In Demokratien sind repräsentative, nach wissenschaftlichen Standards erstellte und regelmäßig erhobene Bevölkerungsumfragen ein gewohntes Spiegelbild der öffentlichen Meinung. Für den öffentlichen politischen und gesellschaftlichen Diskurs stellen sie zudem ein wichtiges Hilfsmittel dar. Ganz anders in Autokratien und anderen Spielarten von Diktaturen: Dort wird eine unabhängige Demoskopie als Bedrohung der eigenen Herrschaft verstanden, weil das herrschende Regime Gefahr läuft, dass unterdrückte systemkritische Stimmungen offenbart werden und dass es die Kontrolle über ihre Verbreitung verliert. Diktaturen setzen stattdessen auf Geheimdienste, die nicht repräsentativ, sondern konspirativ arbeiten. Ihr Auftrag ist nicht Meinungsforschung, sondern politische Feindaufklärung. Ihre „Zielpersonen“ werden namentlich erfasst, observiert und verfolgt. Hingegen ist die Anonymisierung der Befragten, also der „Probanden“, ein ehernes Prinzip einer methodisch seriös vorgehenden Demoskopie.
Die zeitgeschichtliche Ausgangslage Ende der 1960er Jahre: Für die DDR fehlen repräsentative Bevölkerungsumfragen
Dieses gegensätzliche Verständnis von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung war zu den Zeiten der Existenz zweier deutscher Staaten ein Kennzeichen des „Wettstreits der Systeme“ zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Während in Westdeutschland die US-Militärregierung schon 1945 in ihrer Zone Umfragen durchführte
Allerdings schloss die DDR seine Bevölkerung nicht nahezu hermetisch gegen Nachrichtenangebote von außen ab, wie es beispielsweise das totalitäre System Nordkoreas tut. So gab es im innerdeutschen Verhältnis neben massenhaftem Postversand, Telefonkontakt und Fernsehempfang einen regen beiderseitigen Reiseverkehr, der zunächst Millionen von ostdeutschen Rentnern und seit etwa Mitte der 1980er zunehmend auch jüngeren DDR-Bürgern Westreisen ermöglichte. Aber bis zur Öffnung der Mauer im Jahr 1989 änderte sich an der im Vergleich beider Staaten asymmetrischen Öffentlichkeit insofern nichts, als die DDR ein weißer Fleck auf der Landkarte der Demoskopen blieb.
Die neue Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel: Auslöser für „Stellvertreterumfragen“
Im Zuge der von der sozialliberalen Bundesregierung unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und Außenminister Walter Scheel (FDP) eingeleiteten neuen Ostpolitik wuchs in Bonner Regierungskreisen das Interesse, genauer zu wissen, wie die Menschen im anderen Teil Deutschlands wirklich dachten. Der damalige Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner, beauftragte im Jahr 1968 das in München ansässige Markt- und Meinungsforschungsinstitut Infratest damit, ein Erhebungsinstrument zu entwickeln, das über die Lebenslage der Ostdeutschen und ihrer Einstellungen auf wissenschaftlicher Basis Auskunft geben konnte – verlässlicher und dem Querschnitt der Bevölkerungsmeinung näher kommend, als es mittels Befragung geflüchteter beziehungsweise ausgereister DDR-Bürger möglich war.
Der Regierungsauftrag war die Geburtsstunde der über mindestens zwei Jahrzehnte fortlaufend erhobenen „Stellvertreterumfragen“.
Der rote Faden der jährlichen Befragungen blieb stets derselbe. Drei Schwerpunkte wurden bei der Konstruktion des Fragebogens gesetzt: das Veranschaulichen von längerfristigen Trendlinien im ostdeutschen Meinungsbild, das Aufzeichnen von Reaktionen auf tagesaktuelle Ereignisse im Verhältnis beider deutscher Staaten und das Ausleuchten wechselnder Schwerpunktthemen zu gesellschaftspolitisch bedeutsamen Fragen. Der Fragenkatalog wurde mit den zuständigen Stellen im Ministerium inhaltlich abgestimmt und von Infratest auf seine Eignung für die Anwendung in der Feldphase hin überprüft.
Infratest riet ausdrücklich dazu, für die Antworten auf einzelne Fragen ermittelte Prozentanteile nicht als „harte“ quantitative Daten, sondern nur als Anhaltspunkte für in Ostdeutschland existierende Meinungsbilder zu verstehen. Schließlich handelte es sich, wie noch zu sehen sein wird, nur um stellvertretend erhobene Aussagen, in denen westdeutsche Befragte über ihre Einschätzungen ostdeutscher Gesprächspartner Auskunft gaben. Nach der Grenzöffnung und der deutschen Einigung zeigte sich aber, dass die Stellvertreterumfragen die Einstellungen der Bevölkerung der DDR realitätsnah wiedergegeben hatten.
Auf Umwegen befragen – zur Methodik
Kern des von Infratest eingesetzten Verfahrens der Stellvertreterumfragen war eine indirekte Befragung. Hierfür wurden Bundesdeutsche ausgewählt, die sich innerhalb der letzten zwei Monate für mindestens drei Tage in Ostdeutschland aufgehalten hatten. Die Befragten wurden gebeten, aus ihrer Erinnerung über Einstellungen, Meinungen und Verhaltensgewohnheiten jeweils eines Bewohners der DDR zu berichten, mit dem sie sich ausführlich ausgetauscht hatten („Person X“). So fungierte der befragte westdeutsche DDR-Besucher als „Sprachrohr“ seines ostdeutschen Gesprächspartners.
Der Gefahr einer Verzerrung der tatsächlichen Denkweisen der DDR-Bürger, die in der Methodik der indirekten Befragung angelegt ist, war sich Infratest durchaus bewusst. Der interviewte Bundesbürger wurde ausdrücklich gebeten, nur solche Aussagen wiederzugeben, die er seinem DDR-Gesprächspartner zweifelsfrei zuordnen konnte. Ferner dienten ergänzende qualitative Instrumente wie Gruppendiskussionen mit DDR-Besuchern, Expertengespräche und Auswertungen schriftlicher Quellen, wie beispielsweise DDR-Medien, als Korrekturfaktoren bei der Auswertung der Interviews. Jährlich wurden rund 1200 Interviews geführt, die sich über den gesamten Erhebungszeitraum hinweg auf insgesamt rund 27.000 ausgefüllte Fragebögen summierten.
Die Auswertung der erhobenen Einstellungsdaten wurde in Berichtsbände übertragen, die außer Textpassagen zahlreiche Statistiken und Abbildungen enthielten. Teilweise entstanden pro Jahr mehrere Berichtsbände. Diese Analysen trugen den Stempel einer „geheimen Verschlusssache“. Infratest übergab dem Ministerium jeweils fünf Exemplare. Davon erhielten das Bonner Kanzleramt zwei und der Berliner Senat eines.
Um aus der großen Menge individuell gewonnener Daten Einstellungsprofile herauszuschälen, die für die DDR-Bevölkerung kennzeichnend waren, entwickelte Infratest eine besondere Typologie. Dabei wurden insgesamt fünf Typen politischer Grundhaltung unterschieden (siehe Tabelle 1). Der Vorteil dieser Typenbildung war, dass die gesamte DDR-Bevölkerung auf kulturelle Großgruppen verteilt werden konnte, die unter anderem für unterschiedliche Grade der Identifikation mit dem politischen System der DDR standen.
Tabelle 1: Typen politischer Grundhaltungen der DDR-Bevölkerung
Typ B
ausgeprägtes politisches Interesse, auch hinsichtlich der BRD; im Systemvergleich der Lebensbedingungen und Zukunftsperspektiven schneidet die BRD besser ab; trotz politischer Aktivitäten niedrige Identifikation mit dem System der DDR; fast gleichmäßig über alle Altersgruppen verteilt, formale Bildung überdurchschnittlich
Typ D
bewertet die Lebensbedingungen der BRD ebenfalls besser; mäßiges politisches Interesse bezüglich beider deutscher Staaten; dem DDR-System gegenüber teilweise kritisch, aber im Wesentlichen den gegebenen Verhältnissen angepasst; gleichmäßig verteilt nach Alter, Geschlecht und formaler Bildung
Typ A
weit unterdurchschnittliches Politikinteresse, auch hinsichtlich der BRD; tendenziell bessere Bewertung der Lebensbedingungen in Westdeutschland; überwiegend Frauen und ältere Personen, vergleichsweise niedrige Formalbildung
Typ E
gegenüber dem DDR-System eher positiv beziehungsweise zumindest angepasst eingestellt; gegenüber dem System der BRD eine häufig unverbindliche, aber auch partiell kritische Grundhaltung; im niedrigen Grad des Politikinteresses ähnlich wie Typ A; keine sozialstrukturellen Auffälligkeiten; ab Ende der 1970er Jahre „nur noch eine marginale Rolle“
Typ C
„Rückgrat des DDR-Systems“; starkes politisches Interesse und Engagement; zu fast 90 % Anhänger des Systems; bei Vergleich der Lebensbedingungen deutliche Präferenz für DDR; überdurchschnittlich gebildet und überwiegend Männer der jüngeren Altersgruppen
Quelle: Infratest Kommunikationsforschung: Köhler 1994, S. 59 und 61.
Sichtweisen der Bürgerinnen und Bürger der DDR – ausgewählte Befunde der Stellvertreterumfragen
Hatten die Bürger der DDR zum Beispiel das Gefühl, ihre Meinung frei äußern zu dürfen? In diesem Punkt war nach überwiegender Auffassung stets Vorsicht geboten (Abbildung 1). Im langjährigen Durchschnitt sah nur etwa ein Drittel der Befragten keinen Grund, sich beim Sprechen im öffentlichen Raum zu kontrollieren.