbau. Zudem können Geheimdienste über die Kinder alles erreichen. Sie müssen bei den Eltern nur Druck oder Angst um deren Zukunft aufbauen. Es gab auch direkte oder unterschwellige Erpressung, aufgrund eines ethisch kritischen oder juristisch belangbaren Fehlverhaltens der späteren IMs wie Passvergehen, Unterschlagung oder außereheliche Verhältnisse. Viele Menschen können auch nicht nein sagen. Die Stasi hat das psychologisch gekonnt ausgenutzt.
DA: Glauben Sie, dass diese Mitarbeiter sich überschätzt haben, in dem, was sie mit diesen Gesprächen erreichen konnten?
Ulrich Schröter: Ja, ganz bestimmt. Wenn Sie im kirchlichen Bereich über etwas reden, dann ist es oft so, dass sich im nächsten Gespräch die Meinungen wieder verändern können. Das ist sicher auch normal. Was mit der Stasi besprochen wurde, das wurde protokolliert, darüber wurde ein Vermerk gemacht. Für viele war das hinterher überraschend. Hätten sie es gewusst, wären sie mit ihren Äußerungen vermutlich vorsichtiger gewesen. Es waren eben keine lockeren Gespräche, wie es vorgetäuscht wurde. Manchen mag das bewusst gewesen sein. Ganz Gewiefte nutzten – wie bereits angedeutet – ihr Wissen darüber, dass die Gesprächsinhalte festgehalten und ausgewertet wurden, dazu, besondere Anliegen über das MfS an die sonst für sie nicht erreichbaren politischen Stellen weiterzugeben.
DA: Und was für den Pfarrer vor Ort galt, galt sicherlich auch für Mitglieder der Kirchenleitung, die in Gespräche hineingingen, von denen sie wussten, dass der Gegenüber Mitarbeiter der Staatssicherheit war. Haben denn diese Gespräche Ihrer Meinung nach auch tatsächlich geholfen, die Lebenssituation Einzelner zu verbessern?
Ulrich Schröter: Ja. Das Ziel war in den allermeisten Fällen wirklich, den Menschen zu helfen und die Kirche zu fördern und nicht die Kirche zu behindern. Wer dies nachvollziehen will, sei mit Nachdruck auf eine Studie verwiesen.
DA: Hat so etwas unter Umständen vielleicht sogar systemstabilisierend gewirkt?
Ulrich Schröter: Ja, selbstverständlich und das ist ja auch richtig. Etwa bei der Deeskalation von Veranstaltungsverboten oder bei dem Einsatz für Inhaftierte. Was wollen Sie denn machen? Sie konnten doch nicht die ganze Zeit nur in Opposition leben. Sie mussten sich auch darum bemühen, die Dinge zu verbessern. Man hatte sich hier eingelebt und manches war insbesondere im sozialen Bereich durchaus beachtenswert.
DA: Wir sind thematisch sozusagen schon am Ende der DDR. Sie haben nach der friedlichen Revolution als Vertreter des Landesbischofs im Bürgerkomitee und auch im Regierungskomitee der ersten frei gewählten DDR-Regierung an der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit mitgewirkt.
Ulrich Schröter: Ende Januar 1990 kam der persönliche Referent des Bischofs, der spätere Generalsekretär Martin-Michael Passauer, in mein Zimmer im Konsistorium. Er fragte, ob ich den Bischof vertreten könnte bei der Auflösung der Staatssicherheit – und zwar der Zentrale hier in Berlin. Mit dem von der Regierung Modrow zuvor damit Beauftragten liefe das nicht so richtig und der Runde Tisch hätte beschlossen, da muss ein neues Gremium her. Das wurde dann gebildet zum einen aus einem Mitglied der alten Parteien – da haben sie von der Bauernpartei den Vorsitzenden Georg Böhm gewählt. Dazu kam Werner Fischer von der Initiative Frieden und Menschenrechte sowie von der Kirche – ohne die damals nichts ging – Bischof Gottfried Forck. Die Leitung dieses Gremiums übernahm der von der Modrow-Regierung bestimmte Generaloberst Fritz Peter.
Wir haben dann die Dinge DDR-weit und hier an der Zentrale geleitet. Wenn ich ehrlich bin, haben die anderen die Hauptarbeit erledigt und ich war eher als Berater dabei, ging ja ungekürzt meiner kirchlichen Verwaltungsarbeit nach. Natürlich mussten wir in dieser Situation schwerwiegende Entscheidungen treffen, beispielsweise, ob der elektronische Datenträger des MfS zerstört werden sollte oder nicht. Ich habe dafür gestimmt. Oder die Frage, wie mit den Agenten des MfS im Westen umzugehen sei. Sollten die aufgedeckt werden oder sollte man sie klammheimlich zurückziehen? Ich habe dafür gestimmt, dass dies heimlich geschieht. Schließlich wurden Westspione in der DDR auch nicht enttarnt und ich hielt das für ein ungleiches Vorgehen.
DA: Die Zerstörung von Datenträgern ist Ihnen und Ihren Mitstreitern später zum Vorwurf gemacht worden. Sie meinen aber, dass es in der gegebenen Situation die richtige Entscheidung war?
Ulrich Schröter: Absolut. Aber ich muss dazu sagen, ich war auch nicht dafür, dass man alle Akten freigibt. Ich ging davon aus, dass einige Akten freigegeben werden müssen für die Wissenschaft, damit wir verstehen, wie alles abgelaufen ist. Aber eine uneingeschränkte Akteneinsicht erschien mir zu riskant. Ich hatte, wie viele andere, Angst davor, dass das zu Gewalt führen und die Familien zerreißen könnte. Ich hatte nicht erwartet, dass es so gut laufen würde.
Allerdings, als dann anders entschieden wurde, habe ich mir den Auftrag geben lassen, den Einfluss des MfS auf die evangelischen Kirchen von 1949 bis 1989 anhand der Akten zu untersuchen. So hatte ich die Möglichkeit, zehntausende von Seiten zu lesen und habe das auch intensiv getan.
DA: 1991 wurde das Amt des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit (BStU) geschaffen. Waren Sie damit, mit dem Stasiunterlagengesetz und der Art und Weise dieser Behörde, die Akteneinsicht und Forschung zu ordnen, zufrieden?
Ulrich Schröter: Ja. Ich habe auch die Zuständigen dort kennengelernt. Und alle haben sich sehr große Mühe gegeben, den Prozess so zu gestalten, dass diejenigen, die ihre Akten lesen wollten, psychologisch vorbereitet wurden.
DA: Der erste Entwurf für das Stasiunterlagengesetz, der noch vor der Einheit diskutiert wurde, sah eine viel größere Einschränkung der Akteneinsicht vor. Aber sogar diese Teile sollten nicht in den Einigungsvertrag übernommen werden.
Ulrich Schröter: Ja, heute kaum vorstellbar. Aber dann kam der Streik.
DA: Also, für Sie hat sich der Bundesbeauftragte bewährt?
Ulrich Schröter: Ja er hat sich bewährt. Sie müssen verstehen, wir haben uns damals gefragt, ob es gut gehen kann, wenn aus den Akten Namen erkannt werden. Wir sahen darin ein Problem für das weitere Miteinander. Der eine verkraftet es, der andere nicht. Es betrifft ja nicht nur ihn oder sie, sondern auch die Familie, die Kinder, und da geht es mitunter nicht immer human zu. Und es gab ja Fälle, die dramatisch verliefen. Aber im Großen und Ganzen ist es eine Erfolgsstory.
DA: Zuletzt haben Sie sich in den Debatten um eine kirchliche Auseinandersetzung mit der Verstrickung von Synodalen, Pfarrern und anderen Amtsträgern mit der Staatssicherheit engagiert. Wie sah denn diese Aufarbeitung aus?
Ulrich Schröter: Sie ist in Teilen gut und in Teilen unvollständig geblieben. Nicht alle Landeskirchen haben umfangreiche Maßnahmen ergriffen. Manche haben vor allem anlassweise reagiert. Hier in Berlin-Brandenburg – ähnlich auch in anderen Landeskirchen der ehemaligen DDR – ist durch die Synode ein Gesetz zu einem Überprüfungsausschuss verabschiedet worden. Die Folge war eine schriftliche Umfrage bei den kirchlichen Mitarbeitern, in der sie Auskunft über mögliche Kontakte geben sollten. Natürlich konnten nur aktive Mitarbeiter angeschrieben werden, die eine dienstliche Auskunftsverpflichtung hatten, die emeritierten und pensionierten fielen bei dieser Methode heraus. Es gab zudem keinen hundertprozentigen Rücklauf. Man hat die Antworten durchgesehen und wo Schwierigkeiten auftraten, hat man die Akten angefordert. Auch für diejenigen, die keine Antwort gaben, hat man sie angefordert, sofern sie in leitenden Funktionen waren.
Die Bewertung der Aktenlage war und ist nicht ganz einfach. Ich war bei einigen Überprüfungen dabei. Manche Akten waren ganz dünn, manche Karteikarte enthielten nur wenige Informationen. Da war schnell klar, dass die Mitarbeit bei der Stasi gering war.
Es ist wichtig, zu betonen, dass die Bewertung auf jeden Fall individuell erfolgte. Nicht einfach nur: Der war IM und muss nun weg. Die Ausschüsse fragten ganz individuell, was ihn bewegt hatte. Und die Quintessenz ist, nicht jeder IM ist ein Verräter. Das darf und muss man so klar sagen.
DA: Für wie geglückt halten Sie die Bemühungen der evangelischen Kirchen um die Aufarbeitung der Stasiverstrickungen?
Ulrich Schröter: Sie waren notwendig. Die Aufarbeitung hat auch bei einigen schwerwiegende Konsequenzen gehabt, die auch richtig waren. Aber, sie hat nicht alle Belasteten erfasst. Und ob die Ausschüsse bei jeden Einzelnen richtig bewertet haben, bleibt auch offen. Denn keiner und keine spricht über seine Verfehlungen gern mit letzter Offenheit.
DA: Herr Schröter, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Clemens Maier-Wolthausen.
Zitierweise: „Auch in der DDR war Gott nicht irgendwo am Rande, sondern mittendrin.“ Gespräch mit dem Theologen Ulrich Schröter am 23. November 2017 in Berlin, in: Deutschland Archiv, 21.12.2017, Link: www.bpb.de/261972
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