Die Reformationsjubiläen waren von Anfang an – also seit dem ersten, das im Jahr 1617 stattfand und den Reigen dieser Jubiläen begründete – gesamtgesellschaftliche Ereignisse. Die Christenheit in den jeweiligen Königreichen, Territorien und freien Städten war fast durchweg eins mit der jeweiligen Gesamtbewohnerschaft, in welcher Konfession auch immer. Kirchliche Institution und politische Obrigkeit wirkten eng zusammen. Und das galt eben auch bei den Feiern zum Gedächtnis der Reformation, die man innerhalb und außerhalb Deutschlands zunächst als Zentenare, dann als Halbzentenare und schließlich als Viertelzentenare mit großem Aufwand unter Beteiligung aller beging.
Man sollte annehmen, dass sich das unter den Bedingungen der Trennung von Kirche und Staat, wie sie das 20. Jahrhundert brachte, geändert hätte, dass die Feier der Reformation nun zu einer Angelegenheit geworden wäre, die die evangelischen Kirchen allein verantworteten. Doch die Annahme ist, jedenfalls für Deutschland, falsch. Die Kirchen veranstalteten zwar in der Tat nun selber Jubiläumsveranstaltungen in großem Stil. Doch auch unter den neuen politischen Verhältnissen reichte der Radius der Feierbeteiligung weit in die Gesellschaft jenseits der Kirchengrenzen hinein, und auch jetzt ließ es sich der Staat nicht nehmen, selbst als Jubiläumsakteur aufzutreten. Das galt auffälligerweise besonders in jenem Staat, dem diese Rolle ganz und gar nicht in die Wiege gelegt war und dessen Selbstverständnis sie eigentlich völlig widersprach, in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR).
Von überregionaler, ja internationaler Relevanz waren unter den Reformationsjubiläen, die in ganz Deutschland zwischen der Teilung in zwei Staaten und der Friedlichen Revolution gefeiert wurden, vor allem der 450. Jahrestag des Thesenanschlags 1967 und der 500. Geburtstag Martin Luthers 1983. Sie sollen im Folgenden daher besonders betrachtet werden. Nicht ausgelassen werden dürfen allerdings zwei andere Jubiläen, die allein die DDR beging, der 450. Todestag des radikalen Reformators Thomas Müntzer und Gedenktag des Bauernkriegs 1975 sowie Müntzers 500. Geburtstag 1989. Denn die DDR spielt in der Geschichte der Reformationsjubiläen während der Zeit der deutschen Teilung bei Weitem die aktivere Rolle.
Die Müntzer-Jubiläen der DDR 1975 und 1989
Das Müntzer- und Bauernkriegsjubiläum von 1975 ist nicht das erste Reformationsjubiläum der DDR, ihm war 1967 bereits die 450-Jahr-Feier des Thesenanschlags vorausgegangen. Dennoch ist es angemessen, mit ihm zu beginnen. Denn mit Müntzer, nicht mit Luther, war das Selbstverständnis der DDR in ihrem Ursprung verbunden, in der Feier dieses radikalen Reformators, der am Ende seines Lebens zum Bauernführer geworden war und als solcher den Tod gefunden hatte, fühlte sie sich vorbehaltlos wohl. Auch ihre Feiern der Reformation und Martin Luthers sind ohne diesen Hintergrund nicht zu verstehen. Das verwundert nicht, gehörte doch die Berufung auf Müntzer zu den Urelementen der kommunistischen Ideologie, die lange vor der Entstehung der DDR zusammengetragen waren. Den Grund hatte bereits Friedrich Engels 1850 in einer Studie mit dem Titel ‚Der deutsche Bauernkrieg‘ gelegt. Danach war der sogenannte Bauernkrieg von 1524 bis 1525 das Vorspiel der revolutionären Bewegungen der modernen Arbeiterklasse. Historisch verfrüht und deshalb chancenlos, sei dieses Vorspiel doch ein Fanal des schließlich Kommenden gewesen und zum bleibenden Bezugspunkt der Arbeiterklasse geworden, die auf ihre eigene Revolution zugehe oder sie verwirklicht habe. Als Symbolfigur jenes ebenso ruhmreichen wie tragischen Ereignisses wurde Thomas Müntzer herausgestellt, der auf Seiten der kämpfenden Bauern gestanden hatte und so „zum Stammvater der revolutionären Bewegung des deutschen Volkes“ geworden war.
Im Bauernaufstand von 1524 bis 1525 und Müntzers Beteiligung daran schuf sich der sozialistische deutsche Staat einen eigenen „Ursprungsmythos
„Heute, 450 Jahre nach der ersten großen revolutionären Massenerhebung der deutschen Geschichte, begehen wir den Jahrestag als Sieger der Geschichte, die die Ausbeuterklassen ein für alle mal [!] besiegt haben.“
An Müntzer als geschichtspolitischer Leitfigur hielt man auch fest, als sich längst und nicht zu jedermanns Wohlgefallen Martin Luther in den Vordergrund des offiziellen Gedenkens geschoben hatte – worauf im Folgenden weiter eingegangen wird. Deshalb stand außer Frage, dass 1989 Müntzers 500. Geburtstag mit einer Feier zu ehren sei, die dem sechs Jahre zuvor begangenen 500. Geburtstag Luthers in nichts nachstehen sollte. Dass in dasselbe Jahr der ebenfalls groß zu begehende 40. Gründungstag der DDR fiel, bot einmal mehr Gelegenheit, diesen Staat als Erfüllung der Vision Müntzers und der kämpfenden Bauern herauszustellen. Doch geriet die Feier, für Dezember 1989 angesetzt, in die Agonie des Staates nach der Öffnung der Mauer, sie wurde auf ein kleines Format reduziert und fand kaum noch Aufmerksamkeit. So teilten der zweite deutsche Staat und sein spezifischer Rückbezug auf die Reformation geradezu symbolisch das Schicksal des Untergangs.
Wie standen die evangelischen Kirchen der DDR zu den Müntzerfeiern des Staates? Sie kamen aus einer Tradition, die umgekehrt in Martin Luther die positive Referenzfigur sah und, dessen eigenem Urteil folgend, in Müntzer den Zerstörer von Kirche und gesellschaftlicher Ordnung. Dass der auf weite Strecken kirchenfeindliche Staat Müntzer für sich anführte, konnte diese Sicht nur bekräftigen. Doch kam es im Laufe der Jahrzehnte, nicht zuletzt im Dialog mit marxistischen Reformationshistorikern, zu Modifikationen dieses Urteils, wurden nicht allein Müntzers destruktive Botschaften zur Kenntnis genommen, sondern auch sein positives Programm. Freilich bestand man darauf, dass Müntzer in erster Linie nicht Politiker und Sozialrevolutionär, sondern Theologe gewesen sei und all seine Äußerungen in dieser Perspektive verstanden werden müssten. Zu kirchlichen Feiern führten aber auch diese Modifikationen nicht.
Das Reformationsjubiläum von 1967
Feier anlässlich 450 Jahre Reformation in der Lutherstadt Wittenberg, 1967 (© Bundesarchiv, B 145 Bild-P096422, Foto: Gutjahr-Löser)
Feier anlässlich 450 Jahre Reformation in der Lutherstadt Wittenberg, 1967 (© Bundesarchiv, B 145 Bild-P096422, Foto: Gutjahr-Löser)
Anders als hinsichtlich der Lebensdaten Thomas Müntzers stand es für die evangelischen Kirchen außer Frage, dass sie den 450. Jahrestag des Anschlags der Ablassthesen von 1517 festlich begehen würden. Die Initiative zur Vorbereitung ergriffen die Kirchen der DDR, sie holten aber sogleich die westdeutschen mit ins Boot. Denn die Feiern sollten zwar am Ort des einstigen Geschehens, also im jetzt zur DDR gehörenden Wittenberg, doch von der ganzen damals noch gesamtdeutschen Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) veranstaltet werden. Der ostdeutsche Staat hatte ebenso wenig wie der westdeutsche eine eigene Feier vorgesehen. Doch kaum erfuhr er von den Planungen der Kirchen, war er alarmiert. Es wurde beschlossen, diesen das Wasser abzugraben und aus dem Jubiläum ein nationales Großereignis zu machen, für das das Politbüro die Leitlinien vorgeben und ein staatliches Planungskomitee die Umsetzung in die Hand nehmen werde.
Dass die DDR ein Jubiläum begehen würde, welches in engem Zusammenhang mit Martin Luther stand, lag vor dem Hintergrund der traditionellen ideologischen Einordnung des Wittenberger Reformators, wie sie sich im Kontrast zu Müntzer plastisch zeigte, ganz und gar nicht nahe. Seine Voraussetzung ist eine geschichtspolitische Umorientierung, die sich in den Jahren zuvor ereignet hatte und den „Verräter“ und „Gegenrevolutionär“ nun zu würdigen, ja schließlich zu feiern erlaubte. Die Umorientierung bestand in einer neuen Zuordnung von Revolution und Reformation, auf den Begriff gebracht in der Rede von der „Frühbürgerlichen Revolution“. Für die Kurskorrektur gab es zwei Gründe, einen wissenschaftlichen und einen politischen.
Der wissenschaftliche Grund lag in der schon bei Engels angedeuteten Erkenntnis, dass Luther und Müntzer, Reformation und Bauernkrieg einander nicht einfach entgegengestellt werden könnten. Zu deutlich setzte das Auftreten Müntzers das Auftreten Luthers, der Bauernkrieg die Reformation voraus. Offensichtlich war die Reformation selbst bereits ein revolutionäres Ereignis. Das gestand man ein, setzte allerdings hinzu, es habe sich um eine bürgerliche – wegen ihres noch stark von mittelalterlichen Verhältnissen abhängigen Charakters genauer frühbürgerliche – Revolution gehandelt, die zwar gegen den Feudalismus aufgestanden sei, aber an seine Stelle bürgerlich-kapitalistische Besitzverhältnisse gesetzt habe, während der Versuch nichtbürgerlicher Schichten, in einem zweiten Schritt, dem Bauernkrieg, weitergehende Veränderungen zu erreichen, gescheitert sei. Da also schon Luther einen revolutionären Umschwung herbeigeführt habe und ohne diesen der Bauernkrieg nicht hätte stattfinden können, müsse man ihn und die Reformation in die positiv zu bewertende Revolutionsgeschichte aufnehmen, auch wenn ihre Reichweite begrenzt gewesen sei und er sich selbst gegen weitergehende revolutionäre Konsequenzen gewandt habe.
Der politische Grund entsprang dem zunehmendem Bedürfnis der DDR nach identitätsstiftender Gedächtniskultur. Die Berufung auf Thomas Müntzer war dafür offensichtlich eine zu schmale Basis. Und angesichts der Bedeutung Martin Luthers erschien es nicht opportun, das geschichtspolitische Potenzial, das mit seinem Namen verbunden war, brachliegen oder den Gegnern zu überlassen, wie schon 1953 im Zentralkomitee (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) festgestellt wurde: „Luther ist bei uns eine Vorstellung, die wir benutzen müssen im Kampf gegen die Reaktion. Luther ist nicht eine Fahne, die wir der Reaktion überlassen.“
Diese politisch-funktionalistische Sicht konnte nicht die der Kirchen sein. Sie wollten, wie sich an ihrer frühzeitigen Initiative zeigte, nicht nur das Jubiläum in eigener Regie begehen, sondern dabei auch ihre eigene, theologisch zentrierte Perspektive zur Geltung bringen. Das passte dem sozialistischen Staat, sobald er plante, das Jubiläum selbst zu begehen, nicht ins Konzept. Am liebsten hätte er die Kirchen in seine eigenen Planungen eingebunden und sich damit als einziger Akteur, seine Deutung der Reformation als die allgemeine Sicht präsentiert.
Das Lutherjubiläum von 1983
Das größte Reformationsjubiläum zwischen dem Ende des Zweitem Weltkriegs und der Friedlichen Revolution war aber, aufgrund seiner besonderen runden Zahl, der 500. Geburtstag Martin Luthers 1983. Wie das Jubiläum von 1967 wurde dieses sowohl vom Staat als auch den Kirchen begangen, doch diesmal in Ost- und in Westdeutschland. Den ersten Schritt machte allerdings auch dieses Mal der Osten. Hier begann man früher mit der Planung. Und hier spielten sich trotz eigener Feiern im Westen wegen der Fülle und des Gewichts der östlich der Elbe gelegenen reformationsgeschichtlichen Stätten die Höhepunkte des Jubiläums ab, was die Kirchen des Westens auch anerkannten und berücksichtigten.
Die Kirchen der DDR begannen umgehend nach dem Müntzer-Jubiläum von 1975 mit den Vorbereitungen. Nach den Erfahrungen des Jahres 1967 wollte man auf jeden Fall die Initiative behalten. Und man wollte durch größere Öffentlichkeit besser abgesichert sein. Zu dieser Öffentlichkeit sollte auch die internationale wissenschaftliche Community gehören, weshalb man den für 1983 geplanten „Internationalen Lutherkongress“ in die DDR einlud. Das konnte nicht ohne Einwilligung des Staates geschehen, und diese wurde gewährt. Gegenüber 1967 hatte sich das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in der DDR jedenfalls auf der Leitungsebene deutlich entspannt. Ein Grund dafür war nicht zuletzt, dass die Kirchen der DDR mittlerweile aus der EKD ausgeschieden waren. Das hieß freilich nicht, dass der Staat der Kirche das Lutherjubiläum überlassen würde. Im Gegenteil, als man hier von dem Vorhaben der Kirche erfuhr, setzte man auch diesmal umgehend eigene Planungen in Gang. Ja, man siedelte diese auf der höchstmöglichen Ebene an, in einem staatlichen „Lutherkomitee“, in dem kein Geringerer als der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker den Vorsitz hatte. Mit offiziellen 15 „Thesen über Martin Luther“ wurde die geschichtspolitische Leitlinie für die geplanten Feiern vorgegeben.
Um Luther dem Volk nahezubringen, scheute die DDR bei dem Jubiläum weder Kosten noch Mühen. Es gab Ausstellungen und Filme, wissenschaftliche Tagungen und Veröffentlichungen, Empfänge und einen feierlichen Staatsakt in der Berliner Staatsoper, bei dem Honecker Vertreter der internationalen Ökumene empfing. Es fehlte nur eines, die Beteiligung der evangelischen Kirchen. Honecker hätte sie gern in seinem Lutherkomitee dabei gehabt. Doch sie wollten sich auch diesmal nicht einbinden lassen und akzeptierten als Kompromiss nur die Präsenz zweier Bischöfe als Gäste bei den Sitzungen des staatlichen Gremiums. Im Übrigen bestanden sie auf ihren eigenen Planungen und darauf, „daß das Interesse und die Verpflichtung unserer Kirchen gegenüber Martin Luther auf einer anderen Ebene liegen.“
Luther-Ausstellung im Predigerkloster Erfurt, 1983; v.re.n.li.: Pfarrer Meißner, Landesbischof Leich, der stellv. Staatsratsvorsitzende Götting und Staatssekretär für Kirchenfragen Gysi (© Bundesarchiv, Bild 183-1983-0507-001, Foto: Jürgen Ludwig)
Luther-Ausstellung im Predigerkloster Erfurt, 1983; v.re.n.li.: Pfarrer Meißner, Landesbischof Leich, der stellv. Staatsratsvorsitzende Götting und Staatssekretär für Kirchenfragen Gysi (© Bundesarchiv, Bild 183-1983-0507-001, Foto: Jürgen Ludwig)
Folge dieser Dualität der Reformationsbilder war wie 1967, nur diesmal vom Staat respektiert und weitgehend ungehindert, eine Serie von Parallelaktionen mit partieller wechselseitiger Teilnahme. Auch die Kirche veranstaltete Ausstellungen, Empfänge und wissenschaftliche Tagungen. Unter Letzteren, nicht von ihr organisiert, doch auf ihre Einladung zustande gekommen, ragte der Internationale Kongress für Lutherforschung in Erfurt hervor, die größte und freieste, auch am stärksten internationale Konferenz in der Geschichte der DDR. Keine Parallele auf staatlicher Seite hatten naturgemäß die Festgottesdienste, deren einige als besonderes Entgegenkommen des Staates im Fernsehen übertragen wurden, was die Ausstrahlung auch in Westdeutschland einschloss. Den Höhepunkt bildeten, beginnend mit dem in Luthers Geburtsstadt Eisleben begangenen Jubiläumstag, dem 10. November, drei „Ökumenische Begegnungstage“, an denen man zusammen mit Abgesandten aus 36 Ländern und 78 Kirchen Gottesdienst feierte und theologische Diskussionen hielt. Dazu kamen regionale Kirchentage quer durch die ganze DDR mit einer Fülle von Abendmahlsgottesdiensten, liturgischen Nächten, Friedensgebeten und Bibelarbeiten unter reger Beteiligung internationaler Gäste. Auffälligerweise stand Martin Luther als Person sehr viel weniger im Mittelpunkt als bei den Veranstaltungen des Staates. Unter dem – Luthers Kleinem Katechismus entnommenen – Motto „Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“ ging es vielmehr um seine theologische Botschaft und darum, was sie für die Gegenwart, nicht zuletzt die trotz aller offiziellen Entspannungssignale nicht leichte Gegenwart der Christen in der DDR bedeute. Dass diese theologische Konzentration nicht zu politischer Abstinenz führte, zeigte ein Ereignis, das am Rande der Jubiläumsveranstaltungen stand, aber dank laufender Fernsehkameras schnell in den Blick der Öffentlichkeit geriet. Bei dem regionalen Jubiläumskirchentag in Wittenberg wurde im Hof des Lutherhauses die in der DDR illegale biblische Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ in die Tat umgesetzt und tatsächlich ein Schwert umgeschmiedet – eine Symbolhandlung, die zum Fanal für die nicht vom Staat gelenkte Friedensbewegung der DDR wurde.
Was zum Jubiläum von 1983 jenseits der Grenze geschah, lässt sich leichter und schwerer zusammenfassen. Leichter, weil es weit weniger große und spektakuläre Veranstaltungen gab. Die EKD beschränkte sich auf einen Festakt in der prominentesten Lutherstadt der Bundesrepublik, in Worms, den sie mit der Tagung ihrer Synode verband; für die Hauptfeier am 10. November begab man sich nach Eisleben. Ansonsten wurde in den Landeskirchen und ihren Gemeinden kräftig und vielfältig gefeiert. Der westdeutsche Staat hatte ursprünglich keinen Anspruch erhoben, selbst als Jubiläumsakteur tätig zu werden. Es gehe um eine kirchliche Feier, an der staatliche Repräsentanten nur teilnehmen würden, was dann auch geschah. Eine offizielle Sicht der Reformation, die der Staat vertreten hätte, gab es ohnehin nicht. Doch bald empfand man es als ungenügend, dass kein Rahmen vorhanden war, in dem die säkulare, staatlich verfasste Gesellschaft einem Gesichtspunkt Rechnung tragen konnte, den sie denn doch wichtig fand und gewürdigt sehen wollte: dass Luther und die Reformation bis in die Gegenwart reichende Wirkungen auch jenseits des kirchlichen Raumes gehabt hätten. Die massive Beanspruchung Luthers durch die DDR löste auf Seiten der Bunderepublik die Befürchtung aus, gedenkpolitisch leer auszugehen. So hielt man es für angebracht, die kirchlichen Veranstaltungen durch staatliche Jubiläumsaktivitäten zu ergänzen. Als idealer Rahmen erwies sich schließlich die große Ausstellung „Martin Luther und die Reformation in Deutschland“ im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, die unter die Schirmherrschaft des Bundespräsidenten gestellt und wesentlich vom Staat finanziert wurde. Ihre Eröffnung in der Nürnberger Lorenzkirche bot den Spitzen der Republik wie des Freistaates Bayern eine öffentlichkeitswirksame Bühne, in programmatischen Reden ihre Auffassung von der Bedeutung der Reformation für Staat und Gesellschaft darzulegen. Es klangen altvertraute Jubiläumsmotive wie der Hinweis auf die Bedeutung der Reformation für die deutsche Sprache, das Schulwesen, die Mündigkeit des Einzelnen und die Gewissensfreiheit an. Der bayerische Ministerpräsident Strauß ließ es sich nicht nehmen, vor allem Luthers Unterscheidung der beiden Regimente, des geistlichen und des politischen, hervorzuheben, die ihm in seiner langen Politikerkarriere als „überzeitliches Ordnungsmodell“ unverzichtbar geworden sei.
Weit schwerer sind die Jubiläumsfeierlichkeiten in Westdeutschland zusammenzufassen, wenn es um die Inhalte geht. Da es anders als in der DDR nicht zwei offizielle Jubiläumsträger gab, steht man vor einer unüberschaubaren Fülle weitgehend selbständiger Akteure, die in Jubiläumsgottesdiensten, -podien, -tagungen, -konzerten, in Fernsehsendungen, Filmen, Büchern, Ausstellungen, Büchern, Zeitschriften und Zeitungen die unterschiedlichsten Aussagen trafen und die vielfältigsten Gesichtspunkte hervorhoben. Ein geschlossenes, ja, auch nur vorherrschendes Bild ist nicht zu erkennen. Im Unterschied zur DDR war das Jubiläum von 1983 im Westen die Fülle der – teils alten, teils neuen – Lutherbilder: der Held und der Fürstenknecht, der Kirchenspalter und der auch von Katholiken zu verehrende „Vater im Glauben“, der Herold der Freiheit und der Urahn deutschen Untertanengeistes, der Grobian und das Sprachgenie... Es gab keine vorgeschriebene Linie des Gedenkens und Feierns mehr und auch keine Konkurrenz, die zur Profilierung einer von weiteren Kreisen getragenen alternativen Sicht geführt hätte. Ob das ein Gewinn oder ein Verlust war, ist eine offene Frage. Was daraus für die Gegenwart zu folgern ist, erst recht.
Zitierweise: Dorothea Wendebourg, Doppelte Konkurrenz – die Reformationsjubiläen in der Zeit der deutschen Teilung, in: Deutschland Archiv, 27.10.2017, Link: www.bpb.de/258560