Sozialpolitischer und ideologischer Kontext
Der Aufbau von Kinderkrippen für Kleinkinder von bis zu drei Jahren war, neben familienfreundlichen Subventionen der Kinderbekleidung und Kinderliteratur, kostengünstiger Speisenversorgung in Kita, Schule, Hort sowie „Geburtengeld“, eine der wirkmächtigsten Maßnahmen der Sozialpolitik der DDR seit Mitte der 1970er Jahre. Stufenweise wurden die Freistellung der Mütter für ein Babyjahr bei vollem Arbeitslohn und die Sicherung ihres Arbeitsplatzes über drei Jahre eingeführt. Des Weiteren erhielt man seit 1972 bei Eheschließung vor dem 26. Lebensjahr ein zinsloses Darlehen, das mit der Geburt eines jeden Kindes anteilig getilgt wurde. Vollbeschäftigten Müttern gewährte man ab dem zweiten Kind eine Arbeitszeitverkürzung von 3,75 Stunden pro Woche. Die Dauer des Jahresurlaubs war von der Kinderzahl abhängig, ebenso die Höhe des Kindergeldes. Erkrankte ein Kind, gab es eine unbefristete Freistellung für Mutter oder Vater, die anteilig (wenn mehrere Kinder im Haushalt lebten) auch bezahlt wurde. Allerdings wurde diese Möglichkeit meist nur von den Müttern genutzt. Kostengünstige Kindergartenplätze sowie Ferien- und Freizeitbetreuung standen ausreichend zur Verfügung. So war vom Lebensanfang an eine staatlich subventionierte „Vollversorgung“ gesichert.
Alle staatlichen Bemühungen zielten darauf, die Berufstätigkeit der Frauen und gleichzeitig die Prägung einer „sozialistischen Persönlichkeit“ der Kinder zu gewährleisten. Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen schrieb bereits 1949 der Artikel 7 der ersten Verfassung der DDR fest. Dafür sollten Einrichtungen für Kinder geschaffen werden, „die es gewährleisten, dass die Frau ihre Aufgabe als Bürgerin und Schaffende mit ihren Pflichten als Frau und Mutter vereinbaren kann“. In einer „einheitlichen, geschlossenen Erzieherfront“ sollten die gesellschaftlichen Erziehungsinstitutionen und die „sozialistische Familie“ (in der Vater und Mutter grundlegende Merkmale sozialistischer Persönlichkeiten und die Verantwortung und Verpflichtung für die sozialistische Erziehung ihrer Kinder tragen), gleichsinnig den gesellschaftlichen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes „potenzieren“.
Das Leben vollzog sich also von frühester Kindheit bis in das Erwachsenenalter überwiegend in hierarchisch strukturierten Klein- und Großgruppen nach dem Modell: Führer – Geführter, Rede ohne Gegenrede. Der Wert des Einzelnen wurde den Gruppennormen untergeordnet und die ideologisch erwünschten Erziehungsziele sollten, auch gegen die Interessen und Widerstände des Einzelnen, durchgesetzt werden. Im Zentrum der Erziehung stand die Einordnung ins „Kinderkollektiv". Unter einem Kollektiv wurde in der DDR die bestentwickelte Form der Gruppe verstanden, sie
„besteht aus sozialistischen Persönlichkeiten, [...] ist auf optimale Entwicklung seiner Mitglieder orientiert [...], die im gemeinsamen Handeln Aufgaben gewissenhaft erfüllen und sich gegenseitig zu erwünschtem Verhalten erziehen“.
Aber nicht alle Bürger unterwarfen sich diesem Erziehungs- und Bildungskonzept. Es wäre ein fundamentaler Irrtum anzunehmen, „die Erziehungsrealität in der DDR sei ausschließlich durch die [...] offiziellen Intentionen und Indoktrinationen determiniert worden“.
Unter Lehrern, Erziehern, wissenschaftlich tätigen Pädagogen und Eltern gab es durchaus findige Geister, die sich über verschiedene Kanäle mit „westlichen“ Konzepten befassten, wie beispielsweise der Montessoripädagogik oder „Gordons Familienkonferenz“. Aber diejenigen, die innerhalb ihrer Familie einen privaten Raum für Bindung und individuelle Entwicklung ihrer Kinder schufen, hatten es oft nicht leicht, ihre Haltung gegenüber der Außenwelt zu vertreten. Sie hatten schnell den Ruf, „bürgerlich-individualistische Abweichler“ zu sein.
Favorisiert wurden Sowjetpädagogen wie Anton Semjonowitsch Makarenko, der die Persönlichkeit des zu erziehenden Kindes regelrecht „projektierte“, oder auch die Pawlowsche Lehre von der höheren Nerventätigkeit, die sich besonders für Lenins Theorie der Widerspiegelung der objektiven Realität im menschlichen Bewusstsein eignete. Mit der Einführung einer programmierten Erziehung in den 1970er Jahren sollten diese Ideen in die Praxis umgesetzt werden.
Innerfamilialer Kontext
In der DDR heirateten viele Paar sehr früh, oft nach dem Abschluss der Berufsausbildung oder während des Studiums, mit der Hoffnung, sich äußerlich von der Herkunftsfamilie zu lösen und um autonom leben zu können. Angesichts der Wohnungsnot konnte man als Ehepaar eher mit der Zuteilung einer eigenen Kleinstwohnung rechnen. Kinder galten als gesellschaftlich gestütztes Statussymbol und als Druckmittel für größere soziale Freiheiten wie eine größere Wohnung, Kindergeld, Befreiung von Arbeitsplatzbindung oder Schichtdienst und Reisemöglichkeit in den „Westen“. Kinder halfen natürlich auch, elterliche Geborgenheitswünsche zu erfüllen. Bei der selbstverständlichen Berufstätigkeit beider Eheleute teilte man sich die häusliche Alltagsarbeit weitestgehend. Dennoch blieb die Frau und Mutter meist für die emotionale Seite des Familienlebens und damit letztlich doch für die Kinder zuständig. Die permanente Zeitnot war so selbstverständlich, dass sie kaum noch wahrgenommen wurde. Es blieb bei einer Doppelbelastung der Frauen, und das sozialpolitische Familienpaket war eher eine „Muttipolitik“.
Die Geburt des ersten Kindes fiel meist in die ersten zwei Ehejahre, in denen das Paar seine Identität festigen und einen eigenen Lebensstil erst finden musste. So konnte auch das erwünschte Kind rasch in die Position eines zu funktionierenden Objektes geraten und als Folge davon einen begrenzten emotionalen Raum für seine Abhängigkeit und Bedürfnisse nach Halt und Verstehen zugewiesen bekommen. Es wurde dann im System Familie weniger ein Mitglied, das erst einmal etwas bekommen muss, sondern geriet in die Rolle des Gebenden. Hinzu kamen vergleichsweise hohe Scheidungsraten. Jede dritte Ehe wurde wieder geschieden. Der erste Scheidungsgipfel lag in den 1970er Jahren innerhalb der ersten drei bis vier Ehejahre, also meist zwischen dem 22. bis 24. Lebensjahr der Eheleute. In der Regel war bereits mindestens ein Kind geboren. Oft fiel in diese ersten Ehejahre auch der anderthalbjährige Pflichtdienst der Väter in der Nationalen Volksarmee, sodass sie den Lebensanfang ihrer Kinder nur aus der Perspektive eines gelegentlichen Wochenendbesuchers miterleben konnten. Die öffentliche Früherziehung konnte den Verlust von Vater oder Mutter nicht auffangen, wie eine der wenigen Untersuchungen zu psychosomatischen und psychischen Auffälligkeiten von Kleinkindern in der DDR zeigte.
Struktur des Krippenwesens
Bis 1989 hatte sich in der DDR das dichteste Netz von Kinderkrippen in Europa entwickelt. Waren es 1950 nur 194 Institutionen mit 4774 Plätzen, so existierten 1989 7707 Einrichtungen mit 348.058 Plätzen, die 80 Prozent der Kinder unter drei Jahren aufnahmen. Allerdings verschob sich die Altersgrenze der Krippenaufnahme im Laufe der Jahrzehnte erheblich nach oben, als ab 1975 die bezahlte Freistellung der Mütter oder Väter im ersten Lebensjahr eingeführt wurde.
Annähernd ähnlich hatte man in der Tschechoslowakei in den 1960er Jahren die Tageskrippenplätze ausgebaut. Dort wurden aber zugleich die Folgen frühkindlicher Kollektiverziehung erforscht. Als sich herausstellte, dass psychische Deprivation sowie deren Übertragung von einer Generation auf die nächste als Folge von Frühtrennungen und kollektiver Früherziehung gehäuft auftraten, wurden diese Ergebnisse öffentlich und relativ ideologiefrei diskutiert und in die Sozialpolitik umgesetzt.
Die Kinderkrippen in der DDR unterstanden dem Ministerium für Gesundheit, das über ein hierarchisch gegliedertes System mit Bezirksärzten und deren Fachreferaten die fachliche und politische Aufsicht und Kontrolle ausübte. Die wirtschaftliche und arbeitsrechtliche Verantwortung lag in den Händen der Räte der Gemeinden und Städte beziehungsweise bei der Betriebs-(Kombinats-)leitung. Mit der Einführung von „Kinderkombinationen“, also Zweckbauten nach normiertem Standard, die Krippe und Kindergarten und damit mehr als 200 Kinder unter einem Dach vereinten, entstanden erhebliche strukturelle Unterschiede zu den kleineren ländlichen oder Betriebs-Einrichtungen, die eher „familiär“ anmuteten. In der Ausbildung der dort arbeitenden Säuglings- beziehungsweise Kinderkrankenschwestern oder Krippenerzieherinnen waren nicht nur die kleinkindpädagogischen, sondern vor allem die psychologischen Fächer schwach vertreten.
Programmierte Erziehung
Als verbindliche Grundlage für die Praxis diente zwischen 1968 und 1984 das Erziehungsprogramm „Pädagogische Aufgaben und Arbeitsweisen der Krippen”, das in zweiter Fassung zwischen 1970 und 1974 mit großem Nachdruck eingeführt wurde. Fachberaterinnen kontrollierten die Qualität der Umsetzung. Niedrige Bezahlung sowie körperliche und psychische Belastung, auf die besonders die jüngeren Erzieherinnen nicht ausreichend vorbereitet waren, führten zu einer hohen Fluktuation des Fachpersonals. Ab etwa 1985 schieden jährlich 2000 und mehr Krippenerzieherinnen aus dem Beruf aus, was die zentrale Führungsebene mit Beunruhigung wahrnahm und mit Appellen an das Berufsethos beantwortete.
Das Erziehungsprogramm sollte „das theoretische Rüstzeug für die erste Stufe des einheitlichen sozialistischen Bildungswesens schaffen“.
Die Einwände, die einige Kleinkindpädagogen der Humboldt Universität zu Berlin bereits gegen Ende der 1960er Jahre gegen solcherart Entwicklungsbögen, die den individuellen Eigenschaften eines Kindes kaum Rechnung trugen, vorbrachten, wurden ignoriert. Das Erziehungsprogramm umfasste in seinem ersten Abschnitt „Die Planung der pflegerisch-erzieherischen Arbeit“ hinsichtlich Systematik, organisatorisch-methodischer Gestaltung und Kontrolle der Planerfüllung. Im zweiten Abschnitt waren „Die Sachgebiete der Erziehung – Allgemeines, Aufgabenfolgen und methodische Anleitungen“ aufgeführt. In durchnummerierten Aufgaben und bis ins Detail abgefassten methodischen Hinweisen gab das Programm nun vor, wie die Frühbetreuung zu verlaufen hatte: Gestaltung des Lebens und des Verhaltens, Bewegungsschulung durch Körperübungen, Ausbildung und Anleitung zum kindlichen Spiel, Bekanntwerden mit der Umwelt und Spracherziehung, Musikerziehung und darstellende Tätigkeiten.
Die Ausführungshinweise machten sichtbar, wie konsequent kindliche Entwicklung als Ergebnis der pädagogischen Beeinflussung verstanden wurde. Zwangsläufig setzte wenige Jahre nach Erscheinen des Programms ein „Verschulungsprozess in den Krippen ein“.
„die Ordnungsprinzipien der DDR nicht schwer zu erkennen sind. Sie finden ihren für mich deutlichsten Ausdruck in der unablässigen Verwendung von Lenkungsvokabeln wie ‚Die Erzieherin beachtet, nutzt, führt, lenkt, richtet, hilft, fordert, weckt, sichert, sorgt, hält, organisiert, präzisiert, motiviert, informiert [...] und schließlich ‚sie befähigt’. Alle Aktivität wird der Erzieherin aufgenötigt, das Kind wird zum Objekt von ‚Befähigungsbemühungen’, deren Erfolg überprüft wurde“.
Eingewöhnung
Nicht verwunderlich ist es deshalb, dass die Bedeutung der Frühtrennung und damit verbundene Ängste nur begrenzt wahrgenommen und akzeptiert wurden. Denn „erhält der junge Säugling die gewohnte Ernährung und Pflege in der Krippe weiter, so gedeiht er prächtig und nimmt laufend zu“. Man müsse „auf Störungen der höheren Nerventätigkeit bei der Aufnahme oder Verlegung eines Kindes achten“. Auf „häufige Eingewöhnungs-und Umgewöhnungsstörungen“ wie Gewichtsabnahme, Verhaltensänderungen, Entwicklungsstillstand bei Kindern nach dem zwölften Lebensmonat wird hingewiesen. Diese lassen sich gut verhüten, „wenn das Kind nicht mit einem Mal alles Vertraute entbehren muß“ und die Aufnahme vorbereitet wird.
Das Programm empfahl 1974, dass die Mutter mit ihrem Kind mehrere Tage die Gruppe besuchen und das Kind in kleinen Schritten immer länger allein dort bleiben solle. Erst in der weiterentwickelten Version des Programms 1985 wird das Kind mehr als fühlendes Subjekt verstanden.
„Mit der Aufnahme vollzieht sich ein tiefgreifender Wandel in seiner bisherigen Lebensweise [...]. Aus dem Zusammenleben mit Gleichaltrigen, dem Kontakt mit verschiedenen Erwachsenen, der im Tagesablauf der Krippe bestehenden Ordnung erwachsenen dem Kind neue Anforderungen, die es allmählich lernen muß, zu bewältigen“.
„Selbst wachsame Eltern, die die Veränderungen ihres Kindes durchaus wahrnehmen, griffen eher zu Süßigkeiten, Spielzeug, Medikamenten entsprechend eigener oraler Bewältigungsmuster“, bemerkten kritische Pädiaterinnen in den 1980er Jahren.
Die Neurobiologie untermauerte in den letzten Jahrzehnten die Erkenntnis, dass nichts ein Baby so stresst und ängstigt wie die Trennung von seiner Mutter.
Ist allein die Tatsache einer zu frühen Trennung vom Elternhaus gleichzusetzen mit einem psychischen Trauma? Höchstwahrscheinlich müssen wir dies bejahen, wenn nicht ein verstehend-haltgebender Anderer, der sich auf die Individualität des Babys einlässt, die äußere Leerstelle von Mutter oder Vater einnimmt und empathisch, tröstend und engagiert den Dialog mit dem Kind aufnimmt. Und, wenn die Trennung zu plötzlich und zu lange eintritt, nämlich täglich neun bis zehn Stunden. Und nicht zuletzt, wenn es an einem vertrauensvollen Austausch zwischen Erzieherinnen und Eltern auf Augenhöhe mangelt. Dann entsteht ein Riss, eine Wunde, eine Verletzung, aus der im Kind Bedrohungs-und Verfolgungsgefühle erwachsen können.
Der Alltag
Ein ausschließlich auf eine konsequente Gruppenerziehung hinführender Alltag kann hierbei erschwerend wirken. Und dieser war nun mal das Leitbild der Krippenerziehung in der DDR:
„Diese Aufgaben erfordern, konsequent davon auszugehen, dass die Erziehbarkeit und Erziehungsbedürftigkeit des Menschen in seinen ersten Lebenstagen beginnt, und nur dann tatkräftige, schöpferische und allseitig gebildete Sozialisten herangebildet werden können, wenn der komplizierte Prozess der Erziehung und Bildung vom ersten Tage an bis hinein ins Erwachsenenalter einheitlich und kontinuierlich gestaltet wird. [...] Das Kind soll bereits im frühen Alter lernen, in einer Gruppe Gleichaltriger zu leben und sich in der gemeinsamen Tätigkeit mit anderen wohl zu fühlen. [...] Die wesentlichsten Aufgaben der sittlichen Erziehung bestehen darin, das Verhalten der Kinder in der Kindergruppe richtig zu lenken“.
“Obwohl ich als Absolventin noch so jung und unerfahren war, musste ich manchmal bis zu 34 Kinder, und das waren Säuglinge und Kleinstkinder, alleine betreuen. Das hing mit dem Personalmangel und den langen Öffnungszeiten zusammen.“
„Maßgebend für die frühe Bildung des Kindes bleibt jedoch, die unmittelbare kindliche Auseinandersetzung mit der Umwelt anzuregen, sie zu assistieren und zu unterstützen. Dabei geht es genau um jene dyadisch [auf die Beziehung zwischen zwei Menschen] angelegten Interaktionsschleifen, die höchst individuell auf die mentale Erfassung der Sachverhalte abgestimmt sind.“
Auch andere Pflegehandlungen wurden oft mit ähnlicher Härte ausgeführt – zum Beispiel die Sauberkeitserziehung. Diese eröffnet im Normalfall die Chance, eine „ich-will-ich-will-nicht“-Autonomie zu entwickeln, Hergeben oder Behalten körperlich zu spüren, sich psychisch im Trennen zu üben, Stolz zu erleben, aber auch die Gefahr, erstmals gebrochen, beschämt zu werden. Gegen Ende des zweiten Lebensjahres klärt sich, welche Gefühle im Kind überwiegen: Schuld und Scham oder Stolz und Bewusstheit. Dabei spielt die Erziehung zur Sauberkeit eine zentrale Rolle.
Nachwirkungen
Wie sich im Rückblick die Krippenerziehung „anfühlte” und welche Spuren sie hinterließ, versuchte eine Gruppe von Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern in einem Interviewprojekt mit 20 ehemaligen Krippenkindern, die nun selbst Eltern von Kleinstkindern waren, herauszufinden.
Die Selbstentwicklung, deren lebendiger Ausdruck die Fähigkeit ist, in Gefühlen, Bedürfnissen und Gedanken sich selbst und den Anderen als eigenständiges Wesen wahrzunehmen (reflexive Funktion), wurde durch die Qualität der Betreuung und durch einfühlsamen Umgang in Elternhaus und Krippe deutlich beeinflusst. Es zeichnete sich ab, dass sich bei Interviewten, die das rigide Erziehungsprogramm ab 1974 „absolvierten”, die reflexive Funktion weniger entwickelt hatte, während diejenigen, die in den Jahren zuvor in wesentlich jüngerem Alter (manche zum Teil bereits mit sechs Wochen) in die Krippe kamen, eine mittlere bis gute reflexive Funktion erreichten. Zusätzlich behindernd wirkte, wenn Eltern, ähnlich wie es das Erziehungsprogramm vorsah, strikten Gehorsam forderten, wenig auf Eigenheiten und Bedürfnisse ihrer Kinder eingingen. Die reflexive Funktion entfaltete sich ebenfalls weniger in belastenden oder traumatisierenden Eltern-Kind-Beziehungen, wobei die Abwesenheit des Vaters (Pflichtwehrdienst oder Beruf) ein zusätzliches Risiko darstellte. Lag das Aufnahmealter vor dem sechsten Lebensmonat, litten die Kinder häufiger an rezidivierenden Erkrankungen, die teilweise auch zur „Krippenuntauglichkeit“ führten, als später aufgenommene Kinder. Es war die körperliche „Antwort“ auf den Verlust der primären Bezugspersonen und auf den Krippenalltag.
Ab dem Vorschulalter bis ins Erwachsenenalter wandelte sich die Körperreaktion sukzessiv in psychosomatische und psychische Auffälligkeiten, die unsere Interviewten damit begründeten, dem Alltagsstress nicht gewachsen (gewesen) zu sein. Die Längsschnitterfassung der Symptome und Krankheitsverläufe zeigte, dass frühe Trennung und Fremdbetreuung als gravierende, lebensgeschichtliche Ereignisse vermutlich die Stressbelastung fortschreiben und die Bewältigungsmöglichkeiten einschränken. Zwei Drittel der Interviewten, darunter wiederum besonders die ehemals „jungen“ Krippenkinder, reagierten auf die existentielle Neuerfahrung der eigenen Elternschaft mit erheblichen seelischen, psychosomatischen oder körperlichen Beschwerden. Auch unter Berücksichtigung aktueller Belastungen verstanden wir das als Ausdruck der Reaktivierung früher Überforderung und schmerzhafter Erfahrungen.
Der Januskopf
Die staatlich erwünschte und geförderte Erziehungspraxis besaß ein doppeltes Gesicht: Einerseits boten die zahlreichen Institutionen von Geburt an Eltern und Kindern einen stabilen Rahmen, preisgünstige, gruppenbezogene Strukturen, auf die man jederzeit zurückgreifen konnte. Kein Kind war ohne Aufsicht. Andererseits entwickelten sich Kontrollmöglichkeiten bis in die Familie hinein, was dazu führte, dass Eltern ihre Erziehungsverantwortung abgeben konnten, ja fast abgeben mussten. Das minderte ihre Fähigkeit, Vorstellungen vom Innenleben ihres Kindes zu entwickeln, sein Selbstempfinden zu achten und sein individuelles Entwicklungsprofil zu schützen.
Ebenso gab es auch Erzieherinnen, die sich über die programmierte Erziehung hinwegsetzten, um Kindern zu ermöglichen, ihr individuelles Tempo zu leben und ganz eigene Erfahrungen zu machen.
Zitierweise: Agathe Israel, Frühe Fremdbetreuung in der DDR – Erfahrungen mit der Krippenerziehung, in: Deutschland Archiv, 17.11.2017, Link: www.bpb.de/259587