Als Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 vom Deutschen Bundestag in einem konstruktiven Misstrauensvotum zum Bundeskanzler gewählt wurde, wirkte sich dies auch auf die Deutschlandpolitik aus, allerdings in einem geringeren Ausmaß als erwartet. So dachte der neue Bundeskanzler keineswegs daran, das Rad zurückzudrehen und auf eine rein konfrontative Linie gegenüber der DDR einzuschwenken. Er bestand allerdings deutlicher als seine beiden sozialdemokratischen Amtsvorgänger auf bestimmten deutschlandpolitischen Prinzipien. So betonte er bereits in seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 die weiterhin bestehende Einheit der deutschen Nation, erinnerte an den Auftrag des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ und bestand darauf, dass „Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl […] nicht das letzte Wort zwischen Ost und West sein“ dürften.
In dieser Spannung zwischen normativer Abgrenzung und pragmatischer Kooperation bewegte sich die Deutschlandpolitik Helmut Kohls in den 1980er Jahren. Dabei wurden die Beziehungen zur DDR trotz der zwischen den beiden Supermächten herrschenden Eiszeit infolge der Stationierung von Mittelstreckenwaffen in der Bundesrepublik und anderen westeuropäischen Staaten ab dem Herbst 1983 nicht nur aufrechterhalten, sondern weiter ausgebaut. Sowohl Bonn als auch Ost-Berlin waren darauf bedacht, dass sich die Ost-West-Spannungen nicht auf das deutsch-deutsche Verhältnis niederschlugen: die SED-Führung aus wirtschaftlichem Interesse und die Regierung Kohl-Genscher aufgrund des Verantwortungsgefühls für die Deutschen in der DDR. Dabei war die Bundesregierung durchaus bereit, ostdeutschen Forderungen entgegenzukommen, wie aus einer gemeinsamen Erklärung Kohls und Honeckers vom 12. März 1985 hervorgeht:
„Die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und Souveränität der Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen sind eine grundlegende Bedingung für den Frieden, wurde erklärt. Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg, von deutschem Boden muß Frieden ausgehen.“
Die deutsch-deutschen Beziehungen lebten in den 1980er Jahren auf: Der innerdeutsche Handel stieg bis 1985 spürbar an, eine Reihe wichtiger Abkommen auf staatlicher Ebene wurde geschlossen, insbesondere ein Kulturabkommen am 6. Mai 1986 und ein Umweltschutzabkommen am 8. September 1987. Der deutsch-deutsche Reiseverkehr erhöhte sich gewaltig, sowohl in östlicher als auch in westlicher Richtung, und schließlich wurden zwischen November 1986 und November 1989 58 Städtepartnerschaften vereinbart oder zugesagt. Höhe- und Wendepunkt dieser Beziehungen bildete der mehrfach auf sowjetische Anordnung verschobene Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik vom 7. bis zum 11. September 1987. Helmut Kohl, der stets ein waches Gespür für die Bedeutung symbolischer Politik hatte, lehnte ursprünglich den Empfang Honeckers mit protokollarischen Ehren ab, stimmte im Zuge der Vorbereitung schließlich aber einer Begrüßung mit Hymnen und Flaggen zu. Obwohl die Visite vom Bonner Protokoll als Arbeitsbesuch eingestuft wurde, unterschied sie sich nur in Nuancen von einem Staatsbesuch. Damit wurde Honecker – und damit der DDR – nach außen hin jene Anerkennung zuteil, nach der diese schon immer gestrebt hatte. Andererseits ließ Kohl es sich nicht nehmen, bei dem von ihm ausgerichteten Abendessen am 7. September seine Auffassungen zur deutschen Frage deutlich zum Ausdruck zu bringen. Er führte das wache „Bewußtsein für die Einheit der Nation“ an und betonte die weiterhin bestehenden unterschiedlichen Auffassungen „zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage“. Deutlich bekannte er sich ebenfalls zur Überwindung der Teilung:
„Die deutsche Frage bleibt offen, doch ihre Lösung steht zur Zeit nicht auf der Tagesordnung der Weltpolitik, und wir werden dazu auch das Einverständnis unserer Nachbarn brauchen.“
Als im Spätsommer 1989 die Verhältnisse in der DDR in Bewegung gerieten, beschränkte sich die Regierung Kohl zunächst auf eine kritische Beobachtung der beginnenden Unruhen. Mit der ausgehandelten Lösung für die Prager Botschaftsflüchtlinge Anfang Oktober trug sie zwar ungewollt zur Eskalation der Ereignisse in Sachsen sei. Letztlich ging es ihr jedoch primär um den Erhalt des Status quo; ihr damaliges Ziel bestand darin, eine explosive Lage zu verhindern und kein militärisches Eingreifen der Sowjetunion zu provozieren. Von diesem zurückhaltenden Kurs rückte Kohl erst mit der Regierungserklärung vom 8. November ab. Kurz vorher hatte Alexander Schalck-Golodkowski der Bundesregierung verdeutlicht, die DDR stehe vor dem Bankrott und benötige dringend eine Liquiditätshilfe von mehreren Milliarden D-Mark. Der Kanzler machte nun vor dem Bundestag ein erweitertes Hilfsangebot von einer „grundlegende[n] Reform der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR“ abhängig und nannte ausdrücklich Meinungs- und Pressefreiheit, Parteienpluralismus und freie Wahlen. Die Teilung Deutschlands bezeichnete er zwar als widernatürlich, warnte aber zugleich „vor der Annahme, eine Lösung der deutschen Frage mit einem Drehbuch und einem Terminkalender in der Hand vorherbestimmen zu können“.
Mit dem Mauerfall vom 9. November wurde das Tor zur deutschen Einheit aufgestoßen. Denn die für die Aufrechterhaltung der Teilung notwendigen Bedingungen waren auf einmal nicht mehr gegeben: die Mauer und die sowjetische Interventionsbereitschaft. Dass die sowjetischen Truppen nicht in Marsch gesetzt würden, entnahm Kohl am 11. November einem Telefonat mit Gorbatschow.
In dieser sich klärenden, aber keineswegs eindeutigen Situation entschloss sich Kohl zum Handeln. Am 28. November verkündete er vor dem Bundestag das „Zehn-Punkte-Programm“. Geschickt griff er darin den Gedanken Modrows auf, ging aber in einem entscheidenden Punkt darüber hinaus. Denn „ein immer dichteres Netz von Vereinbarungen in allen Bereichen und auf allen Ebenen“ waren für ihn die Voraussetzung dafür,
„konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung, in Deutschland zu schaffen“.
Keinen Zweifel ließ er daran, dass dies ohne eine grundlegende Demokratisierung der Verhältnisse in der DDR nicht zu verwirklichen sein werde. Er bekannte sich zur Wiedervereinigung, fügte aber relativierend hinzu:
„Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.“
Damit hatte der Kanzler sich aus der Deckung gewagt, ohne sich vorher innen- und außenpolitisch abzusichern: Weder der Koalitionspartner noch die westlichen Bündnispartner waren konsultiert worden. Auch der engste Partner, Washington, war am Morgen des 28. November lediglich informiert worden.
Das Zehn-Punkte-Programm markiert den Übergang zur operativen Wiedervereinigungspolitik Kohls im Herbst 1989. Dieser Schritt war, wie sich unmittelbar darauf zeigen sollte, nicht ohne Risiko: Denn nicht nur die Sowjetunion, sondern auch Großbritannien und Frankreich stellten sich Kohl zunächst entgegen. Unterstützung erhielt er lediglich vom US-Präsidenten George Bush, der auch verhinderte, dass es zu einer konzertierten Aktion der vier Mächte gegen die Bundesrepublik kam. Doch der Rückhalt durch Washington war nur die eine Seite der Medaille; auf der anderen Seite standen die demonstrierenden Massen in der DDR, wo diejenigen, die die deutsche Einheit auf möglichst raschem Wege forderten, nun die Mehrheit erhielten. Dass diese in Kohl ihren natürlichen Verbündeten sahen, wurde bei dessen Auftritt in Dresden am 19. Dezember deutlich, als zehntausende Menschen aus Sachsen dem Kanzler einen begeisterten Empfang bereiteten. Hatte Kohl bei der Verkündung des Zehn-Punkte-Programms noch mit einem mehrjährigen Prozess gerechnet, wurde ihm nun klar, dass die Stimmung ein sehr viel schnelleres Handeln ermöglichte und erforderte. Er setzte daher nicht mehr auf Verhandlungen mit der amtierenden DDR-Regierung, sondern auf eine neue, aus freien Wahlen hervorgehende Regierung in Ost-Berlin.
Dass die Wiedervereinigung nun gelang, war auf ein ganzes Ursachenbündel zurückzuführen: auf die Überwindung des britischen und französischen Widerstands, auf den Ausgang der Wahlen in der DDR, auf die Schwäche der Sowjetunion, auf die Verbindung des deutschen und des europäischen Einigungsprozesses durch Kohl, auf die geschickte Verhandlungsführung bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und nicht zuletzt auf die westdeutsche Wirtschaftsmacht. Es war auch keineswegs so, dass nun das Zehn-Punkte-Programm Schritt für Schritt umgesetzt wurde. Mit seiner Verkündung signalisierte Kohl jedoch, dass die Bundesregierung die deutsche Einheit anstrebte und zu den eigenen Bedingungen verwirklichen wollte. Seine Glaubwürdigkeit hing vor allem damit zusammen, dass er trotz der pragmatischen Kooperation mit der DDR in den Jahren zuvor dieses Ziel nie aufgegeben hatte.
Zitierweise: Hermann Wentker, Helmut Kohl als Deutschlandpolitiker: Vom Regierungswechsel zum Zehn-Punkte-Programm, in: Deutschland Archiv, 28.11.2017, Link: www.bpb.de/254773