Einführung: Eine Institution mit vielen Funktionen
Seit mehr als sechs Jahrzehnten befindet sich an der Marienfelder Allee im Südwesten Berlins eine Einrichtung, die für in die Bundesrepublik zuwandernde Menschen eine wichtige Station auf ihrem Weg markiert. Ob 1953 zunächst als „Notaufnahmelager“, ab 1977 nüchterner als „Durchgangsheim für Aussiedler und Zuwanderer“ oder aktuell als „Übergangswohnheim“ bezeichnet: Mit dem Wunsch, sich in (West-)Deutschland ein neues Leben aufzubauen, kamen und kommen hier kontinuierlich Menschen an – aus der DDR, aus Osteuropa und heute aus Krisen- und Kriegsregionen in aller Welt. In den Gebäuden fanden zahlreiche Ankömmlinge ein erstes, provisorisches Quartier. Überdies verbanden sich mit dem Ort, je nachdem, welche Zuwanderergruppe und welchen Zeitraum man betrachtet, viele weitere Aufgaben und Funktionen: die Registrierung der Eintreffenden etwa, die Abwicklung der zahlreichen bürokratischen Formalitäten, die mit ihrer Aufnahme verbunden waren – im Fall der aus der DDR Übersiedelnden „Notaufnahmeverfahren“ genannt –, außerdem ihre medizinische und soziale Betreuung. Die hier mit ihren Geheim- und militärischen Abschirmdiensten vertretenen westlichen Alliierten nutzten den Ort, um Menschen, die hinter dem ‚Eisernen Vorhang‘ gelebt hatten, im Hinblick auf interessante Informationen, zum Beispiel betreffs Militär- und Forschungseinrichtungen, zu befragen.
Der folgende Beitrag wirft drei Schlaglichter auf die Geschichte Marienfeldes, die das „Lager“ mit unterschiedlicher Belegung und unter jeweils gewandelten Anforderungen zeigen: in der Gründungsphase 1953, als West-Berlin dringend eine zentrale Institution zur Bewältigung des „Zustroms“ aus Ostdeutschland benötigte; Mitte der 1970er Jahre, nun auch mit Aussiedlern als Bewohnern und einem gewandelten öffentlichen Blick auf den Ort; und schließlich 1989/90, als die „Fluchtwelle“ über Ungarn und der Mauerfall noch einmal unerwartet viele Menschen in Marienfelde eintreffen ließen. In jedem dieser Zeitabschnitte erweist sich die Aufnahmestelle als Einrichtung, an der sich die bundesdeutsche und Berliner Migrationsgeschichte fokussiert beobachten lässt.
„Deutsche flüchten zu Deutschen“: Eröffnung 1953
Kurz vor der Eröffnung des neuen zentralen Notaufnahmelagers im April 1953 sah sich der West-Berliner Senat in großer Bedrängnis: „Flüchtlinge überfluten die Insel Berlin“ titelte eine Ende Februar vorgelegte Denkschrift. Gemeint waren die „[u]naufhaltsam und in ständig wachsender Zahl […] aus der sowjetisch besetzten Zone und aus dem Sowjetsektor der Stadt nach Westberlin [strömenden]“ Menschen. Während sich ein Jahr zuvor, im April 1952, rund 5000 Ostdeutsche hier meldeten, hatte die Teilstadt nunmehr ein Vielfaches an Zuwanderung zu verzeichnen. 25.340 Geflüchtete wurden allein im Januar 1953 aufgenommen.
Hinzu kam, dass in demselben Zeitraum die Flucht insgesamt zunahm, ein Geschehen, das charakteristischerweise durch wachsenden inneren Druck in der DDR hervorgerufen wurde: Im Zuge der Grenzsicherung wurden politisch angeblich unzuverlässige Anwohner zwangsumgesiedelt, von denen anschließend viele in den Westen gingen. Zudem forcierte die SED ihre Sozialisierungspolitik. Neben den politischen Maßnahmen verstärkte ein wirtschaftlicher Engpass, der Einsparungen so-wie Steuer- und Arbeitsnormerhöhungen nach sich zog, die Abwanderung. Demzufolge stieg die Zahl der im Notaufnahmeverfahren registrierten Antragsteller 1952 gegenüber dem Vorjahr um gut zehn Prozent auf 182.400; 1953 meldeten sich allein in den ersten drei Monaten rund 112.600 Menschen in der Bundesrepublik und West-Berlin.
„wenn alle Berlin anlaufenden politischen Flüchtlinge durch ein zentrales Durchgangslager geschleust werden können, in dem gleichzeitig auch alle an dem Notaufnahmeverfahren beteiligten Verwaltungsdienststellen und Organisationen ihren Sitz haben und dadurch unmittelbar in der Ausübung ihrer Funktionen wirksam werden können“. Bisher hatten sich die Flüchtlingsmeldestelle und auch der Ärztliche Dienst in der Kuno-Fischer-Straße in Charlottenburg befunden; zu den Alliierten Sichtungsstellen an verschiedenen Orten der Stadt waren die Ankömmlinge mit Bussen gefahren worden.
Der Bund in der Pflicht
Beim Bau des neuen Aufnahmelagers nahm Berlin den Bund in die Pflicht, der sich mit einem Anteil von fünf Millionen an den auf 5,7 Millionen veranschlagten Gesamtkosten beteiligte. Die Aufnahme der Flüchtlinge effizienter zu organisieren, konnte die Teilstadt allerdings nur dann entlasten, wenn sich der Bund noch in anderer Hinsicht engagierte. West-Berlin musste in den Länderausgleich einbezogen werden, was hieß, dass hier eintreffende Ostdeutsche nach Quoten auf die Bundesländer verteilt und ausgeflogen wurden. Dafür wiederum war eine Gesetzesänderung notwendig. West-Berlin gab sein „Gesetz über die Anerkennung politischer Flüchtlinge“ vom September 1950 auf. Stattdessen trat am vierten Februar 1952 das Bundesgesetz über die „Aufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet“ in Kraft, das der Deutsche Bundestag im August 1950 beschlossen hatte, womit die Notaufnahme rechtlich vereinheitlicht war.
Überfüllung und Mauerbau
DDR-Flüchtlinge im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde im Juli 1961 (© Bundesarchiv, Bild B 145 Bild-P060305, Foto: o. Ang.)
DDR-Flüchtlinge im Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde im Juli 1961 (© Bundesarchiv, Bild B 145 Bild-P060305, Foto: o. Ang.)
Spürbar mindern ließen sich die Schwierigkeiten angesichts des massiven Zuzugs, der im März 1953 mit über 57.000 Notaufnahme-Antragstellern in West-Berlin einen Spitzenwert erreichte, dadurch zunächst jedoch kaum. Schon Ende Februar lebten mehr als 30.000 Flüchtlinge in 75 Lagern sowie eine große Zahl privat Untergebrachter in der Teilstadt, die noch immer stark unter den Folgen des Krieges, einer hohen Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot litt. Hinzu kam die Problematik der sogenannten Abgelehnten: jener Ostdeutschen, die im Notaufnahmeverfahren keine zwingenden (politischen) Gründe für ihre Flucht vorweisen und auch nicht auf Familienzusammenführung rekurrieren konnten, so dass sie die angestrebte Aufenthaltserlaubnis für das Bundesgebiet und West-Berlin nicht erhielten. Ihre Zahl bezifferte der Berliner Senat im Frühjahr 1953 auf rund 100.000 Menschen, wobei die fortgesetzte Durchführung des Notaufnahmeverfahrens immer weitere Abgelehnte hervorbrachte. Nicht in die Länderverteilung einbezogen, wurden sie nicht ausgeflogen und verblieben, häufig auf Fürsorgeleistungen angewiesen, in der Stadt. Vor diesem Hintergrund nutzte die Stadt die Eröffnung des Notaufnahmelagers Marienfelde, um auf die insgesamt als dramatisch wahrgenommene Situation hinzuweisen. Theodor Heuss weihte die nach der Grundsteinlegung am 30. Juli 1952 rasch errichteten Gebäude ein, obgleich sie sich noch im Rohbau befanden, und er sprach vor einem großen Publikum, das viele eigens mit Bussen aus den zahlreichen Berliner Notunterkünften hierher gebrachte DDR-Flüchtlinge umfasste. „Es war (und ist) für Berlin eine grausam schwere Aufgabe […,] dieser Sturmflut, bei der es sich nicht um Naturgewalten, sondern um den Masseneinbruch individueller Schicksale handelt, Herr zu werden“, räumte auch der Bundespräsident ein.
Eine gewisse kurzzeitige Entspannung trat ein, nachdem sich die Krise in der DDR im Aufstand vom 17. Juni 1953 entladen hatte und die Fluchtzahlen etwas zurückgingen; doch blieb ihr Niveau auch in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre mit überwiegend mehr als 200.000 Antragstellern im Notaufnahmeverfahren pro Jahr hoch. Hinsichtlich der Abgelehnten wurde die Situation in Berlin dadurch entschärft, dass ein großer Teil der Betreffenden in Wiederaufnahmeaktionen ihrer Verfahren nachträglich doch noch anerkannt wurden. Zudem bewirkten Urteile des Bundesverwaltungs- und -verfassungsgerichts eine Veränderung der Notaufnahme-Praxis in Richtung mehrheitlicher Positivbescheide. Die günstige Entwicklung der Wirtschaft, die mit einiger Verzögerung auch Berlin erreichte, ermöglichte, dass Ostdeutsche ohne erwiesenen politischen Fluchtgrund gegebenenfalls am Verfahren vorbei über den Arbeitsmarkt integriert wurden.
Andere Bewohner
In und um Marienfelde wurde es ruhig: Die Einrichtung leerte sich und verlor ihre Funktion als Bühne im Ost-West-Konflikt. Besuche von Politikern und anderen Gästen aus dem In- und Ausland, die Aufmerksamkeit dorthin gezogen und Anlässe für Medienbeiträge geschaffen hatten, fanden kaum mehr statt. Während die Presse bis 1961 zeitweise täglich Fluchtzahlen gemeldet und das Notaufnahmelager als „Hort der letzten Hoffnung“ und „Endstation Sehnsucht“ bezeichnet hatte, ließ die Berichterstattung nun deutlich nach. Die Unterbringungs- und administrativen Kapazitäten, die durch das weitgehende Abreißen der Zuwanderung aus der DDR frei wurden, nutzten die Berliner Behörden dafür, ab 1964 auch Aussiedlerinnen und Aussiedler in der Stadt aufzunehmen: Menschen, die aus osteuropäischen Ländern und der Sowjetunion kamen und nach Artikel 116 des Grundgesetzes aufgrund ihrer sogenannten deutschen Volkszugehörigkeit einen Anspruch auf die bundesdeutsche Staatsangehörigkeit hatten. Ebenso wie bei den ostdeutschen Zuzüglern war auch im Fall der Aussiedler Marienfelde die zentrale Anlaufstelle. Hier erhielten die Ankömmlinge eine erste Unterkunft, wurden verpflegt und betreut, hier begann ihre sogenannte Eingliederung in die neue Gesellschaft. Dabei fungierte die West-Berliner Einrichtung sowohl als Erstaufnahmestelle des Bundes für neu in Deutschland eintreffende Aussiedler als auch als Landesaufnahmestelle für solche, die bereits im Bundesgebiet registriert worden waren und nach Berlin kamen, um hier ihren Wohnsitz zu nehmen.
232 Aussiedler wurden 1964 in Marienfelde aufgenommen. In den folgenden Jahren schwankte diese Zahl zwischen rund 300 und 700 Personen. 1976 wurde die 800er-Marke überschritten, und von 1977 bis 1980 waren es dann jeweils um die 1000 Menschen, die hier Aufnahme fanden – während die Zahl der insgesamt nach Deutschland zuziehenden Aussiedler in dieser Zeit jährlich bei über 50.000 lag. Die in Berlin eintreffenden „Deutschstämmigen“ kamen überwiegend aus Polen. Dass die Zahl der von dort einreisenden Aussiedler in den 1970er Jahren generell anstieg, ging auf den am 7. Dezember 1970 zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik Polen unterzeichneten Warschauer Vertrag zurück. „Im Jahre 1975 wurde das Ausreiseverfahren nach Verhandlungen zwischen dem Ersten Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei Edward Gierek und Bundeskanzler Helmut Schmidt ausgedehnt […].“ Die anvisierte Zahl von 125.000 Ausreisen pro Jahr wurde jedoch nicht erreicht, vielmehr übersiedelten von Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre jährlich im Durchschnitt knapp 40.000 Menschen aus Polen in die Bundesrepublik. Die Belegschaft der Marienfelder Einrichtung war damit vielfältiger geworden. Rund 300 Personen hielten sich derzeit im Notaufnahmelager auf, berichtete die Berliner Morgenpost Mitte Mai 1976: mehrheitlich Aussiedler aus Polen, daneben 20 aus Rumänien und der Sowjetunion sowie 13 Flüchtlinge, 23 ehemalige politische Häftlinge und eine Reihe Rentenbesucher aus der DDR. Ältere oder invalide Menschen, die nicht mehr im Arbeitsleben standen, waren die einzigen Bürger, die das SED-Regime „legal“ reisen ließ, was einige nutzten, um in der Bundesrepublik zu bleiben.
Eine veränderte Sicht auf das Lager
Mit Umfang und Zusammensetzung des Zuzugs hatte sich auch dessen Wahrnehmung gewandelt. Als übervölkerte Insel wie Anfang der 1950er Jahre, als sich auf einer begrenzten Fläche über zwei Millionen Einwohner und immer mehr Geflüchtete drängten, sah sich West-Berlin nun nicht mehr. Im Gegenteil beschloss der Senat Ende 1975 angesichts einer sinkenden Bevölkerungszahl und zunehmenden Überalterung, Aussiedler gezielt für eine Wohnsitznahme in der Teilstadt zu gewinnen: Mit einem hohen Anteil an Menschen im erwerbsfähigen Alter sowie vielen Kindern und Jugendlichen zeigte diese Zuwanderergruppe eine überaus günstige demografische Struktur. Zu Werbezwecken unternahmen Mitarbeiter der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Familie seit Anfang 1976 „Informationsfahrten“ in das „Grenzdurchgangslager Friedland“ sowie andere Aufnahmeeinrichtungen für Aussiedler. Sie sprachen mit Vertretern der örtlichen Arbeitsämter, der Stadtverwaltungen und mit Heimleitern über Möglichkeiten, „Neuberliner“ zu gewinnen. Darüber hinaus wurden für Aussiedler „Berlin-Sprechstunden“ angeboten. Allerdings erwiesen sich diese bis 1981 durchgeführten Unternehmungen als nicht sehr erfolgreich. Es sei davon auszugehen, konstatierte der Berliner Sozialsenator Ulf Fink 1985 dazu rückblickend, dass 90 Prozent der Ankömmlinge bereits „feste Wünsche hinsichtlich des Aufnahmelandes haben, die im Wesentlichen durch familiäre Bindungen geprägt sind“. So kamen beispielsweise 1979 von den 1140 nach Berlin zuziehenden Aussiedlerinnen und Aussiedlern 1084 direkt in die Stadt, während nur 56 den Weg über andere Lager nahmen.
Der West-Berliner Politik und Verwaltung stellten diese Zuwanderer neue Aufgaben hinsichtlich ihrer Integration: „Für umgesiedelte Kinder und Jugendliche, die im Durchgangsheim Marienfelde wohnen, gibt es seit September 1976 die Möglichkeit, in vier- bis achtwöchigen Intensivkursen die deutsche Sprache zu erlernen“, informierte eine Berliner Bezirkszeitung Anfang 1977. Doch nicht nur veränderte Betreuungs- und Unterrichtsangebote waren erforderlich; auch die Anlage und Ausstattung des Aufnahmelagers sowie die hier praktizierten Umgangsformen und Ordnungsregeln gerieten nun in die Kritik. „Das Gefühl, allein oder im Stich gelassen zu sein, beschleicht fast alle, die sich in den kahlen Räumen von Marienfelde […] zurechtfinden müssen“, beobachtete die Zeit bereits im August 1966. „Die Pforte ist eng und keineswegs einladend“, Fotografieren und das Betreten des Geländes seien verboten, lautete zwei Jahre später eine Beschreibung im Tagesspiegel. Während man dort allerdings „die alten Regeln“ noch für gerechtfertigt hielt, startete das Spandauer Volksblatt 1976 eine regelrechte Skandalisierungskampagne. „Es ist wie in einem Gefängnis“: Beklagt wurden die „drangvolle Enge“ der Unterbringung, die bürokratische Papierflut und die „Kasernierung“ der Bewohner ohne Telefon und Besuchserlaubnis für Freunde und Verwandte. Auch Journalisten sei der Zutritt zum Lager strengstens verwehrt. Die Episode zeigt, wie sich der Blick auf Marienfelde verändert hatte. Bis 1961 waren die Zustände im Lager größtenteils von dessen politischer Funktion als Hot Spot des Kalten Krieges überlagert worden. Mitte der 1970er Jahre überzeugte es Kritiker nicht mehr, wenn Senatsdienststellen mangelnde Offenheit mit dem Sicherheitsbedürfnis der Alliierten und Spionagegefahr begründeten. Der Maßstab, an dem Marienfelde gemessen wurde, war inzwischen ein anderer: Es ging um Lebensbedingungen im Lager und vor allem um die Weichenstellung für eine gelingende Integration.
Obwohl der Senat die Vorwürfe zunächst zurückwies, zeigten die Vorstöße der Presse schließlich Wirkung: Private Besuche im Lager wurden gestattet, die Wohnungen großzügiger belegt und eine Passstelle vor Ort eingerichtet. Zugleich öffnete Arbeitssenator Horst Korber die Tore des Lagers für Journalisten.
Wendepunkt 1989/90
Mit „hochzahligen Wartenummern aus orangefarbenen Automaten“ empfange das Notaufnahmelager in Marienfelde derzeit Deutsche aus der DDR, berichtete am 12. August 1989 der Tagesspiegel. Die Überlastung der Angestellten sei unverkennbar, zunehmend werde das Aufnahmeverfahren zu einer für beide Seiten unangenehmen Angelegenheit. Der Hintergrund waren deutlich gestiegene Zuzugszahlen: Seit Ungarn im Mai 1989 begonnen hatte, den Grenzzaun zu Österreich zu demontieren, nutzten immer mehr DDR-Bewohner diesen sich neu bietenden Weg in den Westen. Da bei fortdauernder Grenzbewachung der Übertritt jedoch nicht in jedem Fall glückte und den Festgenommenen Auslieferung drohte, suchten fluchtwillige Ostdeutsche alternativ die bundesdeutsche Botschaft in Budapest auf. Auch die Vertretungen in Ost-Berlin, Prag und Warschau dienten Ausreiseentschlossenen ab Juli, verstärkt im September 1989 als Anlaufpunkt. Das SED-Regime kämpfte in Verhandlungen mit der ungarischen und der Bundesregierung dagegen an, die eigenen ‚Staatsbürger‘ gehen lassen zu müssen, doch war es nicht länger möglich, Flucht und Abwanderung zu kontrollieren: Am 19. August gelangten während eines „Paneuropäischen Picknicks“ nahe Sopron rund 600 DDR-Bürger nach Österreich, in der Nacht zum 11. September öffnete Ungarn für Ostdeutsche offiziell die Grenze. Die Budapester Botschaftsbesetzer konnten am 24. August nach Österreich ausreisen, am 1. Oktober trafen Tausende Flüchtlinge aus Prag und Warschau in der Bundesrepublik ein. So sah man sich im Sommer und Herbst 1989 mit einer Zuwanderung lange nicht mehr gekannten Ausmaßes konfrontiert. Allein in West-Berlin wurden in den ersten zehn Monaten des Jahres rund 27.000 Zuwanderer aus der DDR und Ost-Berlin aufgenommen, während es beispielsweise 1984, als die DDR überraschend viele Menschen ausreisen ließ, insgesamt nur knapp 7000 gewesen waren. Hinzu kam, dass seit 1988 infolge des Aufbrechens der politischen Verhältnisse in den sozialistischen Staaten Osteuropas auch der Aussiedlerzuzug stark angestiegen war.
Überbelegung
Angesichts dieser Entwicklung gewann für den rot-grünen Berliner Senat die mit dem Aufnahmeverfahren verbundene Möglichkeit, die Ankömmlinge einem Bundesland zuzuweisen und sie (wie in den 1950er Jahren) mehrheitlich auszufliegen, neue, aktuelle Bedeutung. Die grundgesetzlich garantierte Freizügigkeit sei für Übersiedler seit 1950 durch das Gesetz über die Aufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet eingeschränkt, informierte die Sozialverwaltung Ende Juni 1989 – zu einem Zeitpunkt, als das Marienfelder Durchgangsheim bei einer Kapazität von 670 Plätzen mit über 1100 Menschen belegt war. Für Berlin entscheide die dort ansässige Bundesnotaufnahmestelle in der jetzigen Situation nur noch dann, wenn enge Verwandte oder Ehepartner der Betreffenden in der Stadt lebten oder sie hier bereits stabile Lebensverhältnisse aufgebaut hätten. Allerdings ließ sich diese Regulierungsfunktion des Aufnahmeverfahrens, die nach dem Mauerbau infolge der geringen Zuwanderungszahlen bedeutungslos geworden und nahezu in Vergessenheit geraten war, nicht ohne Weiteres reaktivieren. Journalisten warfen dem Senat vor, Berliner aus dem Ostteil auf diese Weise aus ihrer Geburtsstadt zu „verjagen“; die CDU-Opposition nutzte das Prozedere für politische Kritik.
Mauerfall verschärft die Situation
Das Ziel, den Anteil der in West-Berlin aufgenommenen DDR-Zuwanderer drastisch zu senken, erreichte man mit diesem lavierenden Kurs erst einmal nicht. Außerdem entwickelte sich die Abwanderung aus Ostdeutschland weiterhin überraschend dynamisch. Am 3. November 1989 stimmte das SED-Politbüro „einem ‚Vorschlag‘ des tschechoslowakischen Parteichefs Miklos Jakès zu“, zur Lösung des Flüchtlingsproblems die sich fortgesetzt in Prag einfindenden Ausreisewilligen unmittelbar, ohne Umweg über die DDR, übersiedeln zu lassen. Infolge dieser Regelung, die de facto ein weiteres Loch im Eisernen Vorhang bedeutete, reisten allein am Wochenende des 4. und 5. November „insgesamt 23.200 DDR-Bürger über die CSSR in die Bundesrepublik aus“. Am 9. November fiel die Mauer in Berlin. Anders als auf westlicher Seite erwartet und erhofft, bewirkte die neue Freizügigkeit in Verbindung mit den politischen Veränderungen in der DDR jedoch nicht, dass die Übersiedlungsbewegung zurückging. Vielmehr trafen in West-Berlin in den ersten zehn Tagen nach der Maueröffnung rund 11.700 Ostdeutsche ein, die einen Aufnahmeantrag stellten, und auch im Folgenden blieben die Zahlen hoch. Die logistische Bewältigung der Zuwanderung wurde zu einem großen Problem, angefangen bei der Unterbringung der Ankömmlinge: „In Marienfelde standen Notbetten im ehemaligen Speisesaal und in Sitzungsräumen […]. 240 Übergangseinrichtungen gab es darüber hinaus in West-Berlin.“ Am 10. November wurde ein Fabrikgebäude in Berlin-Mariendorf angemietet, um die Raumkapazitäten für die Abwicklung der Aufnahme zu vergrößern. Gegen Ende des Jahres reichten auch die ergänzend in Turnhallen und Wohncontainern geschaffenen Notquartiere nicht mehr aus. Zudem fürchtete der Senat, die Menschen angesichts des zugespitzten Wohnraummangels auch mittelfristig nicht angemessen unterbringen zu können; nicht zuletzt drohte das soziale Netz durch die Neubürger zu Lasten anderer unterstützungsbedürftiger Gruppen wie Wohnungs- und Arbeitsloser überstrapaziert zu werden.
„Wie an keinem anderen Ort hat in Berlin die Zuwanderer-Welle ein explosives soziales Klima geschaffen“, diagnostizierte der Spiegel Mitte November 1989. Ende des Monats beschloss der Senat, entschiedener eine rigorose Aufnahmepolitik durchzusetzen. Ingrid Stahmer drang bei Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble darauf, Zuweisungen für Berlin und dessen Aufnahmeverpflichtung auf Fälle engster Verwandtschaftsverhältnisse zu beschränken. Zudem teilte die Sozialsenatorin mit, dass man von den bisher eingeräumten Ausnahmen insbesondere für Ost-Berliner nun absehen müsse. Diese Anfang Dezember greifende verschärfte Aufnahmeregelung brachte immerhin insofern Entlastung, als der Bund seitdem für zwei Drittel der neu nach West-Berlin Gekommenen ein anderes Bundesland bestimmte. Trotz dieses Effektes rang sich der Senat Anfang März 1990 dazu durch, die Verteilfunktion als nicht mehr ausschlaggebend, vielmehr das Verfahren als grundsätzlich entbehrlich zu betrachten. West-Berlin trat einer entsprechenden, vom Saarland betriebenen und in den Bundesrat eingebrachten Initiative zur Aufhebung des Aufnahmegesetzes bei. In ihrer Begründung dieser Entscheidung bediente sich Sozialsenatorin Stahmer einer mittlerweile verbreiteten Argumentation: Das Aufnahmeverfahren entbehre infolge der Entwicklungen seit Herbst 1989 jeder politischen Legitimation; in der DDR bestehe kein Fluchtdruck mehr. Wie im SPD-regierten Nordrhein-Westfalen, aber auch in Niedersachsen unter CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht sah man es in West-Berlin als nicht mehr leistbar, die mit der Aufnahme verbundene Pflicht zur Unterbringung der Übersiedler, ihrer Versorgung und Betreuung zu erfüllen. Überdies wurden die so geleisteten Hilfen für die Neubürger als Anreiz für weitere, mittlerweile höchst unerwünschte Übersiedlungen angesehen – nicht nur von Politikern, sondern auch in der Bevölkerung, wo sich nach einer Phase enthusiastischer Aufnahmebereitschaft im Herbst 1989 bis Frühjahr 1990 weitreichende Ablehnung durchgesetzt hatte.
Funktionslos?
Nachdem sich Ende März 1990 nach langem Widerstand insbesondere Bundesinnenminister Schäubles auch die Bundesregierung zur Aufgabe des Aufnahmeverfahrens entschlossen hatte, wurde ein Gesetz zur Aufhebung auf den Weg gebracht. Es trat am 1. Juli 1990, dem Tag der deutsch-deutschen Wirtschafts- und Währungsunion, in Kraft. Damit verlor das Durchgangslager Marienfelde nach über 37 Jahren seine Funktion, Ostdeutsche aufzunehmen – denn „Flüchtlinge“ und „Übersiedler“ aus der DDR gab es nun nicht mehr, aus den Herüberwechselnden waren Binnenwanderer geworden. Auch diese Zäsur bedeutete jedoch nicht das Ende der Einrichtung: Marienfelde fungierte weiterhin als Anlaufpunkt für Aussiedler, bis deren Zuzugszahlen 2010 so stark zurückgegangen waren, dass die Aufnahmestelle geschlossen wurde. Doch bereits nach wenigen Monaten reaktivierte das Land Berlin das Gelände: Seit Dezember 2010 nutzt der Internationale Bund die Gebäude im Auftrag des Landesamtes für Gesundheit und Soziales als Übergangswohnheim für Geflüchtete aus verschiedensten Herkunftsländern. Ein zentraler Ort der Migration in Berlin ist das ehemalige Notaufnahmelager Marienfelde so bis heute.
Zitierweise: Bettina Effner, Schauplatz bundesdeutscher und Berliner Migrationsgeschichte: Das Notaufnahmelager Marienfelde, in: Deutschland Archiv, 31.8.2017, Link: www.bpb.de/255163